Der alte Mann in seiner orientalisch anmutenden Gewandung fiel Mr. Sladden, der seinen Lebensunterhalt im Kaufhaus von Messr. Mergin und Chater verdiente, deshalb auf, weil ihn ein Polizist weiterscheuchte, und wegen des Pakets, das er unter dem Arm trug.
Mr. Sladden hing der Ruf an, der geistesabwesendste Berufsanfänger in seinem Metier in ganz London zu sein; der kleinste Anlaß, der geringste Anklang an Romantik, an Fernweh und Abenteuer, brachte ihn zu träumen, und er blickte dann vor sich hin, als ob sich die Wände des Kaufhauses in Nebel auflösten und London ein Märchenland wäre, anstatt sich um die Wünsche der Kunden zu kümmern.
Schon die Tatsache, daß das Packet, der der alte Mann unter dem Arm trug, in schmutziges Packpapier gewickelt war, das mit arabischer Schrift bedeckt war, war für Mr. Sladden wie ein Versprechen von ungeahnten Abenteuern, und er folgte ihm, bis sich die kleine Menge, die der Zwischenfall angelockt hatte, zerstreut hatte und der alte Mann an einer Straßenecke anhielt, sein Paket auspackte und sich offenkundig anheischig machte, den Inhalt feilzubieten. Es handelte sich um ein kleines Fenster mit bleigefaßten Scheiben; es war nur gut einen Fuß breit und weniger als zwei Fuß hoch. Mr. Sladden hatte noch nie erlebt, daß jemand ein Fenster mitten auf der Straße zum Verkauf anbot, und fragte nach dem Preis.
"Der Preis ist: alles, was Sie besitzen," sagte der alte Mann.
"Wo haben Sie es bekommen?" fragte Mr. Sladden, denn es handelte sich um ein seltsames Fenster.
"Ich habe dafür alles, was ich besaß, auf den Straßen von Bagdad hergegeben."
"Und haben Sie vorher viel besessen?" fragte Mr. Sladden.
"Ich besaß alles, was ich mir wünschen konnte," war die Antwort, "außer diesem Fenster."
"Es muß ein besonderes Fenster sein," sagte der junge Mann.
"Es ist ein magisches Fenster," sagte der Alte.
"Ich habe nur zehn Shillinge bei mir, aber ich kann ihnen zuhause fünfzehn Shillinge und sechs Pence auszahlen."
Der alte Mann dachte kurz nach.
"Dann beträgt der Preis des Fensters fünfundzwanzig Shillinge und Sixpence."
Erst als der Handel abgeschlossen und die zehn Shillinge des Besitzer gewechselt und der alte Mann mit ihm auf dem Weg zu seinem Mietzimmer war, um seine fünfzehn Shilling und Sixpence abzuholen und sein magisches Fenster einzusetzen, kam es Mr. Sladden in den Sinn, daß er gar keinen Bedarf für ein neues Fenster hatte. Aber da waren sie schon an der Tür des Hauses angelangt, in dem Mr. Sladden sein kleines Zimmer gemietet hatte, und es schien ein bißchen spät, um den Handel rückgängig zu machen.
Der Fremde verlangte alleingelassen zu werden, während er das Fenster einsetzte, und so wartete Mr. Sladden oben auf dem Treppenabsatz vor der Tür. Er konnte kein Hämmern vernehmen.
Nach einer Weile verließ der merkwürdige alte Mann mit mit seinem ausgeblichenen gelben Umhang und seinem großen Bart und den Augen, die auf ferne Länder gerichtet schienen, das Zimmer. "Es ist fertig," sagte er, und er und der junge Mann verabschiedeten sich voneinander. Ob er weiterhin ein exotischer Farbtupfer im Londoner Gewühl war, wie aus der Zeit gefallen, oder ob er nach Bagdad zurückgekehrt war und welche undurchsichtigen Wege seine fünfundzwanzig Shillinge weiterhin nahmen, erfuhr Mr. Sladden nie.
