18. Dezember 2020

Arthur Quiller-Couch, "Das Veilchen der Zarin" (1913)



Prince! your armies, horse and foot,
Cannot kill a violet.
Call your engineers to root it,
Your artillery to shoot it;
See, the flower defies you yet.
Drum, drum, fife and drum -
Pass and let the children come!




Einst, vor vielen Jahren, wünschte sich der deutsche Kaiser, in Frieden mit dem Zaren von Rußland zu leben. Zwar herrschte in seinem Reich schon lange Frieden, aber es verlangte ihn, ihn noch zu befestigen, denn er war alt, und alte Männer sehnen sich nach einem gesicherten Frieden ringsum. Es macht es ihnen so viel leichter, ihre Angelegenheiten zu ordnen, und wenn sie die Augen schließen, heißt es im Volk: "Er hat gewußt, wie nutzlos Streit und Zank ist!"

Leider aber war er vom Alter schon so geschwächt, daß er die Strapazen einer Reise nach Sankt Petersburg nicht auf nicht nehmen konnte. Deshalb schrieb er einen Entschuldigungsbrief und übergab ihn seinem Kanzler - der niemand anderes war als der berühmte Fürst Bismarck.

Fürst Bismarck traf erst spät in der Nacht in Sankt Petersburg ein. Aber der Hofmarschall war noch auf und lud ihm zu einem Abendmahl ein, und wies ihm ein prächtiges Schlafzimmer zu, in dem ein Kaminfeuer loderte, denn Rußland ist ein kaltes Land.

Am nächsten Morgen erwachte er bei hellem Sonnenschein, und da er ein Frühaufsteher war (er schrieb dieser Angewohnheit seinen Erfolg im Leben zu), verlor er keine Zeit, kleidete sich an und machte sich zu einem Morgenspaziergang im Park auf.

Aber obwohl Fürst Bismarck so früh aufgestanden war, waren die Wachen des Zaren noch eher auf. An jeder Ecke der großen Palastes standen sie, an jeder Stelle, an dem sich die Wege gabelten, und entlang jeder akkurat gestutzten Allee. Jeder Soldat präsentierte das Gewehr, als er vorbeikam, mit abgezirkelten, steifen Bewegungen. Das begann Fürst Bismarck zu stören, denn die Vögel sangen mit aller Macht, der Tau blitzte im Gras, und zudem wünschte er, allein zu sein und nachdenken zu können, denn der Zar würde ihn sicherlich nach dem Frühstück empfangen, und es gab noch ein paar strittige Punkte, die es zu klären galt, bevor der Vertrag unterzeichnet werden konnte.

­

"Diese Wachen sind lästig," sagte Fürst Bismarck zu sich selbst. "Und außerdem paßt die Farbe ihrer Uniformen überhaupt nicht zu den Petunien. In diesem Land gibt es mehr Reichtum als Geschmack."

Er setzte seinen Spaziergang fort, und schließlich schien es ihm, daß er sie hinter sich gelassen hatte, denn er gelangte zu einem von Kiefern gesäumten Weg, auf dem keine Wachen zu sehen waren, und an deren Ende sich ein Rasenstück öffnete, wie er an es Gepflegtheit und Schönheit noch niemals gesehen hatte.

"So ist's schon besser," hob er an - und fuhr mit einem "Bitte nicht!" fort, als sein Blick auf einen weiteren Soldaten fiel, der beinahe - aber nicht ganz genau - steif in der Mitte des Rasens Wache hielt.



Er wollte schon ungeduldig weitergehen, als es ihm seltsam vorkam, daß ein Soldat ausgerechnet an dieser Stelle Wache halten sollte. Er wollte allein sein und überlegen, wie er das Gespräch mit dem Zaren beginnen sollte, aber sein Lebtag lang hatte es ihm keine Ruhe gelassen, wenn er etwas nicht verstehen konnte - auch das gehörte zu den Geheimnissen seines Erfolges. So trat er also auf den Soldaten zu, der sein Gewehr akkurat wie von einem Uhrwerk angetrieben präsentierte.

