14. Oktober 2016

His Bobness




"It’s night time in the big city
Rain is falling, fog rolls in from the waterfront
A night shift nurse smokes the last cigarette in a pack"
(Theme Time Radio Hour, Ep. 1: "Weather")

I
Manche Dinge erfährt man als Internetizen zuerst durch die spontanen Reaktionen anderer Netzbürger. In diesem Fall durch einen heute mittag um 13:10 auf einem anderen Forum getätigten #aufschrei:

Bitte was? Ich habe mich gerade erstickungsreif verschluckt. Die Infantilisierung des Westens kennt keine Gnade.

Recht hatte der anonyme Kommentator.

II
Bob Dylan wurde am 24. Mai 1941 als Robert Zimmerman in Duluth, Minnesota geboren. Im August 1962 änderte er gerichtlich seinen Namen in Robert Dylan. Vom März 1962 bis zum Mai 2016 veröffentlichte er insgesamt 37 Studienalben und eine kleine Anzahl von Livemitschnitten, die von einer umso größeren Menge hal- und illegaler "Bootlegs" flankiert werden. Die Anzahl der von ihm geschriebenen Songs dürfte zwischen vier- und fünfhundert liegen (USA Today ist im vorigen November auf die Zahl von 359 gekommen), Im Oktober 2016 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.



III
Daß Bob Dylan den Nobelpreis erhalten sollte, gehört seit mindestens zwanzig Jahren zu den alljährlich temingerecht lautwerdenden Meldungen, die diese Auszeichnung begleiten - als einzige Sparte. (Es dürfte lang her sein, daß Wetten auf die Preisträger in den Sparten Chemie oder Wirtschaftswissenschaften abgeschlossen wurden. Selbst Namen im Zusammenhang mit der Vergabe des Friedensnobelspreises werden nur im Kontext tagespolitischer Erregungen wie etwa Friedensschlüssen lanciert.) Sonderlich ernst sind, auch unter den größten Parteigängern von "His Bobness", diese Wünsche nie genommen worden. Zu unterschiedlich die Bereiche, zu groß die Fallhöhe zwischen dem, was allgemein unter "nobelpreiswürdiger Literatur" - immer noch - empfunden wird und dem, was, bei aller Aufladung durch Zeitgeist und die Pirouetten der Ausdeuter, als Entertainment, als Popkultur, als Jugendkultur (und in Dylans Fall: als Schnittpunkt zwischen dem Boom der Pop- und Rockmusik als maßgeblichem Zeitgeistmedium und dem Protest- und Aussteigerhabitus der "Sixties", der Generation zwischen den Beatles und Woodstock, zwischen "sexueller Revolution" und Vietnamprotest) galt und wohl noch gilt. Fünf Jahrzehnte des angestrengten Versuchs, der Popkultur Augenhöhe mit "ernster", "großer", "seriöser" Kunst und Kultur (oder was als solche empfunden wird), dürften im Rückblick wohl nur zwei Ergebnisse gezeitigt haben: zahllosen Zeitungsredakteuren die Sparten der besserbezahlten Medien für Pirouetten über "Trallafitti"  (©Udo Lindenberg) zu öffnen und dieses weite, zweifelhafte und wenig erschlossene Terrain den akademischen Landvermessern zu öffnen. Den Endkonsumenten, denen, die die Musik hören, die Platten im Schrank stehen haben (ich komme auf die Gebundenheit des Werkes von Dylan an die Materialität seiner Träger noch zurück), dürften solche Aufwertungen freilich herzlich gleichgültig sein. Wer Pop, wer Rock, auch wer Jazz hört, weiß in aller Regel, was er tut und auf welchem Niveau er sich bewegt.