Mr. Sladden betrat das Zimmer mit dem nackten Dielenboden, in dem er alle seine Stunden zwischen Ladenschluß und der Morgenstunde, zu der Messr. Mergin und Chater ihre Pforten öffneten, zubrachte. Sein sauberer und gebürsteter Gehrock mußte für die Laren und Penaten eines so schäbigen Zimmerchens eine beständige Quelle des Erstaunens darstellen. Mr. Sladden legte ihn ab und faltete ihn sorgfältig zusammen. Oben an der Wand hing das Fenster des Alten. In dieser Wand hatte es vorher kein Fenster gegeben; es hatte sich dort auch nichts sonst befunden außer dem kleinen Schränkchen, in dem Mr. Sladden sein Geschirr aufgewahrte. Das Fenster nahm jetzt dessen Platz ein; das Geschirr stand jetzt säuberlich auf dem Tisch aufgereiht. Als Mr. Sladden seinen Gehrock verstaut hatte, warf er einen Blick durch sein neues Fenster; es war ein später Sommerabend: die Schmetterlinge hatten ihre Flügel längst schon geschlossen, aber die Fledermäuse waren noch nicht unterwegs - aber das hier war London: die Läden waren schon geschlossen, aber die Straßenlaternen brannten noch nicht.
Mr. Sladden rieb sich die Augen, dann rieb er das Fensterglas - und er sah immer noch einen Himmel mit strahlendem Blau, und weit, weit unter sich - so weit unten, daß kein Laut bis nach hier oben drang oder den Rauch aus den Schornsteinen - eine mittelalterliche Stadt, die von einem Kranz von Türmen umgeben war. Braune Dächer und Gassen mit Kopfsteinpflaster, und dahinter weiße Stadtmauern und Bastionen, und jenseits davon grüne Felder und winzige Bäche. Auf den Wachtürmen hielten Bogenschützen Wacht, Männer mit Hellebarden patroullierten auf der Mauer, und ab und zu rollte ein Ochsengespann durch eine enge Gasse und ins Land hinaus, und ein Wagen näherte sich der Stadt aus den Nebeln, die mit dem einbrechenden Abend die Felder einhüllten. Manchmal wurde ein Kopf hinter einem Fenstergitter sichtbar; ein Troubadour stimmte ein Lied an; niemand schien in Eile oder voll Sorgen zu sein. Die ganze Szenerie wirkte fern und winzig; denn Mr. Sladden blickte auf größerer Höhe auf die Stadt hinab als je ein Wasserspeier vom Turm einer Kathedrale hinabgespäht hatte - aber eine Einzelheit konnte er als einen Hinweis ausmachen: die Banner, die über den Bogenschützen auf jedem Wachturm vom Wind bewegt wurden, trugen goldene Drachen in einem reinen weißen Feld.
Vor seinem anderen Fenster konnte er die Busse vorbeidröhnen hören und das Geschrei der Zeitungsjungen.
Von da an war Mr. Sladden bei seiner Arbeit im Kaufhaus vom Mergin und Chater noch verträumter und geistesabwesender. Nur in einem war er ganz bei der Sache: Er zog beständig Erkundigungen über Flaggen und Wappen ein, und er erzählte niemandem von seinem wundervollen Fenster. Er lernte alles über die Flaggen und Fahnen der Länder und Königreiche Europas; er beschäftigte sich sogar mit Geschichte, er besuchte Geschäfte, die sich mit Heraldik befaßten, aber es gelang ihm nicht, einen Hinweis auf ein Wappen mit einem Dragon or in einem Feld argent aufzutun. Es war, als ob diese goldenen Drachen ganz für ihn allein im Wind geweht hätten; er schloß sie in sein Herz wie jemand in der Verbannung in der Wüste die Lilien seiner Heimat oder wie ein Kranker die Schwalben, wenn er weiß, daß es für ihn keinen weiteren Frühling geben wird.
Sobald Messrs. Mergin und Chater schlossen, kehrte Mr. Sladden in sein ärmliches Zimmerchen zurück und saß vor dem wundervollen Fenster, bis es in der Stadt dunkel wjurde und der Nachtwächter mit seiner Laterne seine Runde drehte und die Nacht sich wie ein samtenes Tuch voller fremder Sterne über sie legte. Einmal versuchte er, einen Hinweis darauf, wo sich die Stadt befinden mochte, zu erhalten, indem er die Formen der Sternbilder aufzeichnete, aber das brachte ihn nicht weiter, denn sie glichen in keiner Weise denen unseres Nachthimmels.