"Entschuldigt, guter Mann," sagte Fürst Bismarck. "Was bewacht Ihr hier?"

"Woher soll ich das wissen?" sagte der Soldat, der ein Finne war, und dem die Hofetikette noch fremd war.

"Das ist doch seltsam," sagte Bismarck. "Wenn Sie am Wegrand postiert wären - oder in der genauen Mitte des Rasenstücks ... obwohl mir nicht ganz klar ist, welchen Zweck das erfüllen würde - "

"Ich stehe da, wo man mir zu stehen befiehlt," antwortete der Soldat, den es ärgerte, von einem Fremden in Zivil kritisiert zu werden.

"Und wer hat Ihnen das befohlen?"

"Nun, der Feldwebel natürlich."

Das war alles, was Bismarck in Erfahrung bringen konnte. Er ging weiter. Aber als er zum Palast zurückkehrte, stand der Soldat immer noch an seinem Platz, und bewachte gar nichts.

Nach dem Frühstück empfing ihn der Zar, der ein langes Gespräch mit ihm führte und sich nach einiger Zeit zu wundern begann, wie ein solch zertreuter und geistesabwesender Mann sich in Europa einen solch hervorragenden Ruf hatte erwerben können.

"Ich fürchte," sagte der Zar schließlich und mit betonter Höflichkeit, "ich habe mich nicht klar genug ausgedrückt. Wenn es um die Frage geht, wo ich meine Truppen in Polen stationiere..."

"Mitten auf dem Rasen!" unterbrach ihn Fürst Bismarck.

Der Zar sah ihn erstaunt an.

"Ich - oh, ich bitte Eure Kaiserliche Majestät vielmals um Vergebung!" rief Fürst Bismarck, der wieder zu sich kam und zusammenfuhr. "Es ist nur so, daß mir heute morgen etwas passiert ist, das mir so rätselhaft erschien, daß ich die ganze Zeit über an nichts anderes mehr denken kann."

"Ja?" fragte der Zar. "Darf ich fragen, worum es sich handelt? - Uns liegt sehr daran, daß unsere Gäste sich hier wohl fühlen."

Bismarck erzählte es ihm.

Der Zar zog die Augenbrauen hoch, denn er dachte nach. "Hinter der Kiefernallee, sagen Sie? Das muß bei der alten Bogenschießbahn sein ... Ja sicher! Jetzt fällt es mir wieder ein! Da steht tatsächlich jemand auf Wache. Ich bin unzählige Male an ihm vorbeigekommen, aber ich habe mich niemals gefragt, was er da macht. Gehen wir doch hin und fragen ihn!" schlug der Zar vor. "Der Vertrag kann noch bis heute nachmittag warten."

Sie gingen zusammen zu der Schießbahn. Die Wache war abgelöst worden; aber an der gleichen Stelle stand jetzt ein anderer Soldat; er grüßte genau so, wie all die anderen salutiert hatten.

"Warum steht ihr hier?" verlangte der Zar zu wissen.

Der Soldat zitterte und zagte, aber er gab zu, daß er es nicht wußte. Man schickte nach dem Feldwebel, aber er wußte es sowenig wie der Soldat. Er ging los und holte seinen Hauptmann herbei, der nur erklären konnte, daß jeder Wachsoldat gemäß den Befehlen des Obersten postiert wurde. Also schickte man nach dem Oberst der Palastwache.

Der Oberst erklärte, daß er sich bei der Wachaufstellung penibel an die Vorgaben hielt, die sein Vorläufer erlassen hatte (ein ausgezeichneter Feldherr, der längst verstorben war) und die das Kriegsministerium am gleichen Tag noch gebilligt hatte, nach Beratung mit dem Innenministerium.

"Und Ihr habt in all der Zeit nicht ein einziges Mal etwas daran geändert?" fragte der Zar.

