28. Juli 2020

魯迅 《鴨的喜劇》 / Lu Xun, "Eine Entenkomödie" (1922)

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 (Lu Xun. Holzschnitt von Li Qun, 1936)



俄國的盲詩人愛羅先珂君帶了他那六弦琴到北京之後不久,便向我訴苦說:
「寂寞呀,寂寞呀,在沙漠上似的寂寞呀!」 這應該是真實的,但在我卻未曾感得;我住得久了,「入芝蘭之室,久而不聞其香」,只以為很是嚷嚷罷了。然而我之所謂嚷嚷,或者也就是他之所謂寂寞罷。
我可是覺得在北京彷彿沒有春和秋。老於北京的人說,地氣北轉了,這裡在先是沒有這麼和暖。只是我總以為沒有春和秋;冬末和夏初銜接起來,夏才去,冬又開始了。
一日就是這冬末夏初的時候,而且是夜間,我偶而得了閒暇,去訪問愛羅先珂君。他一向寓在仲密君的家裡;這時一家的人都睡了覺了,天下很安靜。他獨自靠在自己的臥榻上,很高的眉棱在金黃色的長髮之間微蹙了,是在想他舊遊之地的緬甸,緬甸的夏夜。
「這樣的夜間,」他說,「在緬甸是遍地是音樂。房裡,草間,樹上,都有昆蟲吟叫,各種聲音,成為合奏,很神奇。其間時時夾著蛇鳴:'嘶嘶!'可是也與蟲聲相和協……」他沉思了,似乎想要追想起那時的情景來。
我開不得口。這樣奇妙的音樂,我在北京確乎未曾聽到過,所以即使如何愛國,也辯護不得,因為他雖然目無所見,耳朵是沒有聾的。
「北京卻連蛙鳴也沒有……」他又嘆息說。
「蛙鳴是有的!」這嘆息,卻使我勇猛起來了,於是抗議說,「到夏天,大雨之後,你便能聽到許多蝦蟆叫,那是都在溝裡面的,因為北京到處都有溝。」
「哦……」
過了幾天,我的話居然證實了,因為愛羅先珂君已經買到了十幾個蝌蚪子。他買來便放在他窗外的院子中央的小池裡。那池的長有三尺,寬有二尺,是仲密所掘,以種荷花的荷池。從這荷池裡,雖然從來沒有見過養出半朵荷花來,然而養蝦蟆卻實在是一個極合式的處所。
蝌蚪成群結隊的在水裡面游泳;愛羅先珂君也常常踱來訪他們。有時候,孩子告訴他說,「愛羅先珂先生,他們生了腳了。」他便高興的微笑道,「哦!」
然而養成池沼的音樂家卻只是愛羅先珂君的一件事。他是向來主張自食其力的,常說女人可以畜牧,男人就應該種田。所以遇到很熟的友人,他便要 勸誘他就在院子裡種白菜;也屢次對仲密夫人勸告,勸伊養蜂,養雞,養豬,養牛,養駱駝。後來仲密家果然有了許多小雞,滿院飛跑,啄完了鋪地錦的嫩葉,大約 也許就是這勸告的結果了。
從此賣小雞的鄉下人也時常來,來一回便買幾隻,因為小雞是容易積食,發痧,很難得長壽的;而且有一匹還成了愛羅先珂君在北京所作唯一的小說 《小雞的悲劇》裡的主人公。有一天的上午,那鄉下人竟意外的帶了小鴨來了,咻咻的叫著;但是仲密夫人說不要。愛羅先珂君也跑出來,他們就放一個在他兩手 裡,而小鴨便在他兩手裡咻咻的叫。他以為這也很可愛,於是又不能不買了,一共買了四個,每個八十文。
小鴨也誠然是可愛,遍身松花黃,放在地上,便蹣跚的走,互相招呼,總是在一處。大家都說好,明天去買泥鰍來餵他們罷。愛羅先珂君說,「這錢也可以歸我出的。」
他於是教書去了;大家也走散。不一會,仲密夫人拿冷飯來餵他們時,在遠處已聽得潑水的聲音,跑到一看,原來那四個小鴨都在荷池裡洗澡了,而 且還翻觔鬥,吃東西呢。等到攔他們上了岸,全池已經是渾水,過了半天,澄清了,只見泥裡露出幾條細藕來;而且再也尋不出一個已經生了腳的蝌蚪了。
「伊和希珂先,沒有了,蝦蟆的兒子。」傍晚時候,孩子們一見他回來,最小的一個便趕緊說。
「唔,蝦蟆?」
仲密夫人也出來了,報告了小鴨吃完蝌蚪的故事。
「唉,唉!……」他說。
待到小鴨褪了黃毛,愛羅先珂君卻忽而渴唸著他的「俄羅斯母親」了,便匆匆的向赤塔去。
待到四處蛙鳴的時候,小鴨也已經長成,兩個白的,兩個花的,而且不復咻咻的叫,都是「鴨鴨」的叫了。荷花池也早已容不下他們盤桓了,幸而仲密的住家的地勢是很低的,夏雨一降,院子裡滿積了水,他們便欣欣然,游水,鑽水,拍翅子,「鴨鴨」的叫。
現在又從夏末交了冬初,而愛羅先珂君還是絕無消息,不知道究竟在那裡了。
只有四個鴨,卻還在沙漠上「鴨鴨」的叫。
一九二二年十月