Jeden Morgen, sobald er erwachte, setzte er sich als erstes vor das wunderbare Fenster. Da lag die Stadt vor ihm, winzig klein in der Ferne, im Frühlicht leuchtend, die goldenen Drachen tanzten im Sonnenschein, die Bogenschützen streckten sich und schwangen ihre Arme im Wind oben auf den Türmen. Das Fenster ließ sich nicht öffnen, so daß er nicht hören konnte, welche Lieder die Troubadore unter den geputzten Balkonen anstimmten, oder die Glocken in den Türmen; aber er konnte zu jeder vollen Stunde sehen, wie die Elstern in Schwärmen aufgescheucht emporstiegen. Das erste, wonach er Ausschau hielt, waren die kleinen Türme, die sich über der Stadtmauer erhoben, um nach den kleinen goldenen Drachen zu sehen, die dort auf den Bannern wehte. Und wenn er gesehen hatte, wie sie dort auf dem weißen Feld vor dem leuchtenden tiefen Blau des Himmels flatterten, kleidete er sich zufrieden an, war einen letzten Blick durch das Fenster und begab sich an seine Arbeit, während seine Phantasie glühte. Die Kunden bei Mergin und Chater konnten nicht sich nicht ausmalen, was er im Geist vorstellte, während er sie in seinem Gehrock zu den Regalen führte: er kam sich vor wie ein Herold oder ein Bogenschütze im Dienst eines unbekannten Königs, der im Namen einer uneinnehmbaren Stadt für die goldenen Drachen stritt, die auf einem weißen Banner wehten. Zunächst war sich Mr. Sladden bei jedem Gang über die ärmliche Gasse, in der er wohnte, so vorgekommen, aber er merkte bald, daß die Winde, die unter seinem wunderbaren Fenster wehten, durchaus andere waren als die vor seiner Haustür.
Im August begannen die Tage kürzer zu werden; das waren genau die Worte, die die anderen Angestellten ihm gegenüber verwendeten, und Mr. Sladden fürchtete, sie könnten hinter sein Geheimnis gekommen sein. Ihm blieb jetzt weniger Zeit vor seinem wunderbaren Fenster, denn es gab nur wenige Laternen dort unten in der Stadt und sie wurden früh gelöscht.
Eines Morgens Ende August, gerade bevor er zur Arbeit ging, sah Mr. Sladden einen Trupp Hellebardiere die Gassen zum Stadttor laufen - zum Tor der Goldenen Drachenstadt, wie er sie für sich nannte, obwohl er nie mit jemandem sonst darüber redete. Als nächstes bemerkte er, daß die Bogenschützen auf den Wachtürmen viel miteinander beratschlagten und dicke Bündel mit Pfeilen untereinander verteilten, zusätzlich zu den Köchern, die sie auf dem Rücken trugen. An den Fenstern zeigten sich mehr Köpfe als üblich; eine Frau lief auf die Gasse hinaus und rief die Kinder ins Haus; ein Ritter ritt die Straße entlang, noch mehr Hellebardiere bemannten die Stadtmauern und die Elstern flatterten in Schwärmen durch die Luft. Auf den Straßen sang kein Troubadour. Mr. Sladden warf einen letzten Blick auf die Türme, um sicherzugehen, daß die Banner wehten und alle goldenen Drachen im Wind flatterten. Dann mußte er zur Arbeit eilen. Am Abend nahm er einen Bus zurück und hastete die Treppe empor. In der Goldenen Drachenstadt schien völlige Ruhe zu herrschen, in der Straße, die zum Stadttor führte, hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Die Bogenschützen schienen sich wie üblich auszuruhen; dann trudelte ein weißes Banner mit all seinen goldenen Drachen in die Tiefe; erst nach einer Weile fiel ihm auf, daß sie alle tot waren. Die Menge strömte in seine Richtung, auf die hohe Mauer zu, von der er in die Tiefe schaute; Männer, die um ein weißes Banner mit goldenen Drachen geschart waren, wurden langdam zurückgedrängt; Männer