"Halten zu Gnaden, nicht einmal in all diesen zwölf Jahren," antwortete der Oberst der Wache mit sichtbarem Stolz. Er betonte die Länge seiner Dienstzeit, weil sein Name nicht auf den Beförderungslisten auftauchte und er den Verdacht hegte, daß seiner Verdienste übersehen wurden. "Nicht ein einziges Mal, und nicht um einen einzigen Zoll!" sagte der Oberst der Palastwache.

"Wir werden uns nach dem Mittagsmahl weiter damit befassen," sagte der Zar eilig - denn er wollte nicht, daß Fürst Bismarck den Eindruck bekäme, seine Armee könne in irgendeiner Hinsicht unfähig sein. "Bis dahin sende man eine Eingabe an den Kriegsminister. Ich möchte darüber informiert werden, warum der Mann hier auf dem Rasen postiert ist."

Im Kriegsministerium ging es zu wie in einem Taubenschlag, als diese Ordre eintraf! Der Kriegsminister beriet sich persönlich zwei Stunden lang mit sämtlichen altgedienten Feldmarschällen, die er zusammentrommeln konnte; die Kanzlisten und Sekretäre des Amts stolperten übereinander, während sie alle Regale und Archive durchforsteten, alle Aktenordner durchwühlten, Stöße von Formularen durchgingen. Der aufgewirbelte Staub lag benehmend in der Luft, sie mußten in einem fort niesen.

Der älteste Oberfeldmarschall des Reiches war bettlägerig, und zudem sehr taub. Der Minister mußte sich selbst in einer Kutsche zu ihm bemühen.

Der Oberfeldmarschall verstand ihn nicht und sagte: "Ja, ja. Der Kaiser wünscht zu erfahren, wie ich die Türken damals geschlagen habe, vor fünfundfünfzig Jahren. Das freut mich, denn kein Geschichtsbuch berichtet das so, wie es wirklich war."

Nun war es durchaus nicht klar, ob er die Türken wirklich geschlagen hatte. Besonders die türkischen Berichte waren sich eing, daß das Gegenteil zutraf und er die Schlacht verloren hatte. Aber er fing an, dem Minister zu berichten, wie er gewonnen hatte, von Anfang an, und deutete die Aufstellung der beiden Armeen auf der Bettdecke an.

"Aber," widersprach der Minister und unterstrich seine Rede mit seinen Händen, wobei er sich des Taubstummenalphabets bediente, "der Kaiser interessiert sich nicht für die Türken. Er möchte wissen, warum ein Soldat auf der alten Bogenschußbahn postiert ist, genau siebenunddreißig Schritt südsüdwestlich von der Stelle, wo einst die südlichste Zielscheibe stand." Denn das war die Position, die auf dem Plan des Obersts des Palastwache eingezeichnet war.

"Oh!" sagte der Oberfeldmarschall und verhehlte seine Enttäuschung nicht. "Nun ja, mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das, war es einmal war, aber ich bin mir sicher, daß er dort zur Strafe für ein Dienstvergehen aufgestellt worden ist."

"Aber er steht dort schon seit vielen, vielen Jahren!" gestikulierte der Minister.

"Das kann ich mir gut vorstellen," sagte der Oberfeldmarschall. "Zu meiner Zeit war Disziplin noch Disziplin."

"Und zudem ist es nicht immer der gleiche Soldat! Die Wache wird alle vier Stunden abgelöst."

"Soso," sagte der Oberfeldmarschall. "Das fügt natürlich unseren Berechnungen einen weiteren Faktor hinzu. Vier geht in vierundzwanzig achtmal ... nein, sechsmal hinein ... sechsmal dreihundertfünfundsechzig, die Schaltjahre nicht eingerechnet..."

Der Minister überließ ihn seinen Berechnungen und fuhr in tiefer Niedergeschlagenheit ins Ministerium zurück. Am Abend oblag es ihm, im Palast vorstellig zu werden und mit Tränen in den Augen einzugestehen, daß alle seine Nachforschungen vergebens gewesen waren. Niemand in der Armee wußte, warum der Soldat auf dem Rasen Wache hielt, und es fand sich nichts dazu in den Akten.

