7. September 2019

Die zersplitterte Linke. Die zu den Bobos strebenden Konservativen und Liberalen. Der lachende Dritte. Ein Gedankenspaziergang.

Es gibt wohl drei Hauptzielgruppen linker Politik:

1. Im Staatsdienst, in der (mit öffentlichen Geldern alimentierten) Sozialindustrie oder in der Medienbranche beschäftigte, großstadtbewohnenede Akademiker mit einem Abschluss zumeist in einer Geistes- oder Gesellschaftswissenschaft.

2. In Ausbildungsberufen tätige Arbeitnehmer.

3. Voll oder überwiegend von Sozialleistungen lebende Bürger respektive Bezieher prekärer nichtstaatlicher Einkünfte (zum Beispiel Jobber und Kleinrentner).

Wie es sich für eine gute Kategorisierung gehört, ist die vorstehende Aufzählung mit dem groben Pinsel gezeichnet und wird dadurch freilich nicht jedem Einzelfall gerecht. Dies gilt auch für die folgenden weiteren Ausführungen:
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Alle genannten Milieus haben oder hätten eine Veranlassung, zumindest einzelne Aspekte linker Wirtschafts- und Sozialpolitik zu unterstützen: Die Ersterwähnten – die ich fortan griffig als Bobos bezeichnen möchte – befürworten, dass der Staat möglichst viele Aufgaben der Daseinsvorsorge übernimmt beziehungsweise von nominell privaten, jedoch von Steuermitteln abhängigen Organisationen verrichten lässt, weil dies Arbeitsplätze für das eigene Soziotop schafft. Die Facharbeiter (Nummer 2 unserer Liste) wünschen sich eine engmaschige und solide Absicherung gegen die Wechselfälle des Lebens, dies etwa in Form eines ausgebauten Kündigungsschutzes und einer hohen Leistungsdichte der gesetzlichen Sozialversicherung. Die Abgehängten schließlich treten aus naheliegenden Gründen für eine Einkommens- und Vermögensumverteilung von oben nach unten ein.

Es mag Zeiten gegeben haben, in denen eine linke Partei alle diese Forderungen zugleich glaubhaft erheben konnte. Heute ist dies freilich anders: Etatismus, der hypertrophe Sozialstaat und die gut geölte Transfermaschinerie sind dem Grunde nach längst im parteiübergreifenden Konsens angekommen. Liberale und Konservative stemmen sich diesbezüglich nicht (mehr) gegen das Ob, sondern nur (noch) gegen ein – aus ihrer Sicht – Zuviel. Wenn man als linker Politiker die in Rede stehenden Themenfelder bewirtschaften möchte, muss man mit relativ radikalen Vorschlägen aufwarten, um angesichts des Status quo überhaupt noch Gehör zu finden.

Doch solche radikalen Vorschläge laufen den Interessen der anderen Hauptzielgruppen linker Politik häufig zuwider. Wer etwa für mehr Umverteilung zugunsten der Abgehängten wirbt, erregt dadurch den Argwohn der Bobos und der Facharbeiter, die befürchten, die neue soziale Wohltat mitfinanzieren zu müssen. Die Bobos werden überdies insgeheim denken, dass sie eigentlich nicht bereit sind, diejenigen Kreise auch noch zu fördern, in denen die AfD dem Klischee nach besonders erfolgreich ist. Und die Facharbeiter haben keine Lust, Faulenzern und Bildungsversagern eine noch bequemere Hängematte aufzuspannen. Der von linken Politikern in derartigen Situationen gerne herangezogene Trick, Belastungen nur für die „Reichen“ in Aussicht zu stellen, verfängt nicht immer, wie die Grünen im Bundestagswahlkampf 2013 leidvoll erfahren mussten. Und auch Olaf Scholz sollte sich nicht zu sicher sein, dass seine plumpe Neidrhetorik, mit der seine absurden Steuervorhaben garniert sind, auf allzu viele vertrauensselige Ohren stößt.

