11. Juli 2020

周作人 《入厕读书》 / Zhuo Zuoren, "Lesen auf dem Klo" (1935). Mit einem Seitenstück zu Jun'ichirō Tanizaki

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 (周作人 / Zhou Zuoren)



郝懿行著《晒书堂笔录》卷四有《入厕读书》一条云:

旧传有妇人笃奉佛经,虽入厕时亦讽诵不辍,后得善果而竟卒于厕,传以为戒。 虽出释氏教人之言,未必可信,然亦足见污秽之区,非讽诵所宜也。 《归田录》载钱思公言平生好读书,坐则读经史, 卧则读小说,上厕则阅小词,谢希深亦言宋公垂每走厕必挟书以往,讽诵之声琅然闻于远近。 余读而笑之,入厕脱裤,手又携卷,非惟太亵,亦苦甚忙,人即笃学,何至乃尔耶。 至欧公谓希深言平 生所作文章多在三上,乃马上枕上厕上也,盖惟此尤可以属思尔,此语却妙,妙在亲切不浮也。

定,但总未必很短,而且这与吃饭不同,无论时间怎么短总觉得这是白费的,想方法要来利用他一下郝君的文章写得很有意思,但是我稍有异议,因为我是颇赞成厕上看书的。 小时候听祖父说,北京的跟班有一句口诀云,老爷吃饭快,小的拉矢快,跟班的话里含有一种讨便宜的意思,恐怕也是事 实。 一个人上厕的时间本来难以一。 如吾乡老百姓上茅坑时多顺便喝一筒旱烟,或者有人在河 沿石磴下淘米洗衣,或有人挑担走过,又可以高声谈话,说这米几个铜钱一升或是到什么地方去。 读书,这无非是喝旱烟的意思罢了。

话虽如此,有些地方原来也只好喝旱烟,于读书是不大相宜的。 上文所说浙江某处一带沿河的茅坑,是其一。 从前在南京曾经寄寓在一个湖南朋友的书店里,这位朋友姓刘,我从赵伯先那边认识 了他,那年有乡试,他在花牌楼附近开了一家书店,我患病住在学堂里很不舒服,他就叫我住到他那里去,替我煮药煮粥,招呼考相公卖书,暗地还要运动革命,他的精神实在是很可佩服的。 我睡 在柜台里面书架子的背后,吃药喝粥都在那里,可是便所却在门外,要走出店门,走过一两家门面,一块空地的墙根的垃圾堆上。 到那地方去我甚以为苦,这一半固然由于生病走不动,就是在康健 时也总未必愿意去的,是其二。 民国八年夏我到日本日向去访友,住在一个名叫木城的山村里,那里的便所虽然同普通一样上边有屋顶,周围有板壁门窗,但是他同住房离开有十来丈远,孤立田间 ,晚间要提了灯笼去,下雨还得撑伞,而那里雨又似乎特别多,我住了五天总有四天是下雨,是其三。 末了是北京的那种茅厕,只有一个坑两垛砖头,雨淋风吹日晒全不管。 去年往定州访伏园,那 里的茅厕是琉球式的,人在岸上猪在坑中,猪咕咕的叫,不习惯的人难免要害怕,那有工夫看什么书,是其四。 《语林》云,石崇厕有绛纱帐大床,茵蓐甚丽,两婢持锦香囊,这又是太阔气了,也不适 宜。 其实我的意思是很简单的,只要有屋顶有墙有窗有门,晚上可以点灯,没有电灯就点白蜡烛亦可,离住房不妨有二三十步,虽然也要用雨伞,好在北方不大下雨。 如有这样的厕所,那么上厕 时随意带本书去读读我想倒还是呒啥的吧。

谷崎润一郎著《摄阳随笔》中有一篇《阴翳礼赞》,第二节说到日本建筑的厕所的好处。 在京都奈良的寺院里,厕所都是旧式的,阴暗而扫除清洁,设在闻得到绿叶的气味青苔的气味的草木丛中,与 住房隔离,有板廊相通。 蹲在这阴暗光线之中,受着微明的纸障的反射,耽于瞑想,或望着窗外院中的景色,这种感觉真是说不出地好。 他又说:“我重复地说,这里须得有某种程度的阴暗,彻底 的清洁,连蚊子的呻吟声也听得清楚地寂静,都是必须的条件。我很喜欢在这样的厕所里听萧萧地下着的雨声。特别在关东的厕所,靠着地板装有细长的扫出尘土的小窗,所以那从屋檐或树叶上滴 下来的雨点,洗了石灯笼的脚,润了贴脚石上的苔,幽幽地沁到土里去的雨声,更能够近身地听到。实在这厕所是宜于虫声,宜于鸟声,亦复宜于月夜,要赏识四季随时的物情之最相适的地方,恐怕 古来的俳人曾从此处得到过无数的题材吧。这样看来,那么说日本建筑之中最是造得风流的是厕所,也没有什么不可。”

谷崎压根儿是个诗人,所以说得那么好,或者也就有点华饰,不过这也只是在文字上,意思却是不错的。 日本在近古的战国时代前后,文化的保存与创造差不多全在五山的寺院里,这使得风气一变 ,如由工笔的院画转为水墨的枯木竹石,建筑自然也是如此,而茶室为之代表,厕之风流化正其馀波也。