Der - wie gesagt: weniger als halbherzige - Wunsch nach Anerkennung zielte aber stets nur zum einen Teil auf die Person Dylans; die andere Seite bildete das Umfeld, zu dem diese Lieder den Soundtrack abgaben: die "Gegenkultur", die Jugend, die sich, zunächst in den eigenen Augen und dann in denen der Restwelt, das Recht auf lebenslanges Jugendirresein genau mit Dylans Erscheinen, erkämpfte (oder zuschrieb, oder schlicht anmaßte: je nach Einstellung): von den Folkloreclubs im New Yorker Village der späten Fünfziger mit ihrem schäbigen Sperrholzcharme über die aufkommende Politprotestkultur, zunächst im Zeichen der Bürgerrechte und danach nahtlos in den Antikriegsprotest der Vietnamzeit übergehend. (Nachgeborenen muß man dann erklären, daß sich solche frühen Lieder wie "Masters of War" oder "Blowing in the Wind" dem Protest gegen die Atomrüstung der Eisenhowerjahre, der Drohung, ob nun real oder nur vermeintlich, sich jederzeit und ohne Vorwarnung am Ground Zero eines nuklearen Schlagabtauschs wiederfinden zu können. Sonst könnte der Eindruck entstehen, der Protest gegen das Engagement in Südostasien sei älter als der Vietnamkrieg selbst. Gänzlich falsch läge man mit einer solchen Einschätzung nicht: die Haltung, die in diesem Protest Ausdruck fand, ist es auf jeden Fall.) Literarisch hat sich diese Haltung: diese Ablehnung des als erstickend empfundenen Kleinbürger-Amerikas, der "squares", der "Spießer" zuerst bei den Autoren der Beat Generation, den Weg gebrochen: bei Jack Kerouac, Allan Ginsberg, Gregory Corso und - freilich eher tangential - William S. Burroughs. Freilich ist deren Werk mittlerweile selbst "historisch" geworden; kaum ein Werk ist im populären Gedächtnis geblieben - vielleicht mit Ausnahme des Ginsbergschen "Howl" und Kerouacs On the Road. (Kleine Fußnote: Burroughs Romane, mit ihrer absoluten Sprengung aller literarischen Form und des Erzählens-an-sich, mit ihrer extremen Aufladung an sexueller Gewalt, mit ihrer Fixation auf Destruktion und Zerstörung als eigenem Wert-an-sich, fallen aus diesem Rahmen: im Nachhinein wird schlagend deutlich, daß Burroughs den Gestus, die Themen und die Haltung der italienischen Futuristen und insbesondere Filippo Tommaso Marinettis bruchlos fortgeschrieben hat.) Die späteren Jahre ("später" klingt allerdings ironisch bei einem Zeitraum, der keine zehn Jahre umfaßt) haben dann keine Werke hervorgebracht, die direkt den Zeitgeist jener Zeit atmen, ihn in Bilder und Klänge fassen und zugleich gebrochen und kritisch reflektieren: was dort geschrieben wurde, wie die Schilderungen des Vietnamkriegs etwa, schildert das später (dieses spezielle Gebiet wird erst in den siebziger Jahren zum Thema), und stets aus de distanzierten Sicht des Betrachters, nicht der direkt Agierenden. Insofern zielte der Wunsch, Dylan gewissermaßen per Nobelpreis ins Pantheon einzureihen, auch darauf, der Generation die höchste Würde umzuhängen, die mit ihm ihr musikalisches Erwachen hatte und für die er, zumindest eine Zeitlang, durchaus bedenkliche Propheteneigenschaften zu entwickeln schien. Es war nicht umsonst gerade vor jener Zeit, als sich die Hippies aller Sorten aller Orten Gurus und östlichen Räucherstäbchenkitsch zur Möblierung des inneren spirituellen Vakuums auszusuchen begannen.

IV
Dylans Rolle als Vortänzer seine Generation, als vermeintlicher praeceptor Americae endet mit den Jahren 1967-1968; seitdem kreist er im eigenen Orbit. Als musikalische Fußnote bleibt festzuhalten, daß er in den drei Jahren zuvor es nicht allein war, der die rigide und eng umzirkte Form des Rock'n'Roll-Hitparadensongs wie des Folksongs, die sich strikter darbieten als petrarkische Sonette (vom Blues, dessen Formensprache in seiner "klassischen" Ausprägung, etwa als country blues, noch spartanischer daherkommt, soll hier erst gar nicht die Rede sein) aufbrach: die beiden anderen Eckpunkte dieses Dreiecks bilden George Martin, genannt The Beatles und  Brian Wilson, genannt The Beach Boys. Diese musikalische Evolution findet ihr natürliches Ende im ziel- und ergebnislosen Herumklimperns des einzig kreativen Strandjungs auf dem Klavier, in der Hoffnung, so würde absolute und ultimative Musik für das Projekt "Smile" entstehen und in Dylans zwölfminütigem "Sad-Eyed Lady of the Lowlands" auf dem ersten Doppelalbum der Popgeschichte, Blonde on Blonde. Mallarmésche Emporschwünge ins Reich des Unsagbaren zeigen sich in diesem Metier zuerst in aller Deutlichkeit als ungenießbar. In den hektisch-dissonanten Synkopen des Free Jazz und den Klangzirruswolkenbänken eines Brahms oder Skriabin läßt sich die inhaltliche Leere besser kaschieren (vielleicht ist aber das Publikum auch nur leidensfähiger).