Währenddessen hatte eine Abordnung von Pionieren den ganzen Nachmittag über das Rasenstück Zoll für Zoll untersucht, und nichts gefunden, was ein Anhaltspunkt zur Lösung des Rätsels gewesen wäre.

Mittlerweile war der Zar von diesem Mysterium so gefesselt, daß er den Vertrag völlig vergessen hatte; das galt auch für Fürst Bismarck. Am nächsten Tag war es das Gleiche. Der Hofmarschall hatte alle Dienstboten und Mitglieder des Hausstands zu sich kommen lassen und sie befragt, ohne Erfolg. Wenn sich die Dienerschaft auf den Fluren begegnete, blieben sie stehen und fragten einander: "Aber warum steht der Soldat denn nun auf dem Rasenstück?"

Am dritten Tag schickte der Zar Boten mit einer Proklamation aus. Er bot eine Belohnung von tausend Rubeln und Straffreiheit für jeden, der die wahre Lösung des Rätsels präsentieren könne.

In einer kleinen Kammer auf dem Dachboden des Palastes wohnte eine alte Frau, die am Spinnrad Leinen für die kaiserlichen Tischtücher spann. Jedermann hatte sie vergessen - außer dem kleinen Dienstmädchen, zu dessen Aufgaben es gehörte, ihr ihre Mahlzeiten zu bringen. Sie hatte schon so viele Jahre zusammengekauert über ihrem Spinnrad verbracht, daß ihr Leib krumm und schief geworden war, aber in ihren jungen Jahren war sie die Amme einer früheren Zarin gewesen - der Großmutter der jetzigen Zaren, um genau zu sein.

"Du liebe Güte!" sagte die alte Amme. "Da unten in der Stadt blasen die Herolde auf ihren Trompeten. Seine Kaiserliche Majestät muß etwas im Reich verkündet haben. Ich hoffe, daß er niemandem den Krieg erklärt hat!"

"Sagt nur, daß Ihr davon nichts gehört habt?" sagte das kleine Dienstmächen. "Es geht um den Soldaten."

"Welchen Soldaten?"

"Den Soldaten auf dem Rasen."

"Welcher Rasen?"

"Na der, wo früher das Bogenschießen stattgefunden hat. In der Mitte steht ein Soldat und hält Wache, und alle Welt will wissen, was er da bewacht."

"Aber das weiß doch jeder!" sagte die alte Amme. "Das kann doch gar nicht sein, daß die Leute heutzutage so vergeßlich geworden sind."

"Nein, niemand weiß es," rief das kleine Dienstmädchen und sah sie groß an, "und der Zar hat tausend Rubel für jeden ausgesetzt, der es ihm erzählen kann!"

"Mein liebes Kind," sagte die Amme und lächelte, "so viel Geld - oder ein Teil davon - wäre doch eine schöne Mitgift für dich. Du bist ein braves Kind. Gib mir deine Hand und führ mich nach unten, zu seiner Kaiserlichen Majestät."



Also führte das kleine Dienstmädchen sie die Treppe hinunter, und als sie vor den Zaren traten, vollführte die alte Amme einen Knicks und sagte:

"Mit Verlaub, Eure Kaiserliche Majestät, ich kann euch alles über den Soldaten auf dem Rasen erklären. Vor vielen, vielen jahren, als die Zarin, die Großmutter Eurer Kaiserlichen Majestät, eine junge Braut war, hielt sie einen großen Wettbewerb im Bogenschießen ab, denn die Hofdamen waren zu jener Zeit für ihre Fertigkeit in dieser Kunst berühmt, und sie zählte zu den Besten unter ihnen. Und sie hatte so schon Arme und Hände! Es gibt nicht, was einen schönen Arm und schöne Hände besser zur Geltung kommen läßt als das Bogenschießen.



