16. Juni 2020

Lord Dunsany, "Eine knappe Rettung" (1912)

­
Es war tief unter der Erde.

In der feuchten Katakombe unter dem Belgrave Square rann die Feuchtigkeit an den Wänden herab. Aber was kümmerte das den Magier? Er suchte das Verborgensein, nicht die Trockenheit, und hier im Dunkel sann er über den Gang der Dinge nach, schmiedete seine Pläne und braute seine Wundertränke.

In den vergangenen Jahren war seine Ruhe durch das Rumpeln der Busse mit ihren neuen Motoren empfindlich gestört worden; von fern her drang der Lärm der U-Bahn wie der Dröhnen eines fernen Erdbeben an sein empfindliches Ohr, und was er von der Welt über sich vernahm, war nicht geeignet, ihn für sie einzunehmen.

Eines Abends, als er in seinem feuchten Kämmerlein seine übelriechende Pfeife rauchte, kam er zu dem Entschluß, daß London lange genug bestanden hätte, daß es den Bogen überspannt hätte und es mit den Absurditäten seiner sogenannten Zivilisation übertrieben hätte. Und er beschloß, die Stadt zu vernichten.


Also winkte er seinen Gehilfen zu sich aus der zugewucherten Tiefe seiner Höhle, und sprach zu ihm: "Besorge mir," sagte er, "das Herz der Kröte, die in Arabien lebt, in den Bergen Bethaniens." Der Gehilfe verbeugte sich und verließ die Kaverne durch die geheime Tür und ließ den zornigen alten Mann mit seiner schrecklichen Pfeife allein, und nur das fahrende Volk weiß, wohin ihn sein Weg führte und auf welchen verborgenen Pfaden er zurückkehrte, aber als ein Jahr verstrichen war, fand er sich wieder in der Katakombe ein, stieg die Leiter hinab, als der Alte seine Pfeife rauchte, und brachte eine fleischige Masse mit, die in einem Behälter aus reinem Gold vor sich hin faulte.

"Was ist das?" krächzte der alte Mann.

"Das," sprach der Adlatus, "ist das Herz der Kröte, die in Arabien lebte, in den Bergen von Bethanien."

Die krummen Finger des Alten schlossen sich um das Behältnis, und er lobte seinen Gehilfen mit seiner krächzenden Stimme; die Busse rollten schwer über das Pflaster zu ihren Köpfen und von fern war das Dröhnen der U-Bahn zu hören, die unter der Sloane Street ihre Strecke befuhr.

"Komm," sagte der Alte, "es ist soweit." Und sie verließen die Höhle, der Gehilfe nahm den Kessel, den goldenen Rührstab und alles, was weiter benötigt wurde, und kletterten ans Tageslicht. Und der Alte bot in seinen Seidengewändern einen wahrhaft wunderlichen Anblick.

Ihr Ziel waren die Vorstädte Londons. Der alte Mann schritt vorweg und der Gehilfe eilte ihm nach, und auch ohne seine sonderbaren Gewänder, ohne Kessel und Zauberstab und den Adlatus mit seinem Kessel lag etwas Magisches im Gang des Alten.

Lausbuben lachten sie aus, bis sie ein Blick aus den stechenden Augen des alten Mannes traf. So zogen sie als seltsame Prozession durch die Straßen Londons, zu eilig, als daß ihnen jemand zu folgen vermochte. Hier oben war es schlimmer als unten in der Höhle, und je weiter sie in die Außenbezirke kamen, desto unerträglicher wurde London. "Es ist an der Zeit," sprach der alte Mann, "das steht fest."

Schließlich erreichten sie den Stadrand und gelangten zu einem kleinen Hügel, von dem aus sie die Stadt vor sich liegen sahen. Der Anblick war so bedrückend, daß sich der Gehilfe wünschte, er wäre zurück in der Höhle, ungeachtet der Feuchtigkeit und dem furchtbaren Dingen, von denen der alte Mann im Schlaf redete.

Sie erstiegen den Hügel und setzten den Kessel ab und füllten ihn mit den Ingredienzien und entzündeten darunter ein Feuer aus Kräutern, die kein Apotheker verkauft und kein ehrbarer Gärtner in seinen Beeten zieht, und rührten mit dem goldenen Stab um. Der Zauberer trat beiseite und murmelte seine Sprüche, dann trat er wieder an den Kessel heran, öffnete den goldenen Behälter und ließ die fleischige Masse in die kochende Flüssigkeit fallen.

Dann rezitierte er die magischen Formeln, hob die Arme, sog den beißenden Qualm, der aus dem Kessel quoll, tief ein, und schrie berauscht schreckliche Dinge, von denen er nichts geahnt hatte und Verwünschungen, die wahrhaft entsetzlich waren (der Gehilfe schrie vor Angst auf) und verwünschte London mit seinem Nebel und seinen Kiesgruben, von der höchsten Spitze bis zum tiefsten Gewölbe, die Busse, die Fabriken, die Geschäfte und das Parlament und seine Bewohner. "Fort mit all dem," sprach er, "all das soll vergehen, die Gleise und die Straßen und das Mauerwerk, sein Wucher und seine Geschäftigkeit, hinweg damit - und an seiner Stelle sollen die Hecken wieder sprießen und die wilden Rosen und die Hasen sollen sich wieder tummeln."

"Hinfort damit," sagte er. "Möge es vergehen, in diesem Augenblick, und es soll keine Spur davon bleiben."

Und er schwieg und räusperte sich in der plötzlichen Stille und wartete, und das ferne Lärmen Londons toste weiter, wie es ohne Unterlaß der Fall war, seit die ersten Schilfhütten am Fluß entstanden, dessen Klang sich im Lauf der Zeit änderte aber niemals innehielt, lauter als in all den Jahren zuvor, zu allen Stunden des Tages und der Nacht.

Und der alte Mann wandte zu seinem Gehilfen und sprach mit furchtbarer Stimme, während er langsam in der Erde versank: "DU HAST MIR NICHT DAS HERZ DER KRÖTE GEBRACHT, DIE IN ARABIEN LEBT, IN DEN BERGEN VON BETHANIEN!"

*          *          *

"A Narrow Escape" erschien zuerst unter dem Titel "The Escape" in der Saturday Review vom 28. Dezember 1912 und in Buchform 1916 in der Sammlung Tales of Wonder (bzw. The Last Book of Wonder). Bethanien, so merkt der kleine Pedant an, verweist zwar auf den Orient (beziehungsweise, politisch-korrekt, den "Nahen Osten"), hat aber mit "Arabien" nichts zu tun, sondern befindet sich gut drei Kilometer von Jerusalem entfernt an der Ostseite des Ölberges, nach Johannes 11:1 war es der Heimatort des Lazarus, nach Matthäus 26:6 stand dort das Haus Simons des Aussätzigen, und der Esel, auf dem Christus in Jerusalem einritt, stammte von dort.


U.E.

© U.E. Für Kommentare bitte hier klicken.