佛教徒似乎对于厕所向来很是讲究。 偶读大小乘戒律,觉得印度先贤十分周密地注意于人生各方面,非常佩服,即以入厕一事而论,后汉译《大比丘三千威仪》下列举“至舍后者有二十五事”,宋译 《萨婆多部毗尼摩得勒伽》六自“云何下风”至“云何筹草”凡十三条,唐义净著《南海寄归内法传》二有第十八“便利之事”一章,都有详细的规定,有的是很严肃而幽默,读了忍不住五体投地。 我 们又看《水浒传》鲁智深做过菜头之后还可以升为净头,可见中国寺里在古时候也还是注意此事的。 但是,至少在现今这总是不然了,民国十年我在西山养过半年病,住在碧云寺的十方堂里,各处 走到,不见略略象样的厕所,只如在《山中杂信》五所说:

我的行踪近来已经推广到东边的水泉。 这地方确是还好,我于每天清早没有游客的时候去徜徉一会,赏鉴那山水之美。 只可惜不大干净,路上很多气味,——因为陈列着许多《本草》上的所谓人中 黄。 我想中国真是一个奇妙的国,在那里人们不容易得着营养料,也没有方法处他置的们排泄物。

在这种情形之下,中国寺院有普通厕所已经是大好了,想去找可以瞑想或读书的地方如何可得。 出家人那么拆烂污,难怪白衣矣。

现在不读八大家文,自然可以无须但是假如有干净的厕所,上厕时看点书却还是可以的,想作文则可不必。 书也无须分好经史子集,随便看看都成。 我有一个常例,便是不拿善本或难懂的书去,虽然看文法书也是寻常。 据我的 经验,看随笔一类最好,顶不行的是小说。 至于朗诵,我们了。

1935年

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Zhuo Zuoren, "Lesen auf dem Klo"

Der vierte Band von Yixings Haos "Notizen aus dem Büchersaal"  (1) enthält einen Abschnitt über "Lesen auf dem Abort":

"Eine alte Geschichte berichtet von einer alten Frau, die eine so fromme Anhängerin des Buddhismus war, daß sie keinen Augenblick darauf verzichtete, die heiligen Sutras zu singen, und damit auch nicht einhielt, wenn sie den Abtritt aufsuchte. Ihre Frömmigkeit wurde dergestalt belohnt, daß sie eines Tages auch an diesem Ort starb. Diese Geschichte soll als eine Warnung dienen. Obwohl sie zu den Morallehren des Buddhismus zählt, muß sie nicht unbedingt wahr sein. Aber trotzdem lehrt sie,  daß es sich nicht ziemt, an unreinen Orten heilige Schriften zu rezitieren."

Im "Bericht über das Landleben" 《归田录》 (2) , wird Qian Weiyan  (3) wie folgt zitiert: "Das Lesen ist immer meine Lieblingsbeschäftigung gewesen. Im Sitzen bevorzuge ich die Klassiker und die Geschichtsschreiber;  im Liegen lese ich Geschichten und Anekdoten, und auf dem Abort lese ich volkstümliche ci-Gedichte." (4)

Im selben Buch lesen wir Xie Xishens  (5) Aussage, daß Gongsun Long jedes Mal ein Buch mitnahm, wenn er den Abort aufsuchte, und man sein Singen weithin hören konnte.

Als ich diese Stelle las, mußte ich lachen. Mit heruntergelassenen Hosen auf der Toilette zu hocken und ein Buch in der Hand zu halten, ist nicht nur vulgär, sondern auch noch ein akrobatisches Kunststück.

An anderer Stelle zitiert Ouyang Xiu die Aussage von Xie Xishen, daß er seine Schriften am liebsten an drei Orten verfaßt: auf dem Pferderücken, auf seinem Bett und auf der Toilette, denn dies seien die einzigen Orte, an denen er sich ausreichend konzentrieren könne. Das ist eine gute Bemerkung, die auch der Vulgarität enbehrt."

Yixing Haos Exkurs ist interessant. Meine Einstellung ist allerdings eine andere, da ich selbst durchaus für das Lesen auf dem Klo bin. Als ich jung war, erzählte mir mein Großvater,  daß es unter den Dienstboten in Peking ein Sprichwort gab: "Die Herrschaften essen schnell, die Dienerschaft erledigt ihr Geschäft schnell." Diese Worte der Dienstboten beziehen sich natürlich auf ihre unterschiedliche Stellung, aber sie stimmen auch in einem weiter gefaßten Sinn. Die Zeit, die man auf der Toilette verbringt, ist nicht immer kurz, und der Vorgang unterscheidet sich vom Essen nicht zuletzt dadurch, daß jeder Augenblick vertane Zeit scheint. Man möchte ihn noch für anderes nutzen. In meinem Heimatort etwa nutzen die gewöhnlichen Leute den Besuch auf der Latrine gerne dazu, um eine Pfeife Tabak zu rauchen, und wenn jemand in der Nähe am Flußufer Reis wäscht, unterhalten sie sich laut mit ihnen und fragen, was der Reis gekostet hat. Lesen ist in diesem Sinn dasselbe wie ein solches Pfeifenrauchen.

Man muß allerdings sagen, daß manche stillen Örtchen eher zum Pfeiferauchen als zum Lesen geeignet sind. Für die Latrinen am Flußufer in Zhejiang traf dies etwa zu (6) .