(Als kleine Anekdote - ohne Dönekens kommt keine Reflektion über Dylan aus: von "Sad-Eyed Lady..." exitiert nur ein einziger Take. Dylan hatte die Studiomusiker - die sonst in Nashville zumeist die Countrysänger begleiteten - mit freiem Arbeitsende einbestellt und schrieb und feilte abends noch am Text, stundenlang, verschwand wieder an den Schreibtisch, während die Combo die Melodie längst aus den FF. parat hatte und tauchte kurz nach drei Uhr nachts im Aufnahmeraum auf, ließ kurz repetieren und um 04:00 die Vierspurtonband für die Masteraufnahme anlaufen: woraufhin die entsetzte Band feststellte, daß er sich nicht auf die popüblichen drei Strophen beschränkt hatte, sondern sechs, acht, zehn... ins Mikrophon näselte. Al Kooper als elektrischer Orgelheizer hat später berichtet, wie alle ein einziger Gedanke alarmierte: wenn jetzt auch nur einer von uns eine einzige Note versägt, müssen wir das, da capo al fine, nochmals ertragen...)

Dylans frühes Werk - beziehungsweise das seiner zweiten Phase, der elektrisch verstärkten zwischen Subterranean Homesick Blues und Blonde on Blonde verdankt auch der Langspielplatte als akustischem Trägermedium: die fünfzehn bis zwanzig Minuten jeder Seite nicht nur als Sammlung kurzer, vorher erschienenen Songs, sondern als längere, größere Einheit, emanzipiert auch von der Präsentation im Radio, nicht zuletzt mit Texten, die zumindest so wirken, als bedürften sie einer Emanzipation, vielleicht sogar, in Dylans kryptisch verrätselter Bildsprache jener kurzen Zeit, Fußnoten als Interpretationshilfe: kurzum: etwas mehr als die prinzipielle Eingängigkeit und Geradlinigkeit der davor liegenden Lieder. Wer diese Evolution, musikalisch wie textlich, als zeitgenössischer Zuhörer selbst mit durchlaufen hat, für den wird Dylans Musik für ewig auf Vinyl gepreßt sein (auch wenn der Klang auch hier mittlerweile aus den pits einer CD oder den Bytes einer MP3-Datei erzeugt wird). Nicht zuletzt zeigt sich an seinem Werk, daß einer Plattensammlung noch angeschlossene Bücherbretter eine entscheidende Dimension abgeht. Im Bereich der Klassik ist dies seit jeher einer Selbstverständlichkeit; auch beim Verständnis des Jazz dürfte es da keine Mißverständnisse geben. Aber für die wilde weite Prärie des Populären Klingklangs war dies eine neue Facette. Neben der Liverpooler Fab Four dürfte für Dylan am meisten bedrucktes Papier zwischen Buchdeckel gepreßt worden sein. Wo bei den ersteren allerdings die reine Materialsammlung überwiegt, von Texten, Photosammlungen, Dokumentationen jedes einzelnen Tags, liegt bei Dylan das Schwergewicht auch dem Kontext, der Interpretation, der Zeichnung des Hintergrunds. Selbst beim Endunterzeichneten, der sich keineswegs in irgendeiner Hinsicht als Dylanologe betrachtet, sind im Lauf der Zeit ein gutes Dutzend Titel auf den Regalen zusammengelaufen, von Anthony Scadutos erstem biographischen Versuch über Olaf Benzingers Albenmonographie bis hin zu Michael Grays massiv-massiger Bob Dylan Encyclopedia (mit 760 Seiten, doppelspaltig gedruckt) - nicht zuletzt Greil Marcus' impressionistischer Invisible Republic, in dem er ein dunkles, ländlich archaisches Amerika voller "Hoodoo", schwarzer Magie, Flüchen und bösen Verhängnissen beschwört, das in den Songs gleichsam durch Dingmagie wieder zum Leben (oder Untotsein, wer weiß) erweckt wird. Man weiß ja, daß es Humbug und freie Projektion ist, "Literaturkritik" in der Tradition eines D. H. Lawrence oder  Leslie Fiedler: aber während das raunend beschworen wird, läßt man sich gern davon bannen. Wenn es als Maßstab für Nobelpreisträger gelten könnte, daß auf ihren Werken ganze papierene Dschungel sekundärer Epiphyten wuchern können, darf die Bedingung als erfüllt angesehen werden.