*          *          *

Lu Xun, "Eine Entenkomödie"

Nicht lange, nachdem der blinde russische Dichter Jeroschenko (1) mit seiner Balalaika nach Bejing gekommen war, beklagte er sich bei mir: "Hier ist es einsam! So einsam - wie in der Wüste!"

Vielleicht hatte er damit recht; aber ich habe es nie so empfunden. Ich habe zu lange hier gelebt; wenn man sich zu lange in einem Zimmer voller Iris und Orchideen (2) aufhält, riecht man ihren Duft nicht mehr. Für mich war die Stadt stets voller tosendem Lärm; gut möglich, daß wir mit "Lärm" und "Einsamkeit" dasselbe meinen.

Ich habe aber den Eindruck, daß es in Beijing weder Frühling noch Herbst gibt. Ältere Einwohner haben mir erzählt, daß sich das Klima erwärmt hat und daß es hier früher nicht so warm war. (*) Mir schien es immer so, daß hier weder Frühling noch Herbst stattfinden. Das Ende des Winters und der Sommeranfang fallen zusammen, und wenn der Sommer endet, herrscht wieder Winter.

Eines Abends, als der Winter sich anschickte, zu enden und der Sommer vor der Tür stand, statte ich Jeroschenko einen Besuch ab. Er wohnte seit seiner Ankunft im Haus meines Bruders Zuoren. Die ganze Familie schlief schon, und die Welt war still. Jeroschenko saß zurückgelehnt auf seinem Bett; seine hochgezogenen Augenbrauen verschwanden fast unter seinen langen blonden Stirnfransen, und erging in in Erinnerungen an Burma, wo er vorher gelebt hatte, und an die Sommernächte dort.

"Solche Nächte...," sagte er. "Ganz Burma war von Musik erfüllt. Im Haus, im Gras, in den Bäumen lärmten die Insekten - es war wie ein Orchester, und es war magisch. Dazu kam das Zischen der Schlangen - sss!, sss! - und es bildete eine Harmonie mit dem Insektenlärm." Es versank in Gedanken, als wollte er sich die Szene möglichst lebhaft in Erinnerung rufen.

Ich wußte nicht, was ich entgegnen sollte. Ich hatte dergleichen wundervolle Musik in Beijing nie gehört und konnte deshalb nichts dagegen setzen, egal wie vaterlandsliebend ich auch war. Unser Freund ist zwar blind, aber er hört ausgezeichnet.

"In Beijing hört man nicht einmal Frösche quaken!" Er seufzte erneut.

"Doch, man hört sie!" Dieser Seufzer war wie eine Herausforderung, und ich widersprach heftig. "Im Sommer, nach heftigen Regengüssen, kann man überall die Frösche rufen hören, aus jedem Graben, im ganzen Stadtgebiet."

"Ach..?"

Ein paar Tage später erwiesen sich meine Worte als prophetisch, denn Jeroschenko erstand ein gutes Dutzend Kaulquappen. Er kaufte sie und setzte sie in den kleinen Teich im Hof vor seinem Fenster. Dieser Teich mißt gute zwei mal drei Fuß; Zuoren hat ihn angelegt, um dort Lotus anzupflanzen. Ich habe dort nie eine einzige Lotusblüte gesehen, aber um Frösche zu züchten, eignet er sich ganz ausgezeichnet.