Als ich in Nanjing lebte, wohnte ich einige Zeit lang in einer Buchhandlung, die ein Freund aus Hunan mit Namen Liu führte, mit dem mich Zhao Boxian bekanntgemacht hatte. In jenem Jahr fanden die Bezirksprüfungen statt, und er hatte sein Geschäft im Bezirk 花牌楼, Huapailou ("beim Blumentor"), eröffnet. Ich wohnte zu der Zeit im Wohntrakt meiner Schule und es ging mir gesundheitlich nicht gut. Als er sah, wie schlecht es mir ging, war er so freundlich, mir Quartier anzubieten, Medizin zu besorgen,  Brei für mich zu kochen, mir Lesestoff zu leihen und revolutionäre Gespräche zu führen. Ich schlief in einem Bett, das sich hinter dem Regal befand, das hinter dem Ladentisch stand. Essen und Medizin waren in Reichweite, aber die Latrine befand sich weit außerhalb. Man mußte den Laden verlassen, ein oder zwei Torbogen durchqueren, bis man zu einem verlassenen Grundstück gelangte, an dessen einer Seite sich Unrat hoch auftürmte. Jeder dieser Gänge kam mich hart an. Ich konnte mich kaum bewegen, weil ich so krank war, aber es war die Art von Umgebung, die man auch bei bester Gesundheit nicht freiwillig aufsucht.

Ein zweites Beispiel:  als ich im Sommer im achten Jahr der Republik (1919) Freunde in Japan besuchte, verbrachte ich einige Tage in einem Bergdorf namens 木城, Kijo (7) . Obwohl die Toilette, wie es dort üblich ist, ein Dach besaß, eine Tür und ein Fenster, befand sie sich gute dreißig Zhang  (8) vom Haus entfernt auf dem offenen Feld, und man brauchte nachts eine Laterne für den Weg. Wenn es regnete, benötigte man einen Schirm, und es regnet in dieser Gegend häufig - während der fünf Tage, die ich dort verbrachte, regnete es an vieren.

Ein drittes Beispiel: die primitivsten Latrinen in Peking besitzen nur ein Strohdach, und sie bestehen nur aus einer Sickergrube mit zwei Backsteinen links und rechts. Man ist dort Wind und Regen schutzlos ausgesetzt. Im vorigen Jahr besuchte ich Fuyuan in Dingzhou (9) . Die Latrinen dort sind von wie die, die man auf den Ryukyu-Inseln findet: die Leute benutzen die Abbruchkante zum Meeresufer, und unter ihnen warten Schweine und quieken ohrenbetäubend. Wer nicht daran gewöhnt ist, den packt das Grausen. Das ist mein viertes Beispiel.

Im  Lin Yu  《林语》 (10) heißt es, daß Shi Chong auf seiner Toilette ein Bett mit Seidenvorhängen und Kissen aufstellen ließ, und daß dort stets zwei Dienerinnen mit Beuteln aus Brokat bereitstanden, die mit Parfum gefüllt waren. (11) Das ist nicht nur zu ausgefallen; es ist auch unpraktisch. Was mir vorschwebt, ist im Grund ganz schlicht: ich benötige nur ein Dach über dem Kopf, Wände, eine Tür, ein Fenster und Licht. Falls es kein elektrisches Licht gibt, reicht es, wenn ich eine Kerze anzünden kann. Es darf ruhig gute dreißig Meter vom Haus entfernt sein; man braucht dann manchmal einen Schirm, aber in Peking regnet es nicht viel. Wenn ich eine solche Toilette benutzen kann, nehme ich mir die Freiheit, ein Buch mit dorthin zu nehmen.

In Junichiro Tanizakis Sammlung 《阴翳礼赞》, “Shè yáng suíbǐ” ("Photoessay") gibt es einen Essay in dem Titel "Lob des Schattens" 《摄阳随笔》,  “Yīnyì lǐzàn”.  (12) Der zweite Abschnitt befaßt sich mit den Vorzügen japanischer Toiletten. In den Klöstern von Nara und Kyoto sind die Toiletten von alter Art, dunkel, aber sauber. Sie befinden sich abseits von den Hauptgebäuden auf Rasenstücken im Schatten von Bäumen, wo man den Geruch des Mooses und des grünen Laubs riechen kann und die durch überdachte Gänge erreicht werden.  Der Eindruck, der entsteht, wenn man dort im Halbdunkel im schwachen Licht sitzt, das durch die papierbespannten Wandschirme dringt, seinen Gedanken nachhängt oder den Tempelhof vor dem Fenster betrachtet, ist unbeschreiblich. Tanizaki fährt fort:

"Ich wiederhole: man braucht ein Halbdunkel, makellose Sauberkeit, und eine Stille, in der man sogar das Summen einer Mücke deutlich vernehmen kann. Das sind die unbedingten Voraussetzungen dafür. Ich höre auf solchen Toiletten gern dem sachten Rauschen des Regens zu. In Kanto haben die Türen der Toiletten einen Abstand zum Boden; dieser Spalt dient dazu, Staub und Schmutz leicht hinauskehren zu können. So kann man dort ausgezeichnet zuhören, wie das Wasser von den Blättern oder dem Dach rinnt, die Sockel der steinernen Laternen reinwäscht, das Moos auf den Trittsteinen durchtränkt und sacht auf das Erdreich tropft. Solche Toiletten eignen sich am besten dazu, das Zirpen der Insekten und den Gesang der Vögel und die Mondnacht zu genießen, sie sind der ideale Ort, um das Wesen jeder Jahreszeit zu würdigen. Es könnte sein, daß die Haiku-Dichter in alten Tagen sich oft von solchen Orten inspirieren ließen. In dieser Hinsicht ist es vielleicht keine Übertreibung, wenn man sagt, daß diese Toiletten die romantischsten Orte der japanischen Baukunst darstellen."