V
Die späteren Songs sind traditionell: die Tonsprache der Pop/Rockmusik ist entwickelt, aber Dylan greift auf alte Muster zurück. Lange Zeit ist die Popmusik, im Verständnis ihrer Kritiker und denjenigen unter den Hörern, die ihren akustischen Hedonismus durch eine Ausrichtung an progressivistischen Idealen ausrichten wollten, als unablässige Ausweitung des Spektrums, Entwicklung musikalischer Formen und Erzeugung neuer Genres betrachtet worden. Als erstes populäres Segment ist der Jazz hier im Free Jazz und Hard Bop über die Grenzen des technisch Möglichen und des Erträglichen ins Nichts vorgestoßen. Aller Rückbau auf die bewährten Formen stellt nun automatisch einen Rekurs auch schon Dagewesenes dar, eine Wiederaufnahme. Für die Rock- und Popmusik hat sich dieses Stadium zwanzig Jahre später eingestellt. Ein Preis dieser Evolution einer populären Unterhaltungsform besteht darin, daß das Phänomen der "Superstars," die für die Gesamtzahl der Hörer (ob nun begeistert oder entgeistert) den Inbegriff dieser Darreichungsform darstellen, ein Ding der Vergangenheit ist. Madonna und Michael Jackson dürften in den achtziger Jahren die letzten dieser Hypersterne gewesen sein, die nicht nur jedem, wirklich jedem Hörer geläufig waren, sondern auch optisch präsent. Oasis und die Spice Girls erreichten, wenn sie denn ein Publikum erreichten, entweder nur ein Spartenpublikum oder sprachen allein eine pubertäre Klientel an, das dafür sorgte, daß nach spätestens drei Jahren ihre Namen ihren Hörern überständig, verstaubt, vorgestrig vorkamen. Die Kreation eines Oeuvres, einer organischen Entwicklung des eigenen Werks, bleibt unter diesen Umständen solchen Künstlern vorbehalten, die es noch schaffen, ein treues Publikum anzusprechen, das gemeinsam mit ihnen alt wird. Wobei dieses "alt werden", das in der Popmusik zur Ägide der Pilzköpfe noch auf fünf Jahre limitiert schien, mittlerweile ein volles, langes Künstlerleben umfasst: Dylans Aufnahmen überspannen mittlerweile einen Zeitraum von fünfundfünfzig Jahren; die Rolling Stones (deren kreative Phase freilich seit längerem abgeschlossen scheint) sind kaum kürzer im Geschäft. Was die akustische Welttapete betrifft, der Soundtracks der Saison, bei denen hergewehte Klänge aus Radios, in Supermärkten, als zufällig gesehener Fernsehspot die gleiche Melodie in allen Winkeln des Globus kurze Zeit aufklingen lassen, so ist die Welt, und die Welt der Musik, wieder auf dem Stand von 1958, als Domenico Modugno "Volare-o-o" empfindsamen Gemütern die Flügel brach, ohne den Rahmen der austauschbaren Eintagsfliege zu transzendieren.

VI
Dylan kann nicht singen. Aber auf manchen Aufnahmen schafft er es, daraus eine unvergleichliche Intensität zu schlagen. Eine Nebenwirkung ist, daß von den Intepretationen anderer Künstler oft die am eindrucksvollsten gelingen, die selbst nicht mit stimmlicher Brillanz gesegnet sind.