Die Kaulquappen schwammen als Schwarm durch das Wasser. Jeroschenko besuchte sie oft. Manchmal sagte eines der Kinder zu ihm: "Herr Jeroschenko, ihnen sind Beine gewachsen." Dann lächelte er glücklich und sagte: "Ach...!"

Freilich war die Aufzucht von Musikern im Teich nur eins von Jeroschenkos Steckenpferden. Er hat sich immer für die Selbstversorgung eingesetzt, er sprach oft davon, daß sich die Männer um die Feldarbeit und die Frauen um die Tier kümmern sollten. Jedesmal, wenn er einen guten Bekannten traf, versuchte er ihn davon zu überzeugen, im Haushof Kohl anzubauen. Und er versuchte häufig, Zuorens Frau zu überreden, Bienen, Hühner, Schweine, Kühe und Kamele zu halten. Nach einiger Zeit schaffte sich Zuorens Familie tatsächlich eine Menge Hühner an, die durch den gesamten Hof liefen und die Pflanzen zerpickten; gut möglich, daß das eine Folge dieser Ratschläge war.

Von da an kamen die Bauern, die Hühner verkauften, oft bei uns vorbei und kauften ein paar davon. Hühner besitzen eine empfindliche Verdauung, sie fressen oft das Falsche und werden in der Regel nicht alt. Eines davon wurde zur Hauptperson in der einzigen Geschichte, die Jeroschenko in seiner Zeit in Beijing schrieb, "Die Tragödie des Huhns." Eines Morgens hatte einer der Bauern unverhofft ein paar Entenküken dabei, die laut piepten. Zuorens Frau war schon dabei, ihn wegzuschicken, als Jeroschenko aus dem Haus gelaufen kam. Der Bauer setzte ihm eines der Küken in die zusammengelgten Hände, wo es laut piepste.  Er war hingerissen und mußte es unbedingt kaufen. Insgesamt erstand er vier Küken, zum Preis von je achtzig Wen. (3)

Die kleinen Entlein waren tatsächlich unwiderstehlich, wie sie in ihrem gelben Flaum über den Boden wackelten, stets beieinander blieben und sich etwas zupiepsten. Alle entschieden, daß jemand am nächsten Tag zum Markt gehen und Fischmehl besorgen sollte, um sie zu füttern. Herr Jeroschenko sagte: "Das Geld dafür zahle ich."

Dann ging er los, um Unterricht zu geben; die anderen gingen auch wieder an ihre Arbeit. Als Zuorens Frau nach einer Weile wieder nach draußen kam, um sie mit etwas übriggebliebenem Reis zu füttern, hörte etwas im Wasser planschen und spritzen. Asl sie nachsah, stellte es sich heraus, daß die vier Entlein ein Bad im Lotusteich nahmen, gründelten und wohl nach Futter suchten. Als sie endlich wieder herauskamen, war das gesamte Wasser schlammig aufgewühlt. Als es sich endlich wieder geklärt hatte, waren nur noch ein paar dünne Lotoswurzeln zu sehen; von den Kaulquappen, die Beine bekommen hatten, gab es keine Spur mehr.

"Herr Scherenschenker, die Froschkinder sind alle fort!" sagte das jüngste der Kinder zu ihm, als es ihn am Abend heimkommen sah. (4)

"Was, die Kaulquappen!"

Zuorens Frau kam auch nach draußen und erzählte ihm, wie die Enten die Kaulquappen gefressen hatten.

"Ach, ach...," sagte er.

Als die Entlein ihren gelben Flaum verloren hatten, war Jeroschenko schon von der Sehnsucht nach "Mütterchen Russland" ergriffen worden und hatte sich eilig nach Tschita aufgemacht.

Als die Frösche überall zu lärmen begannen, waren die Enten ausgewachsen - zwei mit weißem Geider und zwei mit gesprenkeltem, und ihr Piepsen war zu richtigem Entengeschnatter geworden. Der Lotosteich war ihnen längst zu klein geworden. Glücklicherweise liegt Zuorens Haus sehr tief. Sobald die Sommerregen einsetzten und der Hof überschwemmt war, freuten sie sich, planschten, gründelten, schlugen mit den Flügeln und quakten  (5) ausgiebig.

Jetzt ist der Sommer zu Ende, der Winter beginnt, und wir haben noch immer keine Nachrichten von Herrn Jeroschenko. Ich weiß nicht, wo er sich jetzt aufhält.