Tanzizaki ist im Herzen Dichter, deshalb drückt er sich so eloquent aus, vielleicht sogar etwas zu blumig; aber das betrifft nur seinen Stil; denn seine Aussage selbst trifft durchaus zu. Vor und während der Sengoku-Zeit (13) lag die Bewahrung der japanischen Kultur ganz in der Hand der Klöster von Gozan. Das zeigte sich im Wandel des Stils, als etwa die Tuschzeichungen und -lavierungen von Bäumen, Bambus und Felssteinen die strengen formalen architektonischen Darstellungen mit ihren genauen Einzelheiten ersetzten. In der Architektur zeigte sich das exemplarisch in der Gestaltung der Teehäuser. Die Umgestaltung der Toiletten war hier nur folgerichtig.

Die Buddhisten scheinen sich in besonderem Maß mit der Toilettenetikette beschäftigt zu haben. Gemäß dem Wenigen, das ich von den Lehren des Großen und des Kleinen Fahrzeugs (14) gelesen habe, haben sich die alten indischen Weisen eingehend mit sämtlichen Aspekten des menschlichen Lebens befaßt. In den "Dreitausend Regeln für den Mönch" befassen sich 26 davon damit (15) . Im sechsten Abschnitt der Sarvastivada Vinaya Mtarka  (16) in der Übersetzung aus der Song-Zeit werden dreizehn Punkte aufgeführt, vom "Darauf achten, wie der Wind steht"  (17) bis "das Gras vorbereiten". Das achtzehnte Kapitel von Yi Jings "Aufzeichnungen über buddhistische Gebräuche im Südmeer" (18) widmet sich "der Erleichterung" und gibt genaue Regeln, die sehr ernst gemeint und zugleich unwiderstehlich komisch sind. Als ich sie las, mußte ich mich vor Lachen auf dem Boden wälzen. (19) Wir sehen auch, daß in den Räubern vom Liang-Schan-Moor (20) Lu Zishen vom Gemüsegärtner zum Toilettenaufseher befördert wird. All das zeigt, daß diesen Angelegenheiten früher in der chinesischen Tempeln ein hohen Wert beigemessen wurde. Leider ist das heute nicht mehr so. Im zehnten Jahr der Republik (1921) erholte ich mich ein halbes Jahr lang in den westlichen Bergen  (21) von einer Krankheit. Ich wohnte im Tempelkloster der Azurblauen Wolken (22) , in der Halle der zehn himmlischen Richtungen, aber bei allen meinen Spaziergängen habe ich dort nie eine halbwegs annehmbare Toilette gefunden. Wie ich in meinen "Briefen aus den Bergen"  (23) geschrieben habe:

"Seit einiger Zeit habe ich meine Ausflüge bis zu der Quelle ausgeweitet, die an der Ostseite des Tempels entspringt. Es handelt sich um einen wunderbaren Ort; ich suche ihn jeden Morgen auf, bevor sich dort die Ausflügler drängen. Es ist nur schade, daß es dort so schmutzig ist und der Gestank, der von den unzähligen Beispielen für das aufsteigt, was das Bencao als "gelbe menschliche Materie" bezeichnet (24) . Manchmal habe ich den Eindruck, daß China ein Land voller unbegreiflicher Widersprüche ist. Die Menschen wissen nicht, woher sie genügend Essen bekommen sollen, aber von ihren Ausscheidungen gibt es soviel, daß sie nicht wissen, wie sie sich ihrer auf zivilisierte Art entledigen."

Unter solchen Umständen kann man schon von Glück sagen, wenn es in Tempeln ganz einfache Toiletten gibt, und man sollte nicht erwarten, dort Orte der Gelehrsamkeit und Meditation finden zu können. Bei solchen Gewohnheiten darf man sich nicht wundern, welches Aussehen die weißen Roben der Mönche annehmen.

Ich lese dort nicht die acht großen Meister der Prosa (25) , und man braucht natürlich auf dem Klo nicht zu lesen, aber wenn man eine saubere Toilette zur Verfügung hat, spricht nichts dagegen, ein Buch mit dorthin zu nehmen. Bei der Auswahl des Leserstoffs kommt es nicht darauf an, zu welcher Kategorie es zählt. Als Faustregel wähle ich keine Bücher, die schwer zu verstehen sind oder teure Ausgaben; oft reicht mir eine Grammatik aus. Kurze Aufsätze eignen sich meiner Erfahrung nach am besten, und Erzählungen am wenigsten. Was das laute Rezitieren angeht, so schenken wir es uns.

- 1935

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 《入厕读书》 (Rùcè dúshū) erschien zuerst in der Nummer 166 der Zeitschrift 独立评论 (Dúlì pínglùn, "Unabhängiger Kommentar") unter dem Pseudonym 知堂, Shi Tang, und wurde in Jahr darauf in die Essaysammlung  《苦竹杂记》 (Kǔzhú zájì, "Bittere Bambus-Notizen") aufgenommen. Die Zeitschrift erschien unter der Herausgeberschaft von Hu Shi vom Mai 1932 bis zum Juli 1937 in insgesamt 244 Ausgaben in Beijing.



(Umschlag der Erstausgabe der Bambus-Notizen)


(Ausgaben der Zeitschrift 独立评论, Dúlì pínglùn)

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Anmerkungen:

1. Yixing Hao, 郝懿行 (1757-1825), 《晒书堂笔录》 Shài shū táng bǐlù (Notizen aus dem Büchersaal); da 晒 "sonnenbestrahlt", "hell erleuchtet" bedeutet; würde sich als Übersetzung auch "Aufzeichnungen aus dem sonnigen Büchersaal" anbieten.

