Groß ist der Graben zwischen den unterschiedlichen Lagern in der Corona-Krise. Die einen sagen (überspitzt oder vielleicht nicht einmal das) es sei nur wie eine Grippe zu bewerten, die Bezeichnung Pandemie sei übertrieben und in Anführungsstriche zu setzen sowie alle Maßnahmen überflüssig und nutzlos (außer vielleicht die Absage von Großveranstaltungen). Das geht häufig mit einer enormen emotionalen Abneigung gegen den Mund-Nasen-Schutz einher, der nur ein "entwürdigendes Spucktuch" oder ein "Staatsknebel" sei, damit Merkel ihr Gesicht wahren könne. Die anderen sagen, jegliche Lockerung sei ein Fehler, käme mindesten 3 Wochen zu früh und der Lockdown sowie andere staatliche Maßnahmen seien absolut notwendig, angemessen und wirksam, um den noch am Anfang stehenden exponentiellen Anstieg zu unterbinden. Ohne diese harten Maßnahmen drohe uns ein Desaster wie in Italien, Spanien oder New York, ein Abrücken von den Maßnahmen gefährde also auf unverantwortliche Weise Menschenleben.
Wahrscheinlicher ist ein Szenario in der Mitte, wonach einige Maßnahmen unabdingbar sind, um ein Desaster zu verhindern, andere sinnvoll, wieder andere einen geringen Nutzen haben, der aber außer Verhältnis steht, sowie schlussendlich andere wiederum vollkommen nutzlos sind. Letztere Sichtweise wird mit dem Konzept des "Tanzes" nach dem "Hammer" (wie im viral gegangen Artikel "Coronavirus: The Hammer and the Dance" beschrieben, deutsche Übersetzung hier) assoziiert, kann aber auch mit der Sichtweise einhergehen, der "Hammer" (Lockdown) sei nicht notwendig oder gar total nutzlos gewesen, der "Tanz" jedoch sinnvoll bis unabdingbar (und hätte schon deutlich vor dem März beginnen sollen).
Wunderbar wurden diese drei Sichtweisen vom Spieltheortikers Prof. Rieck in seinem sehenswerten Youtube-Video "Drei mathematische Wege aus der Krise: Reproduktionszahl und politische Ansichten" in Bezug auf die Interpretation des zugrunde liegenden mathematischen Modells dargestellt und analysiert.
Vor allem aber gilt: Wir wissen es nicht (mit Sicherheit) und hinterher ist man immer schlauer. Oder wie Danisch es so schön auf den Punkt gebracht hat:
Ich habe mich da insoweit am Zügel, dass ich nur wettere, wenn ich das mit demselben Wissensstand als falsch erkennen kann, wenn also eine a priori-Entscheidung auch a priori falsch aussieht. Aber ich werde nicht den Fehler machen, a posteriori die a priori-Entscheidung zu verurteilen, weil ich hinterher schlauer bin als die anderen vorher.(Quelle: "Ein Systemling?" von Hadmut Danisch am 12.04.2020)
Hinterher werden aber auch diejenigen, die es im Vorhinein nicht besser wissen konnten, aber gut spekuliert und geraten haben, behaupten, ihre Vorhersage ginge aus den schon a priori verfügbaren Statistiken und Erfahrungsberichten hervor, auch wenn es doch nur Spekulation war und die a priori unwahrscheinlichere Vorhersage. Viele unserer Meinungen sind emotional geprägt und von unseren Weltbildern, subjektiven Erfahrungen, Wünschen, Sorgen und Ängsten abhängig und wir sind gut darin, unsere Vorstellungen zu rationalisieren und als angeblich nahe liegende Schlussfolgerung aus den Daten heraus zu lesen. Behält man dann tatsächlich recht, obwohl a priori das unwahrscheinlichere Szenario, sieht man sich darin bestätigt, man hätte die Vorhersage rational aus den Daten getroffen (und jeder andere hätte das auch tun könne, wären die nur nicht so verblendet gewesen). Auch dann, wenn bei nüchterner Betrachtung durch die Mehrzahl der Fachleute, eine andere Interpretation die Wahrscheinlichere war und sich lediglich a posteriori als falsch heraus stellt. Das ist auch immer möglich, denn "wahrscheinlicher" heißt nicht sicher und es wird immer eine signifikante Anzahl an Ereignissen geben, welche nicht den wahrscheinlicheren Ausgang einnehmen.
Techniknörgler
© Techniknörgler. Für Kommentare bitte hier klicken.