21. Oktober 2019

Peter Handkes Beschreibungslust

Walter Jens soll das Wort von Handke als „Heino der Metaphysik" geprägt haben. Eine Antwort:

Platons Höhlengleichnis kritisierte die Verwechslung der Dinge, die unsere Sinne wahrnehmen, mit der Wirklichkeit: Wir seien in unserer Höhle gefesselt und sähen nicht das echte Leben, sondern nur dessen Schatten an der Wand. Für Platon waren die wahren Dinge die göttlichen Urbilder, also das, was sie sein sollten. Peter Handke bemerkte das Rätsel so: „Für viele heißt nur das Wirklichkeit, was nicht in Ordnung ist.“ (Das Gewicht der Welt, Journal 1977) Er beschrieb unablässig den universalen Bildverlust, den modernen: das Vergessen und Vertauschen der Maßstäbe, Überflutung statt Anschauen. Die Dinge und Traditionen sprächen dadurch nicht mehr. Ihm ging es um eine Rettung und er nannte sie in „Der Bildverlust“ eine „Weltbestandsschleppe, über die ganze Erde streifend.“ Die Sprache der Welt-Bilder ist mehr als eine Moralreligion, sie ist die Antwort der Schöpfung auf die Frage, was uns retten kann. ­

Handke sehnte sich nach einer liebevollen, edlen, beflügelnden Welt. Sie muss nach dem Tod des alten Gottes nicht jedem angestrahlt sein von einem transzendenten Himmel. Aber ein „Neustaunen der Verzweifelten“ müsse möglich sein. Er meint es auch autobiographisch: „So wie ja auch ich selbst seit jeher und bis heute, freilich seltener und immer seltener, in meinem oft verdammt verqueren und manchmal verflucht nichtswürdigen Leben neu staunend und neustaunend eine ungeheure, eine gewaltige, eine unumstößlich friedliche Welt aufblitzen sehe, welche ich nicht lassen werde, für die eigentliche zu erachten.“ (Der Bildverlust, 998f)

1981 hatte er in dem Stück „Über die Dörfer“ beschrieben, dass der Mensch mehr braucht als das bloße Auskommen: „Wir wollen gepriesen werden. Besser noch: Unser Ort hier soll verherrlicht werden, mit seinen Farben und Formen.“ Und er befragte die lateinische Inschrift am Salzburger Dom: „Wo ist das Haus Gottes, in dem Sein Name angerufen wird?“

1994 las man in „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ auf der Seite 1064 den Satz: „Gott sieht mich nicht, weil ich mich nicht von ihm sehen lasse.“ Es ist auch eine Antwort auf eine Schilderung fast vierhundert Seiten zuvor: In einer Kapelle in Saloniki schläft vor einem Auferstandenen-Fresko der uninteressierte Sohn bei der Schilderung des Vaters, es sei das Bild, mit dem die Welt neu anfangen wird, ein. Der Vater erkennt, dass die Weitergabe des Erbes verloren ist.

1999 beschreibt er im Stück „Die Fahrt im Einbaum“ als Menetekel: „Wir Menschen sind, und das ist endgültig, untereinander an die Falschen geraten, jedes System ist entzaubert; der Mensch ist dem Menschen Wolf, das Volk ist dem Volke Wolf. Kein Himmel mehr wird je den Gerechten tauen. Die Drachensaat der Geschichte ist aufgegangen und besetzt, ineinander verbissen, lückenlos die Erde.“

Ein Schriftsteller kann nicht Erlöser sein; was soll er anderes sein als Suchender und auf diese Weise Lehrer? Er muss den Mahner verstecken in einem Erzähler. Handkes Sprache ist oft schelmisch, spöttisch, ironisch. Ihre Verdichtungen entstehen durch Übertreibungen und durch Explosionen von Beschreibungsbildern und Wortschöpfungen. Schon 1979 hatte Handke in „Langsame Heimkehr“ ausgemalt, wie der Mann, der Sorger heißt, als neuen Glauben den richtigen Umgang mit der Erde und dem Schönen findet. „Ich habe mich heute an eine Erlösung erinnert: dabei ist mir aber kein Gott in den Sinn gekommen, sondern die Kultur. - Ich brauche die Gewissheit, ich selber zu sein und für andere verantwortlich zu sein. Ich kann leben! Ich spüre die Macht, wie es ist.“ (141)

Was er von dem sexuellen Begehren und von der vollen Liebe erwartet, wird zunächst am Vermissten definiert: „Ja, ich war nie auf der Höhe dieser meiner Frau“, und dann als Hoffnung beschworen: „Die Geschichte hat beschlossen, dass Mann und Frau, die sich wie immer verloren haben, sich wiederfinden sollen, und das ist wieder kein Mythos.“ (Der Bildverlust, 723) Worin besteht die Versöhnung, die Schuldüberwindung? Mann und Frau müssen lernen, wirklich zu wissen, wer der andere ist, und den anderen als solchen achten.