mit einem anderen Banner, auf dem ein roter Bär zu sehen war, gewannen an Boden. Auf einem anderen Turm sank eine weitere Flagge in die Tiefe. Und dan wurde ihm alles klar: die goldenen Drachen verloren - seine kleinen goldenen Drachen. Die Männer mit dem roten Bären waren unter seinem Fenster angelangt. Alles, womit er sie aus dieser Höhe bewerfen würde, würde sie mit großer Wucht treffen: sein Schürhaken, die Kohlen, seine Kaminuhr, alles, was er besaß - er würde für seine goldenen Drachen kämpfen. Flammen begannen aus einem der Wachtürme zu schlagen und versengten die Beine eines Bogenschützen, der dort lag - er rührte sich nicht. Und jetzt geriet das rote Banner direkt unter dem Fenster außer Sicht. Mr. Sladden schlug die Scheiben des Fensters ein und riß mit seinem Schürhaken die Bleieinfassungen heraus, die sie hielten. Als das Glas zersprang, sah er noch ein Banner mit goldenen Drachen wehen, und als er mit dem Haken ausholte, um ihn hinunterzuwerfen, drang der Geruch exotischer Düfte zu ihm - und dann nichts mehr, nicht einmal das Tageslicht, denn hinter den Trümmern des wunderbaren Fensters befand sich nur der kleine Wandschrank, in dem er sein Geschirr aufbewahrt hatte.
Und obwohl Mr. Sladden jetzt älter geworden ist und etwas mehr von der Welt weiß, und sogar ein eigenes Geschäft betreibt, ist es ihm nie gelungen, wieder ein solches Fenster zu erstehen, und nie ist es ihm gelungen, Weiteres von der Goldenen Drachenstadt in Erfahrung zu bringen - weder aus Büchern noch den Berichten seiner Mitmenschen.
* * *
"The Wonderful Window" erschien zuerst in der Zeitschrift Saturday Review vom 4. Februar 1911 und in Buchform in The Book of Wonder bei Londoner Verlag William Heinemann im November 1912.
Der alte Mann in seiner orientalisch anmutenden Gewandung fiel Mr. Sladden, der seinen Lebensunterhalt im Kaufhaus von Messr. Mergin und Chater verdiente, deshalb auf, weil ihn ein Polizist weiterscheuchte, und wegen des Pakets, das er unter dem Arm trug.
Mr. Sladden hing der Ruf an, der geistesabwesendste Berufsanfänger in seinem Metier in ganz London zu sein; der kleinste Anlaß, der geringste Anklang an Romantik, an Fernweh und Abenteuer, brachte ihn zu träumen, und er blickte dann vor sich hin, als ob sich die Wände des Kaufhauses in Nebel auflösten und London ein Märchenland wäre, anstatt sich um die Wünsche der Kunden zu kümmern.
Schon die Tatsache, daß das Packet, der der alte Mann unter dem Arm trug, in schmutziges Packpapier gewickelt war, das mit arabischer Schrift bedeckt war, war für Mr. Sladden wie ein Versprechen von ungeahnten Abenteuern, und er folgte ihm, bis sich die kleine Menge, die der Zwischenfall angelockt hatte, zerstreut hatte und der alte Mann an einer Straßenecke anhielt, sein Paket auspackte und sich offenkundig anheischig machte, den Inhalt feilzubieten. Es handelte sich um ein kleines Fenster mit bleigefaßten Scheiben; es war nur gut einen Fuß breit und weniger als zwei Fuß hoch. Mr. Sladden hatte noch nie erlebt, daß jemand ein Fenster mitten auf der Straße zum Verkauf anbot, und fragte nach dem Preis.
"Der Preis ist: alles, was Sie besitzen," sagte der alte Mann.
"Wo haben Sie es bekommen?" fragte Mr. Sladden, denn es handelte sich um ein seltsames Fenster.
"Ich habe dafür alles, was ich besaß, auf den Straßen von Bagdad hergegeben."
"Und haben Sie vorher viel besessen?" fragte Mr. Sladden.
"Ich besaß alles, was ich mir wünschen konnte," war die Antwort, "außer diesem Fenster."