Die Solidarität zwischen den Hauptzielgruppen linker Politik war vermutlich noch nie überbordend groß – auch vor 20 Jahren werden Facharbeiter nicht verstanden haben, weshalb sie für den Lebensunterhalt des Sozialhilfeadels aufkommen sollten –, sie dürfte seit einiger Zeit allerdings an einem Tiefpunkt angelangt sein. Dieses Auseinanderdriften der betreffenden Milieus lässt sich zweifellos seit dem Herbst 2015 in aller Klarheit beobachten, weil damals manifest geworden ist, was sich schon seit längerem angebahnt hatte: Die Bobos wollen eine bunte, multikulturelle Gesellschaft, die feministisch, genderfluid und nicht heteronormativ geprägt ist, während die gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Facharbeiter und der Abgehängten deutlich konservativer ausfallen. Die Bobos hatten für ihren schleichenden Entliebungsprozess zu Lasten der beiden anderen Gruppen nun endlich eine Rechtfertigung: Gemäß dem entsprechenden Narrativ erwiesen sich die Abgehängten (der vermutete Kern des AfD-Protestpotenzials) als verbohrte Rechte, mit denen man als guter Mensch nichts zu tun haben möchte, und waren die Facharbeiter stur in ihrer kleinbürgerlichen, an gesellschaftlichen Traditionen und Routinen haftenden Mentalität gefangen. Facharbeiter und Abgehängte setzten dem entgegen, dass die Bobos eine vom Alltag der Mehrheit abgehobene, in selbstbespiegelnder Ignoranz gefangene Kaste seien, die – was freilich nur die Werktätigen monieren konnten – einmal etwas Richtiges (sprich: Wertschöpfendes) arbeiten sollten, bevor sie sich ein Urteil über andere Leute anmaßten.

Die Zeichen für eine Partei, die den Anspruch hat, die Interessen aller Hauptzielgruppen linker Politik zu vertreten, stehen also ziemlich schlecht. Am schnellsten haben dies die Grünen verstanden, die sich völlig unmissverständlich als Repräsentanz des Bobo-Milieus positionieren und ihre Indifferenz bis Verachtung für die anderen beiden Gruppen kaum noch zu verhehlen versuchen. Ein zuverlässiger Sockel an Öko-Hysterikern, die sich, wenn Weltuntergangsszenarien mal wieder Konjunktur haben, auf wundersame Weise vermehren, sorgt dafür, dass die Grünen im Westen sehr gesund dastehen und auch im Osten – derzeit – nicht mehr wirklich um das Überwinden der Fünfprozenthürde bangen müssen.

Die einstmalige Volkspartei SPD ist hingegen mittlerweile vom Odium des Verfehlens des Parlamentseinzugs bedroht. Die Alte Tante ist auch diejenige Partei, die immer noch versucht, alle Hauptzielgruppen linker Politik unter ihren Fittichen zu vereinen. Die SED hat auch lange genug herumlaviert und sich zwischen den Bobos (Katja Kipping) einerseits sowie den einkommensschwächeren Facharbeitern und den Abgehängten (Sahra Wagenknecht) andererseits nicht recht entscheiden wollen. Jetzt, nach der Ausbootung der Lafontaine-Gemahlin, zieht es die Linkspartei freilich zu den Bobos, deren Alleinvertretungsanspruch durch die Grünen inzwischen aber unangefochten sein dürfte. Der Markt für Grüne 2.0 mit DDR-Flair ist dann halt doch zu klein.

Die AfD hat sich geschickterweise als Antipode des Bobo-Milieus in Stellung gebracht. Damit haben die sogenannten Rechtspopulisten in Brandenburg und Sachsen zahlreiche vormalige Nichtwähler für sich mobilisieren können. Bei der Union und der FDP hat man den Schuss wohl noch nicht gehört, denn Anzeichen dafür, dass die einstmals Konservativen und die früher vielleicht Liberalen ihrer Anbiederung an das Bobo-Milieu entsagen werden, gibt es bislang nicht. Wer die AfD wirklich, also außerhalb der mittlerweile üblichen Gesinnungsprozessionen, bekämpfen möchte, täte gut daran, einen wesentlichen Teil der Wählerschaft nicht einfach denen zu überlassen, die bisher außer als Geist, der stets verneint, nicht überzeugen konnten und mussten.

Noricus

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