16. September 2017

Die Mehltau-Kanzlerin und die verdrossene Republik

Die Bundestagswahl steht vor der Tür, und in einigen deutschen Medien regt sich so etwas wie Unmut über die amtierende und wohl auch zukünftige Bundeskanzlerin. Wenn Alexander Kissler auf cicero.de davon spricht, dass
das Regieren der späten Merkel [...] die Vernunft [...] aus dem Debattenfeld gestoßen
habe, politische Sachfragen "ins Moralische" gezogen und Kritiker zu Misanthropen gestempelt würden, so mag das noch wenig verwundern, ist doch jede an die Regierungschefin adressierte Verneigung des nach dem berühmten römischen Redner benannten Magazins durch einen gewaltigen Hexenschuss entwertet.
­
Für den Beobachter des heimischen Pressebetriebs schon interessanter ist es, wenn sogar in der an und für sich kanzlerinnenfrommen FAZ Kritik am Prinzip Merkel geäußert wird. Mit Bezug auf eine TV-Sendung, in der dem Zuschauer "Klartext" versprochen wurde, wohingegen die mächtigste Frau Europas doch wieder nur ihren bekannten Beschwichtigungs-Singsang zum Vortrag brachte, konstatiert Frank Lübberding auf faz.net:
Heute dominiert die sanfte Wegmoderation von Widersprüchen. Wo Politiker für alles und jedes Verständnis zeigen, vor allem aber ihr Mitgefühl zum Ausdruck bringen.
Noch überraschender wird es aber, wenn Hans-Olaf Henkel, Europaparlamentarier der Liberal-Konservativen Reformer, auf ZEIT-Online [sic!] in für die redigierende Zunft ungewohntem Pluralismus eine im Hinblick auf den zutreffenden Inhalt befremdend reißerisch überschriebene Abrechnung mit den gravierendsten Irrwegen der Bundeskanzlerin veröffentlichen darf. Henkels Fazit: Die AfD ist unwählbar, alle anderen Parteien liegen in den wichtigen Fragen auf Merkel-Kurs; also verabschiedet er sich ins Lager der Nichtwähler.

Woher kommt dieser in den beiden letzten Jahren aus dem Hauptbestand des Blätterwaldes verbannte Gegenwind so plötzlich? Ist es jetzt chic, gegen Merkel zu sein, so wie es seit September 2015 en vogue war, die Uckermärkerin über den Schellenkönig zu loben? Hat dieser neue Widerspruchsgeist damit zu tun, dass sich die Bundeskanzlerin im Fernsehen zu "Maß und Mitte" bekennt (so in ihrem als "Duell" fehlbenamsten Koalitionssondierungsgespräch mit Martin Schulz), in Wirklichkeit aber dieses Land dermaßen radikal in Richtung negativer Veränderungen getrieben hat, wie dies bisher noch kein Regierungschef dieser Republik gewagt hatte? Stellen die publizistischen Nadelstiche gleichsam den Gong für die letzte Runde dar (Merkel 2017 wäre demnach mit Kohl 1994 vergleichbar - ein wahlarithmetisches Erfolgssystem, das schon deutliche Abnutzungserscheinungen zeigt, aber einmal noch funktioniert)?

Wie dem auch sei: Man wird aus diesen Medienstimmen schließen können, dass die Merkelmüdigkeit langsam zunimmt, was sich auch - um einen kuriosen Beleg heranzuziehen - im ZEIT-Online-Stimmungsbarometer durch die Vermehrung von Adjektiven wie merkelgenervt, merkelverdrossen und merkelüberdrüssig manifestiert.

Kein Politiker in diesem Land, vielleicht mit Ausnahme Peter Altmaiers, repräsentiert den Mehltau der Berliner Republik so sehr wie Angela Merkel. "Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben", Wahlkampfslogan und Titel des Regierungsprogramms der CDU/CSU, ist reinstes Biedermeier. Alles, was eine erquickliche Existenz zwischen Berchtesgaden und Buxtehude stören könnte, soll ausgeblendet und zum Schweigen gebracht werden. Das finden auch einige Bürger, die mit Zwischenrufen nicht an sich halten können, als in der "Klartext"-Runde eine Lehrerin von Problemen mit muslimischen Schülern und ihren Bedenken, außerhalb des Kollegiums darüber zu sprechen, erzählt oder eine Frau die Themen Migration und Sexualdelikte in einen Zusammenhang bringt.

Der Verfasser dieser Zeilen ist immer noch der Ansicht, dass sich der Mehltau in diesem Land seit seiner Hochblüte im Herbst 2015 zurückbildet. Antagonistin dieser Entwicklung ist jedoch die Bundeskanzlerin, die mit der Dauer ihrer Amtszeit immer mehr wie ein Metternich mit freundlichem Gesicht wirkt. Merkel verkörpert die Restauration. Wir werden sie noch vier Jahre lang als Regierungschefin aushalten müssen und ihr und uns dann hoffentlich zu ihrer Pensionierung gratulieren können.

Noricus

© Noricus. Für Kommentare bitte hier klicken.