Aber die vier Enten schnattern immer noch, hier, mitten in unserer Wüste.
(Oktober 1922)



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鴨的喜劇, "Yā de xǐjù" gehört zu den drei kleinen Texten, die Lu Xun im Oktober 1922 bei Vorbereitung für die Drucklegung seines ersten Erzählungsbandes verfaßte, die den vorher in Zeitschriften und Magazinen erschienenen "größeren" Texten, darunter so zentralen Erzählungen wie "Tagebuch eines Wahnsinnigen," "Die wahre Geschichte des Ah Q" und "Die Medizin" beigefügt wurden, der im August 1923 im Beijinger Verlag 新潮社, Xinchaoshe (etwa "Verlag 'Neue Welle'") als seine erste Buchveröffentlichung unter dem Titel 吶喊, "Weckrufe," veröffentlicht wurde.


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Anmerkungen:

1. Wassili Jakowlewitsch Jeroschenko (Василий Яковлевич Ерошенко; 1890-1952), hier als 愛羅先珂 (àiluóxiānkē) transliteriert, russischer Autor, Esperantist und Anarchist.

2. Nach der antiken griechischen Philosophie können die Sterblichen bekanntlich die Harmonie der Sphären nicht hören, weil sie sie in jedem Augenblick ihres Lebens gehört haben. "Iris, Orchideen," 芝兰, stehen als Metapher neben ihrer wörtlichen Bedeutung auch für "wohlhabend, kultiviert"; ein Zimmer voller Iris und Orchideen, 芝兰之室 (zhīlán zhī shì),  auch für "in wohlhabender, angemehmer Gesellschaft."

3. Wén, 文, im Englischen "Cash", im Deutschen "Käsch" genannt, bis zur Einführung des Yuan Ende des 19. Jahrhunderts die gängige chinesische Währungseinheit; die Münzen (Kupfer und Silber) wurden zumeist als 1-Wén-Münzen, aber auch im Wert von 4, 5, 10, 50, 100, 200, 500 und 1000 geprägt; nach der Einführung des Yuen wurden sie in Höhe von 1, 2, 5, 10 und 20 Wén ausgegeben. Das Papiergeld, das in China zwischen dem 9. und 14. Jahrhundert gedruckt wurde, zeigte Darstellungen solcher Münzen; bei höheren Beträgen zu zehn Münzen an einer Schnur aufgereiht.

4. "Herr Scherenschenker" Der Kindermund verballhornisiert hier 愛羅先珂 (àiluó xiānkē) zu 伊和希珂 (yī héxī kē), was seinen Bestandteilen nach, zwar als "Er und der erwünschte Jadestein" gelesen werden könnte, aber eben ein Beispiel für einen Verhörer nach Art des "Weißen N***r Wumbaba" darstellt.




5. "quaken". Im Original "rufen sie: "Ente, Ente'," 鴨鴨 (yā yā) . Die Wendung "melden sie sich mit 'Ente hier'" schien mir zu unidiomatisch.

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Als Arno Schmidt, Namenspate und Schutzpatron dieses Tagetagebuchs, im September 1955 reichlich fluchtartig aus dem abgelegenen saarländischen Nest Kastel ins alsbald ebenfalls ungeliebte Darmstadt "Darmstadt in der Barbarei") umzog, in die Inselstraße 42, um dem drohenden Prozeß wegen Blasphemie und Pornographie in "Seelandschaft mit Pocahontas" zu entgehen, schrieb er in den nächsten runde beiden Jahren 16 kurze Erzähltexte, die sich diese Lokalität zumindest nominell zunutze machten und später unter dem Sammeltitel "Geschichten aus der Inselstraße" gebündelt wurden (zum ersten Mal in toto in der achtbändigen Werksausgabe, die 1985 beim Haffmanns Verlag herauskam) - kurze, zumindest an der Oberfläche oft reichlich belanglose Anekdoten, Laufställchen für die Schmidtschen Sprachspielereien und seine Animositäten gegen die spießige Mitwelt, Teil des fast manischen Feuilletonproduktion jener späten Fünfziger Jahre, die ihm neben den einstündigen Funkdialogen das Überleben sicherten, das ihm mit seinen Büchern mit ihren dürftigen Verkaufszahlen nicht mgöglich war. (Die ebenfalls in diesem Biotop spielenden längeren Übungen "Tina oder Die Unsterblichkeit" und "Goethe und einer seiner Bewunderer" zählen nicht zu diesem kleinen Zyklus.)
In Anlehnung daran sei hier ein weiterer Text hingesetzt, der sich einem anderen Genius loci auf der anderen Seite der Welt verdankt: dem Beijinger Badaowan Hutong Nr. 11, Anfang der 1920er Jahre, und ebenfalls unter den Auspizien "Regen," "Frösche" und "überschwemmter Hof," der auch schon Schauplatz des "Bitteren Regens" von Lu Xuns Bruder Zhuo Zuoren war.

