12. September 2018

Chemnitz und die Macht der Phantasie

Es stimmt schon: Hans-Georg Maaßen hat nicht gesagt, dass er das seit Tagen heiß diskutierte Antifa-Zeckenbiss-Video für eine Fälschung halte. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz hat sich vielmehr wie folgt geäußert:
Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.
Und:
Nach meiner vorsichtigen Bewertung sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken.
Die Betonung des Mangels an Beweisen für die Echtheit des Films kann tatsächlich nichts anderes als eine Kritik an dem unreflektierten Glauben sein, den insbesondere die den sozialen Netzwerken gewöhnlich sehr reserviert gegenüberstehenden Medien einem Streifen schenken, der von einem politisch offensichtlich klar positionierten Account in die Welt gesetzt wurde. Und das Abstellen auf die "gezielte Falschinformation" mag die Stoßrichtung haben, dass mit dem in Rede stehenden Video ein Raum der Phantasie eröffnet wurde, in dem das von nicht wenigen Pressevertretern evozierte Bild pogromartiger Ausschreitungen wachsen und gedeihen konnte.

Denn an und für sich ist die Frage nach der Authentizität der 19-sekündigen Sequenz für die Bewertung der Ereignisse in Chemnitz nicht entscheidend: Selbst wenn der Film den Sachverhalt ungeschnitten und ohne Inszenierung zur Darstellung bringt, so zeigt er doch ein Geschehen, das im herkömmlichen Sinn des Wortes nicht als "Hetzjagd" zu qualifizieren ist und dessen Schockpotenzial deshalb auch vernachlässigenswert ist.

Seine Sprengkraft erhält das Video erst, wenn man es zur Basis für Schlussfolgerungen macht, indem man den dort zu sehenden Ablauf als Spitze des Eisberges oder als typisches Beispiel für die Vorkommnisse in der sächsischen Großstadt unterstellt. Denn - die Vollständigkeit und Echtheit des Films vorausgesetzt - es bedeutet schon einen großen Unterschied, ob es eine Handvoll oder Hunderte solcher Vorfälle gab und ob der Film etwas offenbart, das in höherer Intensität, wenngleich nicht auf Speicherkarte gebannt, mehrmals stattgefunden hat. Für all diese Vermutungen gibt es aber nach wie vor keine stichhaltigen Beweise.

Bislang kann man Maaßen nur vorwerfen, dass er sich missverständlich ausgedrückt hat. Auch ich habe seine Einlassungen ohne Übelwollen dahin interpretiert, dass er Zweifel an der Echtheit des Videos hegt. Möglicherweise fällt die ganze Aufregung um das Interview des Nachrichtendienstmannes gerade wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Dies wäre für unsere Bundesrepublik, die wahrlich andere Probleme hat, wahrscheinlich nicht die schlechteste Entwicklung.

Noricus

© Noricus. Für Kommentare bitte hier klicken.