2. 《归田录》, Guītián lù, "Bericht über das Landleben", Buch von 欧阳修, Ouyang Xiu (1007-1072), Historiker und Dichter der Song-Zeit. (Kleine Abschweifung, nicht zur Sache gehörig (neudeutsch: fun fact): sein am Ende seines Lebens geschriebenes 六一居士  Liùyī jūshì, "Gespräche über die sechs wichtigen Dinge" widmet sich in eben sechs Kapiteln den fünf Dingen, die im Leben wirklich von Bedeutung sind und die man besitzen sollte: eine Bibliothek von zehntausend Bänden, eine Sammlung von Abrieben alter Inschriften, ein Musikinstrument, ein Schachspiel und einen Becher Wein. Das sechste ist die eigene Persönlichkeit.) 

3. 钱思公, Qian Weiyan (977-1034), Politiker und Dichter, vierzehnter Sohn des letzten Königs von Wuyue, Qian Hongchu, 钱弘俶 (alias Qian Chu alias Qian Wende, alias Qinguo Zhongyi). Wuyue, ganz an der Ostküste des chinesischen Festlands gelegen, auf etwa halber Strecke zwischen Beijing (damals noch keine Hauptstadt) und Shanghai (damals noch nicht gegründet), war ein nominell unabhängiges Königreich während der Periode der "Fünf Dynastien und zehn Königreiche", die auf den Zerfall der Reichseinheit der Tang-Zeit zwischen 907 und 960 folgte. "Nominell" deshalb, weil Wuyue den Staaten Liang, Tang, Jin, Han, Zhou und Song tributpflichtig war. Ouyang berichtet zahlreiche Anekdoten von Qian.
4. Cí,  詞, eine in der Tang-Zeit aufgekommene kleine Gedichtform mit kurzen, festgelegten rhythmischen Mustern, zumeist gereimt. Für jedes der gut 800 Schemata gibt es eine Melodie, nach der die Verse als Lied gesungen werden können. Wenn man in den Gedichtsammlungen der Tang- und Song-Zeit auf den Zusatz "nach der Melodie xxx" stößt, handelt es sich in .

5. 谢希深, Xie Xizhen (Lebensdaten unbekannt), Gelehrter der Song-Zeit; er war der Verfasser des ersten Kommentars zum 《公孫龍子》, Gongsun longzi, "Meister Gongsun Long." Gongsun Long (325-250 v. Chr.) war ein Philosoph aus der Spätzeit der "Kämpfenden Reiche" und wird im Westen zumeist als "Sophist" bezeichnet; das chinesische Pendant zu Zenon von Elea. Zwei seiner bekannteren Paradoxa lauten: 堅白石二, "ein harter Stein und ein weißer Stein sind zwei unterschiedliche Dinge" und 白馬非馬, bái mǎ fēi mǎ, "ein weißes Pferd ist kein Pferd", im Sinne von "ein Schimmel ist etwas Anderes als ein Pferd (ohne näher genannte Eigenschaften)."

6. Zhejiang, 浙江, Provinz in Südchina am südchinesischen Meer, direkt südlich von Shanghai gelegen. Shaoxing, wo Zhuo am 18. Januar 1885 geboren wurde, liegt in Zhejiang.

7. Kijo. Ein Dorf in den japanischen Präfektur Miyazaki auf der südjapanischen Insel Kyushu mit heute 5300 Einwohnern. Die chinesische Bezeichnung, die Zhuo verwendet, 木城, Mùchéng, ist eine sinngetreue Übertragung des japanischen Namens, 木城町, der "Holzdorf" bedeutet.
8. Zhàng, 丈, etwa 3,3 Meter, insgesamt also mehr als dreißig Meter. 

9. 定州, Dingzhou, heute eine Millionenstadt, wie Beijing in der Provinz Hebei gelegen und 220 km in südwestlicher Richtung von der Hauptstadt entfernt.

10. Lin Yu, 《林语》, "Volksgeschichten"; anonyme Sammlung von Anekdoten aus dem 4. Jdt. n. Chr. Der "Wald", 林, lín, meint hier "eine Sammlung ähnlicher Dinge", eine Gruppe; genauso ist auch der "Gelehrtenwald" im Titel des Roman von Wu Jingzi, 儒林外史,  Rúlín wàishi von 1749 (Geheime Geschichte des Gelehrtenwalds) zu lesen, wie auch der nicht ganz unbekannte "Stelenwald" von Xi'an, 西安碑林. 

11. 石崇, Shi Chong (249-300 n.Chr.) zur Zeit der westlichen Jin-Dynastie Gouverneur der Provinz Jingzhou. In der chinesischen Tradition ist er für seine märchenhafte Verschwendungssucht berüchtigt (in unserer westlichen Überlieferung also Lucullus oder Petronius Arbiter entsprechend); seinen sagenhaften Reichtum verdankte er der skrupellosen Ausplünderung und Ermordung von Handelsreisenden. Im vierten Regierungsjahr von Sima Zhong wurde er einer Verschwörung gegen das Herrscherhaus beschuldigt und mitsamt seiner gesamten Familie hingerichtet.