Wenn man Dylan als, for want of a better word, "traditionellen" Literaten unbedingt verorten will, würde sich beim einem Liederverfertiger natürlich das Rubrum des Dichters, des Lyrikers, anbieten. Es gibt aber einen kardinalen Unterschied - und der ist nicht auf Dylan beschränkt, sondern umfaßt die gesamte Bandbreite der Popmusik: als reine Lyrik, als nackter Text rezipiert, wirken die Stücke nicht. Erst durch die Melodie, durch die Instrumentierung, den Klang im Raum erhalten sie die Dimension, die sie zum Dasein benötigen, die sie erst zum Atmen bringt. Das ist freilich kein neues Phänomen: der klassischen Oper wohnt es seit jeher inne. Wenn man zur Probe einmal etwa ein Libretto von Wagner aufschlägt, läßt sich das leicht verifizieren. Umgekehrt gibt es musikalische Formen, mit denen Texte, die qua Text durchaus gelungen sein mögen, in musikalischer Umsetzung sofort jeglichen Glanz verlieren und so prätentiös wie unangemessen das Ohr des Hörers malträtrieren. Das klassische Kunstlied stellt eine solche Deplorabilität vor, von der Launischen Forelle über die Winterreise bis zum Pierrot Lunaire. Es bliebe abzuklären, ob es sich bei einer solchen Reaktion um einen nicht erworbenen Geschmack, die Absenz eines Pavlovschen Reflexes handelt, oder die Ahnung eines allgemein gültigen Sachverhalts. Für Dylan gilt zumindest ein Gleiches: die Anzahl der Hörer, die auf seine Darbietungen allergisch reagiert, auf sein näselndes Falsett, auf seine Art, einer Mundharmonika sägende Monotonie zu erzeugen, als gelte, die Nerven mit einer Flex zu malträtieren, dürfte beachtlich sein.

Festzuhalten bleibt aber, daß Dylan von allen Künstlern in seinem Beritt die meisten unvergeßlichen Songs geschrieben hat, Lieder, die sich ins innere Gemüt eingraben, die "entrañas de mi alma", die Eingeweide meiner Seele, wie es in einer Zeile von Jorge Luis Borges heißt. (Als Zweiter in diesem Belang wäre Leonard Cohen zu nennen.)

Wenn man Dylan freilich als Buchautor finster festzunageln entschlossen ist, bleibt die Ausbeute schütter. "Tarantula", nominell ein Roman und 1971 erschienen und einem Vertrag geschuldet, den ein Verlag in Goldgräberstimmung einem plötzlich hochgelobten Wortfex fünf Jahre vorher angedient hatte, beweist nur, daß, wer eine Seite voller beliebiger Metaphern niederschreiben kann, an allen Erforderungen erzählender Prosa scheitern kann, und dies gnadenlos über zweihundert Seiten hinweg. "Chronicles" von 2004, rein nominell im Gewand einer Autobiographie daherkommend, bildet zusammen mit Todd Haynes' "I'm Not There" von 2007, in dem Dylan von sechs verschiedenen Darstellern gemint wird, das genaue Gegenteil einer Selberlebensbeschreibung: es sind Etüden über die Kunstfigur "Bob Dylan", kurze Anekdoten, Abstreiten alter Legenden, die sich um diese Persona gerankt haben, von durchweg und prinzipiell zweifelhaftem Wahrheitsgehalt (und leider auch zweifelhaftem Unterhaltungswert). Aber neben den üblichen Verdächtigen, die im Vorfeld der Nobelpreisbekanntgabe genannt wurde, wurde in den letzten Tagen, neben den "üblichen Verdächtigen" N'gugi wa Thongio und Haruki Murakami, dieses Jahr auch der Name Don DeLillo genannt. Und da dessen Oeuvre in gleichem Maß obsessiv um die Themen der Identität (vor allem der persönlichen Identität über die Zeit hinweg), das Verhältnis von Metapher und Wirklichkeit, um die Nutzlosigkeit aller geschichtlichen Erfahrung und der absolute Bedeutung der erfundenen Mythologie, die sich jeder Mensch selbst erfindet und auf die er sich reduziert, an die er glauben gezwungen ist, weil es sonst nichts gibt, was ihm Halt geben könnte (und der zu ewigem Unglück verdammt ist, sobald er diesen Zusammenhang durchschaut) , kann man sagen, daß die Entität D.DeL. sich in der Wahl der Maske B.D. mitgemeint fühlen darf. 