"Nun, die Damen waren dort also an einem schönen Frühlingstag versammelt, und als sie ihre erste Runde von Pfeilen auf die Zielscheiben verschossen hatten, eilten sie alle hinüber, und ihre Treffer zu zählen und ihre Pfeile einzusammeln. Aber die Zarin hielt plötzlich an, und rief die anderen zu sich. Dann kniete sie sich hin, und die anderen versammelten sie um sie, denn sie hatte dort, fast genau in der Mitte des Rasens, das erste Veilchen des neuen Frühjahrs entdeckt.

"Der Zar, euer Kaiserlichen Majestät Großvater, kam hinzu, während sie dort im Kreis knieten und die Blümchen bewunderten. Viele sagten, es sei ein gutes Vorzeichen, denn die Zarin war in guter Hoffnung auf ein Kind - das nach dem Verlauf der Zeit auch zur Welt kam und später Euer Kaiserlicher Majestät Vater wurde. Der Zar, der seine junge Frau anbetete, schickte sofort nach einem Wachsoldaten aus und postierte ihn neben das Veilchen, damit die Damen es nicht zertreten würden, wenn sie zu den Zielscheiben liefen. Es war nicht sehr angenehm für den armen Mann, der da fast in der Schußlinie stand, und als die Zarin sah, wie er ein paarmal zusammenzuckte, als ihm die Pfeile zu nah um die Ohren flogen, brach sie das Wettschießen ab, denn sie hatte ein weiches Herz und Mitgefühl selbst für die Geringsten. Aber der Wachsoldat blieb dort, um das gewöhnliche Volk fernzuhalten. Und da ist er wohl bis heute ohne Zweifel geblieben."

"Aber was ist mit dem Veilchen?" fragte der Zar.

Man brach auf und machte sich auf die Suche danach. Es fand sich keine Spur davon. Die Blume war längst verschwunden.

- Aber nicht für immer. Die Wache wurde abgezogen, und die Tatsache, daß sie dort gestanden hatte, und der genaue Fleck, auf dem sie gestanden hatte, geriet ihrerseits fast in Vergessenheit. Aber eines Tages kam die fünfjährige Tochter des Gärtners im sechsundzwanzigsten Rang (er hatte den vierundvierzigsten Rang bekleidet, als er das kleine Dienstmädchen geheiratet hatte; woraus sich ergibt, daß er geschwinde auf dem Wege nach oben war) zu ihrer Mutter gelaufen und brachte ihr eine Blume, die sie beim Spielen auf den ehemaligen Bogenschußbahn gefunden hatte.

"Schau mal, Mama! Das erste Veilchen in diesem Jahr!"

So war das Veilchen also wieder zurückgekehrt, weil die schweren Stiefel der Wachen es nicht länger zertrampelten. Aber dieser Teil der Geschichte wurde nie im Palast bekannt. Dort freilich verwendet man eine Redewendung, wenn man sich über die Bürokratie beklagt: "Aber wie bekommen wir jetzt den Soldaten vom Rasen herunter?" Aber kaum jemand weiß noch, wie dieser Satz entstanden ist.

Moral:

Infantrie und Reiterei
Schlägt ein Veilchen nicht entzwei.
Rupft es aus mit Pionieren
Oder laßt es füsilieren;
Euch besiegt die Blume doch.
Pfeifenschrillen, Trommelrollen:
Zieht vorbei; laßt Kinder tollen!



* * *

Arthur Quiller-Couch (1893-1944), der seine erzählerischen Werke zumiest unter dem schlichten Kürzel "Q" veröffentlichte, zählt heute ebenfalls zu den fast völlig vergessenen Erzählern der englischen Literatur um die verflossene Jahrhundertwende. Seine Abenteueromane, deren Strickart das Vorbild Robert Louis Stevensons durchscheinen lassen, dürften ungelesen auf den Friedhöfen der Unterhaltungsliteratur Staub ansetzen. Höchstens einige seiner Spukgeschichten sind Archivisten des Genres noch ein B egriff, etwa "The Seventh Man" (1900), das von den sechs Mitgliedern einer im ewigen Eis überwinternden Polexpedition berichtet, die sich bewußt werden, daß sie zu siebt in ihrem beengten Winterquartier gefangen sind. (Die Erzählung nimmt jene Passage vorweg, auf die T. S. Eliot in seinem Großgedicht "The Waste Land" von 1922 anspielt:

“Who is the third who walks always beside you?
When I count, there are only you and I together
But when I look ahead up the white road
There is always another one walking beside you
Gliding wrapt in a brown mantle, hooded
I do not know whether a man or a woman
-But who is that on the other side of you?”