12. 陰翳礼讃, In'ei Raisan, "Lob des Schattens." Ein längerer Essay zur "japanischen Ästhetik" von Jun'ichirō Tanizaki, zuerst 1933 in der Zeitschrift 経済往来, Keizai Ōrai, erschienen und zwei Jahre später in die Sammlung 摂陽随筆 (Setsuyō zuihitsu, "Photoessays") aufgenommen, die im Mai 1935 im Verlag Tankobon erschien. Zhuo erwähnt den Essay zuerst in seinem Feuilleton 《冬天的蝇》 (dōngtiān de yíng, "Winterfliegen"), der am 5. Juni 1935 erschien.
Der zweite der 16 Abschnitte des Essays, 京都や奈良の寺院, "Die Tempel von Nara und Kyoto" beschreibt die Toiletteneinrichtungen der dortigen Tempel als Kontrast sowohl zur traditionellen Teehausarchitektur und den Sanitäreinrichtungen im westlichen Stil. Zhuo übersetzt hier direkt aus dem japanischen Text. Im Original lautet die zitierte Passage so:

そうしてそれには、繰り返して云うが、或る程度の薄暗さと、徹底的に清潔であることと、蚊の呻(うな)りさえ耳につくような静かさとが、必須の条件なのである。私はそう云う厠にあって、しとしとと降る雨の音を聴くのを好む。殊に関東の厠には、床に細長い掃き出し窓がついているので、軒端や木の葉からしたゝり落ちる点滴が、石燈籠の根を洗い飛び石の苔を湿おしつゝ土に沁み入るしめやかな音を、ひとしお身に近く聴くことが出来る。まことに厠は虫の音によく、鳥の声によく、月夜にもまたふさわしく、四季おりおりの物のあわれを味わうのに最も適した場所であって、恐らく古来の俳人は此処から無数の題材を得ているであろう。されば日本の建築の中で、一番風流に出来ているのは厠であるとも云えなくはない。

13. Sengoku-Zeit (jap. 戦国時代 sengoku-jidai, die "Zeit der streitenden Reiche" (nicht mit der gleichnamigen chinesischen Epoche im 3. Jdt. n. Chr. zu verwelchsln), als Japan nach dem Ende des Ashikaga-Shogunats in rund 200 Kleine und kleinste Herrschaftsbereiche zerfiel, die miteinander in blutiger Dauerfehde lagen. Die Epoche begann 1477 und dauerte bis 1573, als die erneute Einigung unter Oda Nobunaga, Toyotomi Hideyoshi und Tokugawa Ieyasu begann.
14, "Des großen und kleinen Fahrzeugs" (O.: 偶读大小乘戒律): Mahayana- und Hinayana-Buddhismus.

15. "Dreitausend Regeln für den Mönch", 《大比丘三千威仪》; eine Übersetzung aus der Han-Zeit. Das 比丘, Bǐqiū, ist eine Übernahme des Prakrit-Wortes Bikkhu für "Mönch".

16. Sarvastivada Vinaya Mtarka, 《萨婆多部毗尼摩得勒伽》: in der Frühzeit des Buddhismus in China, bis zum 7. Jahrhundert n.Chr., war die Sarvāstivāda Vinaya die am weitesten verbreitete Ausrichtung des Buddhismus, mit einem Zentrum entlang und südlich des Yangtsekiang. Die späteren Ausrichtungen gehörten zumeist dem Dharmaguptaka-Buddhismus an, unterstützt durch ein Edikt des Zhongzhong-Kaisers des Tang-Reichs im 8. Jahrhundert, das eine Aufspaltung des Buddhismus in zahllose verschiedene Denominationen verhindern sollte.

17. O.: “云何下风”, wörtlich: "sich abwindig halten" (um andere nicht durch Geruch zu belästigen).

18. Yi Jing oder Yijing, 義淨 (635-713), buddhistischer Mönch der Tang-Zeit, der in 25 Jahren mehr als 30 Länder, vor allem in Südostasien, bereiste und mehr als fünfzigtausend Verse aus den budhistischen Lehrbüchern sammmelte und übersetzte. Die "Aufzeichnungen über buddhistische Bräuche im südlichen Meer" 《南海寄归内法传》 beschreiben in vierzig Kapiteln das Klosterleben und die Glaubenspraktiken im nordindischen Nalanda und in zehn buddhistisch geprägten Ländern in Südostasien. Die erste Übersetzung ins Englische erfolgte 1896 durch Junjiro Takakuso.

19. "Als ich sie las, mußte ich mich vor Lachen auf dem Boden wälzen": O.: 读了忍不住五体投地。 Jetzt wissen wir, was ROFL auf Chinesisch heißt.
20. Die Räuber vom Liang-Tschan-Moor 《水浒传》, Shuǐhǔ zhuàn (Wörtlich "Die Geschichte vom Wasserufer"); einer der "vier klassischen chinesischen Romane", meist Shī Nàiān, 施耐庵, und Luó Guànzhōng 罗贯中 zugeschrieben und in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden. Den Titel hat der Roman seit der Erstübersetzung ins Deutsche durch Fritz Kuhn 1934 erhalten; obwohl er mit dem Originaltitel nichts zu tun hat. Pearl S. Buck, die ein Jahr zuvor als erste die 70-Kapitel-Fassung ins Englische übertrug, wählte den Titel All Men Are Brothers; die französische Ausgabe von 1978 kommt mit Au bord de l'eau dem Original am nächsten, wie auch die neuen englischen Übertragungen, die unter Water Margins firmieren. Es handelt sich dabei nicht um wörtliche Ufer- oder Sumpfgebiete, sondern um metaphorische Bezeichnungen für die Randbereiche des Reiches, in denen der Sohn des Himmels fern, die Ordnung prekär, die Staatsbeamten korrupt und die Banditen zahllos sind. Die Bezeichnung meint recht genau dasselbe, was im Schwertkämpfe-Genre des Wuxia mit "Jianglu", "Flüsse und Seen", gemeint ist.
21. Westliche Berge: 西山, Xīshān (wörtlich "vier Berge"); die Mittelgebirgslandschaft im Westen Beijings, bis zu 1900 Meter hoch; sie umfassen 17% des Stadtgebiets.