"Es muß ein besonderes Fenster sein," sagte der junge Mann.
"Es ist ein magisches Fenster," sagte der Alte.
"Ich habe nur zehn Shillinge bei mir, aber ich kann ihnen zuhause fünfzehn Shillinge und sechs Pence auszahlen."
Der alte Mann dachte kurz nach.
"Dann beträgt der Preis des Fensters fünfundzwanzig Shillinge und Sixpence."
Erst als der Handel abgeschlossen und die zehn Shillinge des Besitzer gewechselt und der alte Mann mit ihm auf dem Weg zu seinem Mietzimmer war, um seine fünfzehn Shilling und Sixpence abzuholen und sein magisches Fenster einzusetzen, kam es Mr. Sladden in den Sinn, daß er gar keinen Bedarf für ein neues Fenster hatte. Aber da waren sie schon an der Tür des Hauses angelangt, in dem Mr. Sladden sein kleines Zimmer gemietet hatte, und es schien ein bißchen spät, um den Handel rückgängig zu machen.
Der Fremde verlangte alleingelassen zu werden, während er das Fenster einsetzte, und so wartete Mr. Sladden oben auf dem Treppenabsatz vor der Tür. Er konnte kein Hämmern vernehmen.
Nach einer Weile verließ der merkwürdige alte Mann mit mit seinem ausgeblichenen gelben Umhang und seinem großen Bart und den Augen, die auf ferne Länder gerichtet schienen, das Zimmer. "Es ist fertig," sagte er, und er und der junge Mann verabschiedeten sich voneinander. Ob er weiterhin ein exotischer Farbtupfer im Londoner Gewühl war, wie aus der Zeit gefallen, oder ob er nach Bagdad zurückgekehrt war und welche undurchsichtigen Wege seine fünfundzwanzig Shillinge weiterhin nahmen, erfuhr Mr. Sladden nie.
Mr. Sladden betrat das Zimmer mit dem nackten Dielenboden, in dem er alle seine Stunden zwischen Ladenschluß und der Morgenstunde, zu der Messr. Mergin und Chater ihre Pforten öffneten, zubrachte. Sein sauberer und gebürsteter Gehrock mußte für die Laren und Penaten eines so schäbigen Zimmerchens eine beständige Quelle des Erstaunens darstellen. Mr. Sladden legte ihn ab und faltete ihn sorgfältig zusammen. Oben an der Wand hing das Fenster des Alten. In dieser Wand hatte es vorher kein Fenster gegeben; es hatte sich dort auch nichts sonst befunden außer dem kleinen Schränkchen, in dem Mr. Sladden sein Geschirr aufgewahrte. Das Fenster nahm jetzt dessen Platz ein; das Geschirr stand jetzt säuberlich auf dem Tisch aufgereiht. Als Mr. Sladden seinen Gehrock verstaut hatte, warf er einen Blick durch sein neues Fenster; es war ein später Sommerabend: die Schmetterlinge hatten ihre Flügel längst schon geschlossen, aber die Fledermäuse waren noch nicht unterwegs - aber das hier war London: die Läden waren schon geschlossen, aber die Straßenlaternen brannten noch nicht.
Mr. Sladden rieb sich die Augen, dann rieb er das Fensterglas - und er sah immer noch einen Himmel mit strahlendem Blau, und weit, weit unter sich - so weit unten, daß kein Laut bis nach hier oben drang oder den Rauch aus den Schornsteinen - eine mittelalterliche Stadt, die von einem Kranz von Türmen umgeben war. Braune Dächer und Gassen mit Kopfsteinpflaster, und dahinter weiße Stadtmauern und Bastionen, und jenseits davon grüne Felder und winzige Bäche. Auf den Wachtürmen hielten Bogenschützen Wacht, Männer mit Hellebarden patroullierten auf der Mauer, und ab und zu rollte ein Ochsengespann durch eine enge Gasse und ins Land hinaus, und ein Wagen näherte sich der Stadt aus den Nebeln, die mit dem einbrechenden Abend die Felder einhüllten. Manchmal wurde ein Kopf hinter einem Fenstergitter sichtbar; ein Troubadour stimmte ein Lied an; niemand schien in Eile oder voll Sorgen zu sein. Die ganze Szenerie wirkte fern und winzig; denn Mr. Sladden blickte auf größerer Höhe auf die Stadt hinab als je ein Wasserspeier vom Turm einer Kathedrale hinabgespäht hatte - aber eine Einzelheit konnte er als einen Hinweis ausmachen: die Banner, die über den Bogenschützen auf jedem Wachturm vom Wind bewegt wurden, trugen goldene Drachen in einem reinen weißen Feld.