Eliot nimmt in seinen erläuternden Fußnoten ausdrücklich Bezug auf die "Endurance"-Polarexpedition unter Ernest Shackleton, die von 1914 bis 1917 im Packeis der Ross-Schelfeises in der Antarktis festsaß. Nachdem es Shackleton mit zwei Gefährten im Mai 1916 gelungen war, mit einem Ruderboot nach Südgeorgien zu segeln, mußten sie den zentralen, 1,5 km hohen Bergrücken der Insel überqueren, weil sich die Walfangstationen, auf denen die Mannschaften der Walfangschiffe, die dort überwinterten, auf der Nordküste der Insel befanden. Shackletons Bericht von dieser Rettungsaktion - er verlor nicht einen einzigen Mann aus seiner Mannschaft - zählt zu den atemverschlagenden Schilderungen aus der "Pionierzeit der Polarerkundung." Während der 36 Stunden dauernden Kletterei bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt, ohne jede Pause, hatte Shackleton oft das Gefühl, daß sie nicht zu dritt, sondern zu vier in Fels unterwegs waren. Auch seine Begleiter, Frank Worsley und Tom Crean, bestätigten diesen Eindruck. (Wörtlich heißt es in Shackletons "South": "I have no doubt that Providence guided us ... I know that during that long and racking march of 36 hours over the unnamed mountains and glaciers it seemed to me often that we were four, not three." - South, London: W. Heinemann, 1919, S. 209.)

"Q"s rund vierzig Titel, angefangen mit dem Seeabenteuer "Dead Man's Rock" von 1887 umfassen zahlreiche Erzählungssammlungen sowie eine Reihe von Anthologien, wie das "Oxford Book of English Verse, 1250-1900" (1900) und "The Ooxford Book of Ballads" (1911). Die Tatsache, daß er ab 1912 in Oxford eine Professur für englische Literatur innehatte, fällt eher weniger ins Gewicht.

"The Czarina's Violet" ist dem dritten Band von Märchen oder dem Märchenton nachempfundenen Texten entnommen, die Quiller-Couch zwischen 1895 und 1913 veröffentlicht hat. "Tales Far and Near Retold" erschien 1895 in einer bibliophilen Ausgabe mit Illustrationen von H. R. Millar (Kennern der englischen Jugendliteratur eher geläufig durch seine Bebilderungen von Edith Nesbits Jugendbüchern, etwa "Five Children and It" oder "The Railway Children"). "The Sleeping Beauty and Other Fairy Tales from the Old French Re-told," 1910, mit Bildern des irischen Zeichners Edmund Dulac, enthält Nacherzählungen von Märchen von Charles Perrault ("Blaubart," "Aschenputtel" und "Dornröschen") und "Die Schöne und das Biest," nach der Version der Mme de Villeneuve aus dem "Cabiinet des fées" (1785-89). Als letztes erschien "Powder and Crinoline: Fairy Tales Retold", mit sieben Texten, 1913 im Londoner Verlag Hodder & Stoughton als Liebhaberausgabe in einer Auflage von 500 Exemplaren verlegt als Großquart (30x25 cm), mit 15 farbigen Illustrationen des dänischen Künstlers Kay Nielsen (1189-1975), der zwischen 1913 und 1925 für Hodder & Stoughton zahlreiche Liebhaberausgaben "klassischer" Märchen und Kunstmärchen bebilderte, so auch die Hausmärchen der Brüder Grimm und Texte von Hans Christian Andersen. Am bekanntesten sind von ihm heute noch seine exquisiten illustrationen zu den "Arabian Nights," den Erzählungen aus 1001 Nacht.