Bei dem idealistischen, aber sichtlich wenig lebenspraktischen russischen Gast handelt es sich, wie oben angemerkt, um Wassili Jakowlewitsch Jeroschenko, einem von den Ideen Leo Tolstois beeinflußten Idealisten und Anarchisten im Sinne Pjotr Kropotkins - also nicht der militanten Zerstörung des Staates, sondern der Abnabelung von allen staatlichen Strukturen: mithin etwas, das zwei Generationen später im Umfeld der "Achtundsechziger" als "Aussteigertum" en vogue, aber letztlich so wenig praktisch ausgelebt war wie in der Generation Wandervogel. (Aus dem kleinen Text klingt ja an, daß Lu Xun der Lebenstauglichkeit solcher freundlichen Anarchisten wohl leicht skeptisch gegenüberstand.) Jeroschenko, 1890 in Obuchowska im Oblast Belgorod geboren, erblindete im Alter von vier Jahren vollständig als Folger einer Masernerkrankung. D̴e̴n̴ ̴F̴l̴o̴h̴ Die Begeisterung für das Zamenhofsche Esperanto als universalem menschlichen Kommunikationsmittel und Weg zum Weltfrieden vermittelte ihm Anna Schaparowa, die Schwägerin von Tolstois Biographen Pawel Birjukow, auf deren Anregung er auch von 1912 bis 1914 am Londoner Normal Royal College for the Blind Musik studierte. Den ersten Weltkrieg "verpaßte" er im fernen Osten, nachdem ihn die Rusa Esperanto-Fereracio als Lehrer für das Kunstidiom nach Japan geschickt hatte, und in Siam und Birma. Während eines zweiten Japanaufenthalts fing er an, Kinderbücher zu veröffentlichen, die von Kamika Ichiko (神近 市子) aus dem Russischen ins Japanische übersetzt wurden. Es liegt eine überaus nette Ironie darin, daß sich die Bekanntschaft mit den Brüdern Zhuo eben diesen Publikationen auf Japanisch verdankt. Im Juni 1921 wurde Jeroschenko von den japanischen Behörden nach Wladiwostok ausgewiesen, weil er sich auffällig in den japanischen Anarchistenkreisen engagiert hatte (diese lokalen Cercles wurden bis zum Kanto-Erdbeben 1923 weitgehend geduldet, aber das politische Engagement eines Ausländers, noch dazu eines "linken" Russen, während die japanische Armee noch mit dem Kampf gegen die Kommunisten im Gebiet um Wladiwostok verwickelt war - die letzten japanischen Truppen wurden 1922 aus Russland abgezogen) war ein No-go. Jeroschenko, der von den "Weißen" als Kommunist verhaftet worden war, gelang es im Oktober 1921, als chinesischer Arbeiter verkleidet, zu fliehen und sich nach Süden bis nach Harbin durchzuschlagen. Lu Xun vermittelte ihm im Februar 1922 eine Stellung als Dozent für Esperanto an der Universität Peking. In Shanghai begann worden war.er auch, auf Esperanto zu schreiben, in dem er seine weiteren Werke verfaßte. 1922 erschien in Beijing eine Sammlung seiner Texte in chinesischer Übersetzung; die japanischen Texte hatte Lu Xun übertragen; die in Esperanto 胡愈之, Hu Yuzhi.