Vor seinem anderen Fenster konnte er die Busse vorbeidröhnen hören und das Geschrei der Zeitungsjungen.
Von da an war Mr. Sladden bei seiner Arbeit im Kaufhaus vom Mergin und Chater noch verträumter und geistesabwesender. Nur in einem war er ganz bei der Sache: Er zog beständig Erkundigungen über Flaggen und Wappen ein, und er erzählte niemandem von seinem wundervollen Fenster. Er lernte alles über die Flaggen und Fahnen der Länder und Königreiche Europas; er beschäftigte sich sogar mit Geschichte, er besuchte Geschäfte, die sich mit Heraldik befaßten, aber es gelang ihm nicht, einen Hinweis auf ein Wappen mit einem Dragon or in einem Feld argent aufzutun. Es war, als ob diese goldenen Drachen ganz für ihn allein im Wind geweht hätten; er schloß sie in sein Herz wie jemand in der Verbannung in der Wüste die Lilien seiner Heimat oder wie ein Kranker die Schwalben, wenn er weiß, daß es für ihn keinen weiteren Frühling geben wird.
Sobald Messrs. Mergin und Chater schlossen, kehrte Mr. Sladden in sein ärmliches Zimmerchen zurück und saß vor dem wundervollen Fenster, bis es in der Stadt dunkel wjurde und der Nachtwächter mit seiner Laterne seine Runde drehte und die Nacht sich wie ein samtenes Tuch voller fremder Sterne über sie legte. Einmal versuchte er, einen Hinweis darauf, wo sich die Stadt befinden mochte, zu erhalten, indem er die Formen der Sternbilder aufzeichnete, aber das brachte ihn nicht weiter, denn sie glichen in keiner Weise denen unseres Nachthimmels.
Jeden Morgen, sobald er erwachte, setzte er sich als erstes vor das wunderbare Fenster. Da lag die Stadt vor ihm, winzig klein in der Ferne, im Frühlicht leuchtend, die goldenen Drachen tanzten im Sonnenschein, die Bogenschützen streckten sich und schwangen ihre Arme im Wind oben auf den Türmen. Das Fenster ließ sich nicht öffnen, so daß er nicht hören konnte, welche Lieder die Troubadore unter den geputzten Balkonen anstimmten, oder die Glocken in den Türmen; aber er konnte zu jeder vollen Stunde sehen, wie die Elstern in Schwärmen aufgescheucht emporstiegen. Das erste, wonach er Ausschau hielt, waren die kleinen Türme, die sich über der Stadtmauer erhoben, um nach den kleinen goldenen Drachen zu sehen, die dort auf den Bannern wehte. Und wenn er gesehen hatte, wie sie dort auf dem weißen Feld vor dem leuchtenden tiefen Blau des Himmels flatterten, kleidete er sich zufrieden an, war einen letzten Blick durch das Fenster und begab sich an seine Arbeit, während seine Phantasie glühte. Die Kunden bei Mergin und Chater konnten nicht sich nicht ausmalen, was er im Geist vorstellte, während er sie in seinem Gehrock zu den Regalen führte: er kam sich vor wie ein Herold oder ein Bogenschütze im Dienst eines unbekannten Königs, der im Namen einer uneinnehmbaren Stadt für die goldenen Drachen stritt, die auf einem weißen Banner wehten. Zunächst war sich Mr. Sladden bei jedem Gang über die ärmliche Gasse, in der er wohnte, so vorgekommen, aber er merkte bald, daß die Winde, die unter seinem wunderbaren Fenster wehten, durchaus andere waren als die vor seiner Haustür.