VII
Aber reicht das für einen Nobelpreis?
Wohl nicht. Aber wenn man die Reihe der Ahnenporträts abschreitet, die in diesen Klub gewählt worden sind, stellt man schnell fest, daß man vielen begegnet, bei deren Wahl es schon seinerzeit hieß, mit ihnen würde dieser Preis verhöhnt und zu einer Parodie seiner selbst. Seit den jüngsten Zeiten: von Paul Heyse und Maurice Maeterlinck bis zu Dario Fo und Gao Xingjian. Vielleicht ist es, dem sich wandelnden Zeitgeist gemäß, das Gegenteil von "Nicht Hilfreich", sich daran zu erinnern, daß man durch nichts, schlicht nichts, dazu gezwungen ist, so etwas zur Kenntnis zu nehmen oder sich gar verpflichtet fühlt, die Bücher, Texte, oder gar die tagespolitischen Einlassungen dieser Menschen wahrzunehmen. Anders als bei Verkehrsregeln darf solches unter "unverbindliche Empfehlungen" abgeheftet werden. 

In der Rückwirkung auf die Verursacher dieser anlaßgebenden Texthalden kann man, als Ausgleich, feststellen, daß die Vergabe des Preises bei gar nicht wenigen, ob der Ernennung zum vermeintlichen Weltorakel, zu einem Verstummen geführt hat: vielleicht auch aus Furcht, an der imaginären Meßlatte, die das mit sich bringt, gnadenlos scheitern zu müssen. Zumal Lyriker scheint es hier getroffen zu haben (bei dieser Spezies handelt es sich, hier stimmt das Klischee ausnahmsweise einmal, durch die Bank um sehr empfindliche Pflanzen, die sich fortlaufend in der Gefahr sehen, sich in den Augen des lesenden Publikums mit ihrem Treiben lächerlich zu machen): Seamus Heaney, Derek Walcott und Wylsawa Szymborska etwa sind nach der Preisverleihung praktisch verstummt, und Joseph Brodsky hat sich auf leichte englische occasional verses und die Bündelung seiner früheren Gedichte beschränkt. Dylan, der neben all den vielen Rollen und Verlarvungen, mit denen er sich präsentiert hat und die sich durch eine fatale Ununterscheidbarkeit unterscheiden, war auch, spätestens seit seinem Abschied von der Moderne, immer nicht nur der Darsteller der Figur "Bob Dylan", sondern auch die Parodie davon. Die erste Schallplatte, die rundum von allen Hörer, egal mit welchem Wohlwollen sie ihm gegenüberstanden, unisono in den Orkus der Machwerke verbannt wurde, war "Self Portrait" von 1971: eine Sammlung schlecht und uninspiriert zusammengekrächzter Coverversionen (unter anderem eine unglaubliche Version von Simon and Garfunkels "The Boxer", die schlagend beweist, daß man mit genügend Entschlossenheit sogar diese unsterbliche Melodie schlachten kann). In den "Chronicles" taucht die Klarstellung ist, es handele sich hier um ein absichtsvoll mißratenes Unternehmen: um den Versuch, seine Fans abzuschrecken, ihnen den Star, bei ihm handle es sich um den unfehlbaren Messias am Pophimmel, brachial zu stechen. Dylans letzte Alben, Christmas in the Heart (2009), Shadows in the Night (2015) und Fallen Angels (2016), reihen sich in diese Parade leider nahtlos ein. Vielleicht bringt der Preis die kathartische Wirkung mit sich, daß uns für de Zukunft weitere Alben erspart bleiben.

VIII
Aber gibt es etwas, das man Freund und Feind vorbehaltlos empfehlen kann?
Gibt es: Dylans Ausflug ins Metier des Discjockeys, "Theme Time Radio Hour", die Nachstellung einer Plattenpräsentation in alten Stil, zwischen  Mai 2006 und April 2009 in 101 wöchentlichen Folgen präsentiert, in der alte und oft völlig unbekannte Titel aus den Sparten Blues, Rockabilly, frühem Soul, thematisch gebündelt nach Themen wie "Money", "Weather", "The Devil", mit 20 Titeln je Sendung mit Dylans mittlerweile durchaus sonorer Sprechstimme als akustischer Brücke einen Hallraum in ein verschüttetes Amerika öffneten, das es bestimmt nie so gegeben hat, das aber im Licht von Edward Hopper und Andrew Wyeth  immer daliegen wird, und dessen nächtliche Straßen man ad libitum durchwandern kann - vorausgesetzt, man braucht keinerlei Gesellschaft außer der Trias "Me, my shadow and I" und man dies nicht mit irgendeiner "Realität" verwechselt.

Alle Episoden gibt es zum Nachhören hier: http://www.themetimeradio.com/




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Ulrich Elkmann

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