In dem Roman „Der Bildverlust“ gibt es ein Utopia. Eine Bankfrau findet es im kastilischen Gebirge, oben in der Sierra Gredos, in der Siedlung Hondareda in einer ehemaligen Gletschermulde. Die Finanzfrau wird dort geläutert. Sie erlebt: Die Bewohner verkehren ohne Geld, die Neusiedler, Verfolgten und Flüchtlinge werden aufgenommen wie alle, die der toten Zivilisation entrinnen wollten. Sie spähen einander nicht aus, wie es die Medienleute tun, um Intimitäten zu erwischen. Handkes Lektüre der jüdischen und christlichen Bibel schlägt sich hier nieder: Sie sind „fast“ (utopisch genug) reinen Herzens, sie teilen das Erwirtschaften und das Genießen, sie richten einander nicht, sie lernen aus ihren Fehlern, bitten den anderen um Hilfe, sie sind erpicht darauf, einander zu helfen, beachten aber peinlich die Schamgrenzen. Das ist Handkes Bergpredigt mittels einer ins Groteske übertreibenden Sprache.

In den Berichten über Hondareda gibt es auch eine Passage über den heutigen Religionspluralismus, der alle Religionen gleichstellt und auf Mission verzichtet. „Was für die Juden der weiterhin verheißene Erlöser ist, das ist, wenn auch grundanders und vor allem anders gerichtet, als Verheißung die Zeit“, argumentiert ein Beobachter. Handke selber scheint diese Relativierung aller Religionen sogar als Verlust zu erwägen, wenn er den Fremdbericht zitierend kritisiert: „Du fährst fort: ‚Wieder, wie vor der Geschichte als Historie, Kinder der Zeit, des Gottes Kronos, zu werden‘ … mit so dunklen Wahlsprüchen wie etwa: Der Zeit ihren Schleier wiedergeben, zurück zur schleierhaften Zeit, und dergleichen.“ (647)

Handke hat kein solches Volk in der heutigen Wirklichkeit und für sich selber vorgefunden. Am ehesten traute er das Überleben der utopischen Hoffnung dem Judentum zu. Verborgen taucht die Sehnsucht danach in den Romanen und den schon veröffentlichten Tagebüchern auf, wenn er eine Begegnung mit der liturgischen Sprache der Kirchen oder dem Glockenton in Worten verdichtet wie diesen: „Das tägliche Erlösungslied muss ein anderer für mich singen: und da nur, in diesem Lied, ist das Recht der Gesellschaft (der Gemeinschaft)“. (Phantasien der Wiederholung 1983, 38).

In den Kirchenräumen sah er sich enttäuscht, „angeödet und geradezu in der Seele gekränkt“ von den „herz- und kopflosen Stimmen all der gegenwärtigen falschen Gläubigen.“ (1981, Kindergeschichte) Daher suchte er im Geheimnis der Welt „die geheime Liturgie … unter der Weltoberfläche“ und den „Gegenwartsruck“ des Jetzt und darin die Göttlichkeit „in der Materie, als Materie“ und bekannte: „Es ist die Weltliebe“. (1982, Die Geschichte des Bleistifts)

Von den Christen enttäuscht blickte er auf die Juden: „Gäbe es doch jemanden, an dem ich mir ein Beispiel nehmen könnte! Ich sehnte mich danach, dass Juden in diesem Mitteleuropa wären.“ In der „Kindergeschichte“ hatte er die Juden das einzige Volk genannt, das diesen Namen verdient, das ohne Könige und Idole auch in der Zerstreuung ein Volk blieb und an dem man das älteste und strengste Gesetz der Welt lernen könne. „Es war das einzige tatsächliche Volk, dem der Erwachsene je anzugehören gewünscht hatte.“

„Auch Theologie ist physisch“, sagte Handke in einem SZ-Interview am 30.1.2002. Ja, wenn es in einem Gottesvolk Gemeinden zu sehen gibt, an denen etwas Besonderes zu sehen ist.

Ludwig Weimer

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