Im August begannen die Tage kürzer zu werden; das waren genau die Worte, die die anderen Angestellten ihm gegenüber verwendeten, und Mr. Sladden fürchtete, sie könnten hinter sein Geheimnis gekommen sein. Ihm blieb jetzt weniger Zeit vor seinem wunderbaren Fenster, denn es gab nur wenige Laternen dort unten in der Stadt und sie wurden früh gelöscht.
Eines Morgens Ende August, gerade bevor er zur Arbeit ging, sah Mr. Sladden einen Trupp Hellebardiere die Gassen zum Stadttor laufen - zum Tor der Goldenen Drachenstadt, wie er sie für sich nannte, obwohl er nie mit jemandem sonst darüber redete. Als nächstes bemerkte er, daß die Bogenschützen auf den Wachtürmen viel miteinander beratschlagten und dicke Bündel mit Pfeilen untereinander verteilten, zusätzlich zu den Köchern, die sie auf dem Rücken trugen. An den Fenstern zeigten sich mehr Köpfe als üblich; eine Frau lief auf die Gasse hinaus und rief die Kinder ins Haus; ein Ritter ritt die Straße entlang, noch mehr Hellebardiere bemannten die Stadtmauern und die Elstern flatterten in Schwärmen durch die Luft. Auf den Straßen sang kein Troubadour. Mr. Sladden warf einen letzten Blick auf die Türme, um sicherzugehen, daß die Banner wehten und alle goldenen Drachen im Wind flatterten. Dann mußte er zur Arbeit eilen. Am Abend nahm er einen Bus zurück und hastete die Treppe empor. In der Goldenen Drachenstadt schien völlige Ruhe zu herrschen, in der Straße, die zum Stadttor führte, hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Die Bogenschützen schienen sich wie üblich auszuruhen; dann trudelte ein weißes Banner mit all seinen goldenen Drachen in die Tiefe; erst nach einer Weile fiel ihm auf, daß sie alle tot waren. Die Menge strömte in seine Richtung, auf die hohe Mauer zu, von der er in die Tiefe schaute; Männer, die um ein weißes Banner mit goldenen Drachen geschart waren, wurden langdam zurückgedrängt; Männer mit einem anderen Banner, auf dem ein roter Bär zu sehen war, gewannen an Boden. Auf einem anderen Turm sank eine weitere Flagge in die Tiefe. Und dan wurde ihm alles klar: die goldenen Drachen verloren - seine kleinen goldenen Drachen. Die Männer mit dem roten Bären waren unter seinem Fenster angelangt. Alles, womit er sie aus dieser Höhe bewerfen würde, würde sie mit großer Wucht treffen: sein Schürhaken, die Kohlen, seine Kaminuhr, alles, was er besaß - er würde für seine goldenen Drachen kämpfen. Flammen begannen aus einem der Wachtürme zu schlagen und versengten die Beine eines Bogenschützen, der dort lag - er rührte sich nicht. Und jetzt geriet das rote Banner direkt unter dem Fenster außer Sicht. Mr. Sladden schlug die Scheiben des Fensters ein und riß mit seinem Schürhaken die Bleieinfassungen heraus, die sie hielten. Als das Glas zersprang, sah er noch ein Banner mit goldenen Drachen wehen, und als er mit dem Haken ausholte, um ihn hinunterzuwerfen, drang der Geruch exotischer Düfte zu ihm - und dann nichts mehr, nicht einmal das Tageslicht, denn hinter den Trümmern des wunderbaren Fensters befand sich nur der kleine Wandschrank, in dem er sein Geschirr aufbewahrt hatte.
Und obwohl Mr. Sladden jetzt älter geworden ist und etwas mehr von der Welt weiß, und sogar ein eigenes Geschäft betreibt, ist es ihm nie gelungen, wieder ein solches Fenster zu erstehen, und nie ist es ihm gelungen, Weiteres von der Goldenen Drachenstadt in Erfahrung zu bringen - weder aus Büchern noch den Berichten seiner Mitmenschen.
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"The Wonderful Window" erschien zuerst in der Zeitschrift Saturday Review vom 4. Februar 1911 und in Buchform in The Book of Wonder bei Londoner Verlag William Heinemann im November 1912.
U.E.
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