22. Tempel der Azurblauen Wolken: 碧云寺  Biyun-Tempel, "Blauer-Wolken-Tempel," 1331 erbaut und 20 km westlich des Beijinger Stadtzentrums gelegen.

23. "Briefe aus den Bergen": 《山中雜信》, die kleine Textsammlung trägt das Datum 5. Juni 1921 und findet sich in Zhuos Essaysammlung 《雨天的書》, "Das Buch vom Regen."
24. Bencao: 本草, vollständig 本草纲目, Běncǎo gāngmù ("Wirkungen und Arten von Wurzeln und Kräutern") ist ein Kompendium von Heilpflanzen, zusammengestellt von Li Shzhen, 李时珍 (1518-1593) und 1596 zuerst in Nanjing gedruckt. Es handelt sich hier um die größte Kompilation des gesamten damaligen Wissens auf diesem Gebiet. Das Werk umfaßt insgesamt 53 Bände mit 1892 Pflanzenbeschreibungen, 1100 Illustrationen und 11.092 Rezepturen. 

(Japanische Pollia - Pollia japonica - aus dem Bencao)

25. Acht Meister der Prosa: 唐宋八大家, acht Prosaautoren der Tang- und Song-Zeit, deren Stil als mustergültig gilt, angefangen mit Han Yu, 退之 (768–824) bis Zeng Gong, 曾鞏 (1019–1083).

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(Tanizaki Jun'ichirō)

Postscriptum zu Tanizaki und dem "Lob des Schattens".

Tanizakis längerer, ausgreifender Essay (随筆, zuihitsu) gilt seit den späten 1930er Jahren nicht nur in Japan, sondern auch seit den Übersetzungen in westliche Sprachen in den 1970er und 1980er Jahren als eine Kernbeschreibung einer speziellen "japanischen Ästhetik". Tanizaki hat die 16 recht kurzen Abschnitte seines Textes impressionistisch, assoziativ angelegt; jede Systematik liegt ihm fern; er umreißt aus streng individualistischer Perspektive, unter Verzicht auf kunsthistorische Rückgriffe und Formalien, die "Besonderheiten der japanischen Ästhetik" anhand von Architektur, von Tuschzeichnungen, von Raumästhetik und den punktuell aufschießenden Sinneseindrücken der lyrischen Kleinformen der Tanka und Haiku. Sein Kernbefund ist, daß sich diese spezielle japanische Ästhetik durch das Weglassen spezifischer Details, durch das Uungefähre, Verschwommene, das Halbdunkel, das Chiaroscuro auszeichne, und sich hierin ein prinzipieller Ggegensatz zur Kunst klassischer europäischer Provenienz zeigt. Es ist klar, daß ein solcher Kontrast dem Selbstgefühl vieler Japaner entgegenkommt; und ebenso klar ist es, daß viele Leser im Westen angesichts eines solchen Befundes aus Sicht eines Muttersprachlers, der mit der japanischen Kunst, mit ihrer traditionellen Architektur, mit den Innenräumen der Ryokan und Teehäuser von klein auf vertraut ist, geneigt sind, diese Analyse zu akzeptieren. Und dennoch... Auch schon eine kurze Befassung mit der japanischen Kunstgeschichte ist geeignet, hier leichte Zweifel aufkommen zu lassen.

So schreibt Shuichi Kato in seiner Geschichte der japanischen Literatur (auf deutsch 1990 bei Scherz erschienen):

"In seiner Essaysammlung Inei raisan (1933, "Lob des Schattens") setzt sich Tanizaki eingehend mit der Kultur des Dämmerlichts im japanischen Haus auseinander, dessen Architektur in der Edo-Zeit seine Vollendung erfuhr. Er wird nicht müde, die subtile Verwendung von Licht und Schatten, die Farben, "an denen der Schmutz der Menschen, der Öllampe und die Spuren von Wind und Regen haften," zu beschreiben, er zeichnet mit Worten Lackgefäße im Zwielicht, schreibt über die dämonische Schönheiit einer Frau, den zarten Körper in einen Kimono gehüllt. Es handelt sich hierbei um eine Ästhetik, die sich, wie gesagt, in der Edo-Zeit entwickelt hat und sich nicht beliebig auf andere Epochen der japanischen Geschichte übertragen lassen kann. Tanizakis Annahme, "daß die Neigung, Schönheit im Dämmerlicht zu suchen, nur bei den Orientalen ausgeprägt ist," lag indes ein doppelter Irrtum zugrunde. Denn zum einen haben die Chinesen den Anblick des berühmten Tiandan-Tempels in Peking, besonders die Pracht seiner Farben nicht im Dämmerlicht, sondern unter dem klaren Herbsthimmel genossen. Und zum andern waren es die Europäer, die im Dämmerlicht ihrer Kathedralen die Brillianz und Schönheit der mittelalterlichen Glasmalerien bewundert haben." (S. 563-64)