Das Rokoko-Ambiente, in dem Nielsens Bilder hier gehalten sind, reiht sich ein in die Wiederentdeckung jener "galanten" Epoche in der Zeit kurz vor der Jahrhundertwende, in der die Empfindsamkeit, die ästhetische Überhöhung als wohltuender Kontrast zum alltäglichen Utilitarismus der aufkommenden Massenunterhaltung und der Massenproduktion der Zeit empfunden wurde. Die Art Nouveau, die geschwungenen Linien und pastosen Farben des Jugendstils, zeugen auf ihre Art von der gleichen Haltung. Im Deutschen kann man das etwa an Hofmannsthals berühmten Versen aus dem "Prolog zum Buch Anatol" (1892) nachschmecken.

Hohe Gitter, Taxushecken,
Wappen nimmermehr vergoldet,
Sphinxe, durch das Dickicht schimmernd …
… Knarrend öffnen sich die Tore. –
Mit verschlafenen Kaskaden
Und verschlafenen Tritonen,
Rokoko, verstaubt und lieblich,
Seht … das Wien des Canaletto,
Wien von siebzehnhundertsechzig …
… Grüne, braune, stille Teiche,
Glatt und marmorweiß umrandet,
In dem Spiegelbild der Nixen
Spielen Gold- und Silberfische …

Quiller-Couch, und sein Illustrator, reihen sich hier ein neben Franz Blei, dessen "Lesebuch der Marquise" mit dem Untertitel "Ein Rokokobuch" von 1908 mit seinen Illustrationen von Konstantin Somow das gleiche artifizielle Ambiente von Galanterie und Weltflucht evoziert - freilich ohne die zwar parfümierte, aber handfeste Erotik, die bei Blei die Texte und Bilder grundiert. Dabei greift letzteres nachtürlich auf genuine Traditionen der "libertinage" jenes Sehnsuchtszeitraums zurück, von den Gemälden Bouchers, Fragonards und Watteaus bis hin zu Denis Diderots "Les bijoux indiscrets" und, dies alles überwölbend, die Memoiren des Chevalier de Seingalt, heute wie damals geläufiger als Giacomo Casanova.

* * *

Um aber beim Thema "Fragwürdige Anekdoten rund um den eisernen Kanzler" zu bleiben, sei hier ein weiteres Beispiel mit östlichem Fokus hergesetzt.

* * *



Es handelt sich um einen Holzschnitt aus der Zeitschrift 《點石齋畫報》 (Dianshizhai huabao), die zwischen 1884 und 1898 in Shanghai verlegt wurde und den ersten Versuch darstellte, einer großstädtischen Leserschaft, die mit den modernen technischen Errungenschaften der Moderne in Berührung kam, ein illustriertes Magazin nach dem Vorbild etwa des "Figaro" oder der "Illustrated London News" anzubieten, in dem der Schwerpunkt der Berichterstattung auf zumeist anekdotisch aufbereiteten Nachrichten über die "seltsamen Sitten der westlichen Barbaren", über neue technische Entwicklungen wie Gaslaternen oder Dampflokomotiven, Sensationsberichte über Schffsuntergänge und Eisenbahnunfälle lag. Publiziert wurde das Blatt als Beilage zur größten damaligen Shanghaier Tageszeitung, der Shen Bao, 《申報》 . Jede Nummer umfaßte acht Holzschnitte, die jeweils im oberen Drittel einen erläuternden Text trugen und im Steindruckverfahren reproduziert wurden. Die Zeitschrift erschien drei Mal im Monat, im Abstand von jeweils zehn Tagen; die erste Nummer erschien am 25. April 1884; die letzte der insgesamt 528 Ausgaben erschien in der zweiten Augustwoche 1898, einen Monat, bevor in der Verbotenen Stadt der Versuch einer umfassenden Reform von Verwaltung und Regierung während der "100 Tage" unter Hofminister Kang Youwei scheiterte (Kang, der einer der letzten Staatsmänner war, der aufgrund seiner führenden Rolle dabei zum "Tod durch 1000 Schnitte" verurteilt wurde, verbrachte die nächsten 13 Jahre bis zum Ende des Kaiserreichs und der Gründung der Republik im japanischen Exil.). Die Auflage betrug 7000 Exemplare. Obwohl die Redaktion von Chinesen betrieben wurde - Chefredakteur war bis zum September 1896 吴友如, Wu Youru - lag die Finanzierung und der Verlag in der Hand des englischen Kaufmanns Frederic Major, der die Shen Bao 1872 gegründet hatte. Unser Beispiel ist der Nr. 255 aus der ersten Maihälfte des Jahres 1891 entnommen.