(Jeroschenko 1922 mit seinen Esperanto-Studenten in Beijing. 1. Reihe, 3.v.l: Zhuo Zuoren, 5.v.l. Jeroschenko, 6.v.l. Lu Xun)

In Beijing, wo er (wurde das schon erwähnt?) als Hausgast im Badaowang Hutong Nr. 18 logierte, fühlte er sich sichtlich unwohl; sowohl Lu Xun als auch Zhuo Zuoren berichten, daß er die Stadt als "tot," "ausgestorben" bezeichnete. Beide Brüder sprachen übrigens Esperanto, obwohl Lu Xun auf ihn über seine japanischen Veröffentlichungen aufmerksam geworden war. Hinzu kamen immer stärkere Spannungen zwischen ihm und den Studenten, denen er in Vorträgen die modene westliche Literatur und die Lebensphilosophie eben jener "progressiven Zirkel" nahebringen wollte. Die Studenten, deren "traditionelle" Einstellungen er mit äußerst scharfen Worten geißelte,gaben ihm in gleicher Münze zurück; es führte dazu, daß er seinen Aufenthalt in Beijing abbrach und nach einem zweiten kurzen Aufenthalt in Shanghai Anfang 1923 das Land verließ. In seinem letzten Vortrag in China, Mitte März 1923 unter dem Titel 现代戏剧中国的价值 ("DerWert der modernen Theaterkunst in China") gehalten, merkt man seine Verbitterung besonders deutlich: den "revolutionären," "progressiven" Studenten wirft er dort vor, ihre hehren Reden von "Gleichberechtigung," und "Frauenrechten" dienten einzig und allein dem Zweck, die leicht zu beindruckenden jungen Frauen ins Bett zu bekommen. (**) Damit hatte er sich natürlich mit genau jenem Publikum verscherzt, das offen für seine Ideen gewesen wäre.

Die Schnittmengen der Interessen von Zhou Zuoren und Jeroschenko liegen in beider Interesse für die Ideen von Mushanokōji Saneatsu 武者小路 実篤 (1885-1976), der dem japanischen Hofadel entstammte. Dieser ließ sich nicht nur idealistisch von den Autarkie- und Landkommunen-Ideen Tolstois inspierien, sondern machte sich 1918 ganz handfest daran, sie in die Tat umzusetzen, indem er in den Bergen der Präfektur Miyazaki auf der Insel Kyushu einer Landkommune nach diesen Richtlinien gründete: Atarashiki-Mura, 新しき村, das "neue Dorf", dessen Bewohner weitgehend Gütergemeinschaft hatten; die Finanzen waren gemeinschaftlich; es herrschte aber ein strikter Egalitarismus ohne irgendwelche Bevorzugung einer Person. (Die Regeln kamen nicht ohne den Hinweis aus, daß, wenn jeder Mensch nach diesen Vorgaben leben würde, der Weltfriede von der Tür stünde, weil alle Gründe für Konflikte und Neid entfielen.) Mushanokoji hatte in den Regeln sehr eindrücklich unterstrichen, daß ede Ablehnung oder Abschaffung der staatlichen Ordnung strikt unterbunden war; Militärdienst und Steuerlast ausdrücklich akzeptiert wurden. Mushanokoji selbst verabschiedete sich 1925 von seinem utopischen Projekt; ganz gegen sämtlichen Erwartungen der Zeitgenossen haben die letzten Reste der Gemeinschaft bis heute überdauert. 2016 waren noch elf Bewohner, zumeist weit über 70, geblieben; in jenem Jahr wurde deswegen die Hühnerzucht, bislang die Haupteinnahmequelle, aufgegeben. Seitdem lebt die Landkommune vom Verkauf des Solarstroms aus den Paneelen, mit denen sie ihre Felder vollständig bepflanzt hat; allerdings könnte in diesem Jahr der Bankrott bevorstehen, weil 2020 die Einspeisevergütung der japanischen Regierung ausläuft. (Die naheliegenden Volten über Autarkie, Selbstversorgung und Staatsfreiheit erspare ich mir an dieser Stelle.)

Zhuo Zuoren hatte das Unterfangen seit Beginn, 1918, durch zahlreiche Artikel in 新靑年, "Neue Jugend," durch zahlreiche Artikel propagiert und fand sich als einer der Hauptfürsprecher der in China als 日本的新村 ("Neues japanisches Dorf") bezeichneten Strömung. Sein Bericht über die sanitären Gegebenheiten, den er in seiner Causerie über das "Lesen auf dem Abort" gibt, verdankt sich einem Besuch vor Ort im Sommer 1919.