Auch ein Blick auf die Farbholzschnitte des Ukiyo-e, der "fließenden Welt" mit ihren kräftigen Farblavierungen, die starken Färbungen des japanischen Porzellans oder der traditionellen Kleidungsstoffe dürften diese Zweifel eher bestärken. Noch stärker aber - und hier zeigt sich eine nette Volte - werden sie, wenn man einen Blick auf Tanizakis Bildungsgang wirft. Tanizaki studierte von 1908 bis 1911 an der Kaiserlichen Universität in Tokio Literatur, und zwar neben Englisch auch Deutsch. Viele der Dozenten, aber auch Studenten in höheren Semestern an diesem Fachbereich hatten oft mehrere Jahre in Deutschland studiert, zumeist in Heidelberg. Und ein Autor, der in jenen Kreisen genau in jenen Jahren zwischen 1900 und 1910, zumal in deutschtümelnden Kreisen, so etwas wie ein "Kultautor" war, hatte - freilich eben für den deutschen Bereich, eine Ästhetik entwickelt, die der, die Tanizakis im "Lob des Schattens" entfaltet, zum Verwechseln ähnlich sieht. Es handelt sich um Julius Langbehns 1890 zuerst erschienes Traktat Rembrandt als Erzieher. Auch dort findet sich die vehemente Ablehnung aller "modernistischer" Tendenzen, nicht nur in der Kunst, die überstarke Betonung des Nationalen, nicht vermittelbaren (und dem nicht Dazugehörigen prinzipiell unzugänglichen) ästhetischen Empfindens, der Ablehnung der "südlichen" Einflüsse (in Langbehns Fall der italienischen und französischen, in Tanizakis Fall der europäischen-allgemein), und das Festmachen eben dieses vermeintlichen Volkscharakters am bestimmten Merkmalen einer als "genuin eigenen" enpfundenen Kunst: nämlich Rembrandt, dessen Schattenwirkung, dunkle Verschwommenheit, Unbestimmheit und die wie Lichter aufscheinenden verlaufenden Farbflecken mitsamt der generellen Sepiatönung der Palette Langbehn als kongenialen Verkörperung des "Deutschen" in nicht nachlassenden Wendungen herausstrich. (Daß Langbehn Rembrandt van Rijn als "Deutschen" vereinnahmt, noch dazu als archetypischen, darf niemanden überraschen: in der nationalistischen, völkischen Sicht jener Jahre galten die Niederländer als "Norddeutsche", als Teil eines Kontinuums, das zumeist auch noch die skandinavischen Länder einschloß.)


("Rembrandt als Erzieher" - "Von einem Deutschen". Titelvorsatz der Erstausgabe)

Man sollte die Unterschiede nicht übersehen. Naturgemäß ist Tanizaki der vehemente Antisemitismus fremd, der das spätere Werk Langbehns entstellt, und ebenso fremd ist ihm die Aggressivität, die Langbehns übersteigerten Nationalismus kennzeichnet. Sein japanische Präferenz wendet sich nicht gegen "das Fremde", the Other, es setzt das Eigene nur als inkommensurabel daneben. Die aggressive militärische Expansion der "großjapanischen Ko-Prosperitätssphäre" der 1930er und 1940er Jahre widersprach seinem distanzierten, kontemplativen Naturell zutiefst; auch bei Tanizaki darf man durchaus, wie im Fall von Hans Carossa oder Wilhelm Lehmann, von einem "inneren Exil" sprechen.

Natürlich kann ich - wie es so oft im Fall der Literatur und gerade im Bereich der Anregungen und Ideenweitergabe zumeist der Fall ist - nicht "beweisen", daß meine Vermutung zutrifft. So wenig ich "nachweisen" kann, daß sich etwa Vladimir Nabokov von einem Roman George Simenon die stoffliche Vorgabe für Lolita genommen hat (sh. Georges Simenon, auteur du "Lolita") oder daß H. G. Wells im Jahr 1897 während der Magazinabdrucks seines Romans The War of the Worlds seine marsianischen Invasoren durch einen nachträglichen Korrektureinschub zur Vampiren gemacht hat, weil im Monat vor dem Beginn des Serienabdrucks in Pearson's Magazine, im März, Bram Stokers Dracula, or The Undead überraschend zu einem sensationellen Bestseller geworden war (die grelle, durch nichts vorbereitete Szene, in den die Marsianer die fliehenden Dorfbewohner in einen Schulhof treiben und ihre Opfer mit den Tentakeln in die Höhe reißen, um sie vor den Augen der entsetzten nächsten Opfer auszusaugen, erschien in der Juli-Ausgabe). Ich kann nur die Puzzleteile vorlegen und eine solche Anregung zu möglich erscheinen lassen. In Tanizakis Fall braucht man durchaus nicht "Plagiat!" zu rufen. Es könnte durchaus sein, daß er, wenn er, ob nun direkt oder aus zweiter Hand, von diesen Ideen erfahren hat, darin Parallelen zur japanischen Kunstgeschichte - so wie er sie interpretierte - erkannt hat. Dergleichen "kreative Mißverständnisse" sind in der Geschichte der Kunstausübung ja nicht selten. Die Kreation der Oper (jedenfalls der westlichen Spielart, nicht der Pekingoper) im siebzehnten Jahrhundert ging auf eine Fehlinterpretation des antiken griechischen Theaters und der Rolle des Chors darin zurück.

Aber die Idee, daß sich diese "japanischste aller Ästhetiken" sich einer vehement insularen zentraleuropäischen Obsession verdanken könnte, die Vermittelbarkeit in diesen Dingen als kategorisch unmöglich und verwerflich ansieht: das hat etwas, man muß es sagen, durchaus Charmantes.




U.E.


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