Der chinesische Text lautet in Übersetzung:

"Eine Geschichte über Bismarck"

(Die phonetische Nachempfindung fremder Namen führte vor allem in der Frühzeit zu oft sehr divergierenden Zeichenfolgen; die heutige Transliterationsweise ist 俾斯麦, bǐsīmài.")

Der Kanzler des deutschen Reiches ist ein kluger und aufgeweckter Mann. Im Volk genießt er große Verehrung. Aber mit zunehmendem Alter hat er in Staatsangelegenheiten einen Starrsinn entwickelt, der die öffentliche Meinung gegen ihn einnahm und dazu führte, daß er seine Ämter aufgab und sich auf das Land zurückzog, in eine Gegend mit ausgedehnten Wäldern und vielen Seen und Flüssen.

Eines Tages ging er sich mit einem alten Freund auf die Jagd. Er selbst nahm nur eine Pistole mit. Sie wanderten durch die Wälder und waren mit ihrem Jagderfolg zufrieden. Plötzlich gab der Boden unter seinem Freund nach und er stürzte in ein tiefes sumpfiges Wasserloch. Er versank darin und glaubte, daß er jetzt ertrinken müsse. Als er um Hilfe rief, sagte Bismarck zu ihm: "Ich kann dir leider nicht helfen. Du bist so tief eingesunken, daß meine Kräfte nicht ausreichen, um dich herauszuziehen. So will es das Schicksal, und es steht nicht in meiner Macht, daran etwas zu ändern. Wenn du lange kämpfst, wirst du auch lange leiden müssen. Da dein Schicksal besiegelt ist, wäre es das beste, wenn dein Todeskampf nur kurz währt. Ich werde dich jetzt erschießen, um unserer Freundschaft willen." Als der Freund das hörte, ergriff ihn der Zorn; er rief noch lauter um Hilfe, aber Bismarck lachte nur und sprach: "Ich kann dein Leben nicht retten. Ich werde dich in die Stirn schießen, damit dein Leiden schnell vorbei ist." Er nahm seine Pistole und zielte auf seinen Freund, aber er drückte nicht ab. Der Freund, der dies sah, verstand es nicht, aber sein Zorn wurde übermächtig. Er spannte all seine Kraft an und schaffte es, eine über ihm hängende Baumwurzel zu fassen und sich an ihr aus dem sumpfigen Loch herauszuziehen. Als er sich in Sicherheit gebracht hatte, warf er Bismarck dessen Herzlosigkeit vor. Bismarck aber lächelte und sprach zu ihm: "Genau das hat bewirkt, daß dein Leben gerettet worden ist. Du hast gesehen, daß der Sumpf tief ist. Wenn ich dir eine Hand zur Hilfe gereicht hätte, wäre ich auch hineingefallen, und wir wären beide ertrunken. Deshalb mußte ich dich so zornig und wütend machen, daß du Kräfte entwickelst hast, die über das Maß eines Einzelnen hinausreichen und du dich selbst in Sicherheit gebracht hast." Da verstand sein Freund, warum Bismarck so gehandelt hatte. Er bedankte sich und sie versöhnten sich miteinander, während sie sich auf dem Heimweg machten.




U.E.

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