Die von Lu Xun erwähnte Erzählung Jeroschenkos trägt auf Esperanto den Titel "La kokido: la tragedio de la kokido". In der sechsbändigen Ausgabe seiner Werke, die von der Japanischen Esperanto-Vereinigung durch Miyamoto Masao besorgt wurde und ab Ende der 1970er Jahre erschien erschienen ist, findet sich im sechsten Band die Titelvariante "La tragedio de kokido," mit dem Hinweis: "aus dem Chinesischen ins Esperanto übersetzt Shi Cheng-Tai und Guo Zhu." Die kleine Fabel dreht sich um ein Hühnerküken, das die Enten im Teich schwimmen sieht, es ihnen gleichtun will und dabei ertrinkt. Lu Xun hat nebenbei ein Gedicht auf Esperanto über Jeroschenko verfaßt: "Homarano".

Jeroschenko verbrachte die Jahre nach seiner Ausreise in Westeuropa; trat allerdings der kommunistischen Partei bei und übersetzte Werke von Marx, Engels und Lenin ins Japanische. 1930 kehrte er nach Russland zurück und arbeitete in der Sowjetunion, wo der fünf Jahre als Blindenlehrer und Lektor für Braille in Nischni Nowgorod uund Moskau arbeitete und dann ab 1935 als Blindenlehrer, unter anderem in Mathematik, in Taschkent und Kushga ind Turkmenistan. Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, daß ihn das Leben an der Peripherie und seine "Unabkömmlichkeit" als Blindenlehrer davon bewahrt hat, in die Todesmühlen des stalinistischen Vernichtungsmaschinerie zu geraten, zu einer Zeit, da "Internationalist" ein Freibrief füür Entrechtung und Verfolgung war. Im Dezember 1952 starb er in seinem Geburtsort Obuchowska, wo er in den letzten Monaten seines Leben an seinem letzten Buch gearbeitet hatte.

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Zwei Adnoten.

In der Periode, die im Westen an den Humanismus anschloß, kam es im Lauf des siebzehnten Jahrhunderts zu einer Neueinstellung gegenüber den Errungenschaften der eigenen Periode. Die Gegenwart wurde nicht länger als defizitär gemessen am Ideal der Antike gesehen, sondern ihr mindetsn auf Augenhöhe gegenübergesetzt, und die am Ende des Jahrhunderts in die Querelle des Anciens et des Modernes ausmündete. Festgemacht wurde das am Beispiel von drei exemplarischen Erfindungen, die die Antike nicht gekannt hatte und die den Aufbruch in die Neuzeit, die Erschließung der Welt, erst möglich gemacht hatten. Begonnen hat diese Reihung mit Francis Bacons Instauratio Magna von 1620, in der er zuerst das Forschungs- und Wissensbündelungsprogramm skizzierte, das dann ein halbes Jahrhundert später zur Gründung der Royal Society führte. Diese Innovationen waren: 
Das Schießpulver,
der Kompaß (der die Überseeschiffahrt erst ermöglichte) und
der Buchdruck mit beweglichen Lettern.

Ein gutes Jahrhundert später, und ohne Kenntnis der westlichen Quisquilien, kam es in China zur Formulierung des Kanons der "Vier Großen Erfindungen des Alten China," 四大发明, die die Welt China verdanke und dort zuerst entwickelt worden waren (wobei das "alte China" hier bis zur Qing-Ära reicht, also bis ins 12. Jahrhundert). Es handelt sich um
das Schießpulver,
dem Kompaß,
den Buchdruck mit beweglichen Lettern und
das Papier (ohne das sich die Notwendigkeit zur mechanischen Abkürzung des Scheibvorgangs gar nicht denken läßt; das Aufkommen des Drucks im Westen verdankt sich der Erfindung des Lumpenpaiers aus Stoffresten).

Hiermit sei auf zwei weitere bedeutende chinesische Erfindungen hingewiesen, die denen im Westen um geraume Zeit vorauseilen:

*. 老於北京的人說,地氣北轉了,這裡在先是沒有這麼和暖。
("Ältere Einwohner haben mir erzählt, daß sich das Klima erwärmt hat und daß es hier früher nicht so warm war.")

Die Chinesen haben also nicht nur den "Klimawandel" erfunden, sondern auch

** In seinem letzten Vortrag in China, Mitte März 1923 ... den "revolutionären," "progressiven" Studenten wirft er dort vor, ihre hehren Reden von "Gleichberechtigung," und "Frauenrechten" dienten einzig und allein dem Zweck, die leicht zu beindruckenden jungen Frauen ins Bett zu bekommen. 

das Sozialverhalten der Achtundsechziger.






U.E.

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