17. Juni 2016

Villa Diodati, Genfer See, 16. Juni 1816. "Der Wachtraum der Vernunft gebiert Ungeheuer"




In jener Nacht - es ist die Nacht von Sonntag auf Montag, nach Mitternacht, "past the witching hour," liegt eine junge Engländerin, die das Jahr nach dem Sturz des Großen Napoleon, nach dem Ende der Kontinentalblockade, mit ihrem Mann (ihrem baldigen Ehemann, denn noch besteht die Ehe mit seiner Frau, von der er sich getrennt hat) und einigen Bekannten in Frankreich, in Oberitalien und während des kalten, unwirtlichen Frühsommers in der Schweiz verbringt, im halb traumversunkenen, halb nachdenklichen Zustand, Ihre Gedanken kreisen um eine spielerische Herausforderung, die am Vorabend in der geselligen Runde aufgekommen ist, nachdem man sich angesichts des naßkalten Wetters, die Zeit mit dem Vorlesen von Gespenstererzählungen vertrieben hat. Ihr späterer Ehemann und sein adliger Freund, die sich beide durch schriftstellerische Ambitionen auszeichnen, befinden, daß sie in der Lage sein sollten, selber ein schauderöses Garn, voller Geister, verfemten Adelsgeschlechtern, düsteren Omen, ganz nach dem Muster des Gehörten, niederschreiben zu können. Die große Zeit der "gothic novel", des Gotischen Schauerromans  ist vorbei; aber seine Motive werden gerne in seichter Unterhaltungslektüre verwendet. Die junge Frau, die als einzige dieses Spiel ernst nehmen wird, ärgert sich, daß ihr keinerlei Aufhänger einfällt, von dem der literarische Schrecken seinen Ausgang nehmen könnte. Erinnerungen an Gespräche der vergangenen Abende fallen ihr ein, in denen es um das gegangen war, was noch "natural philosophy", "Naturphilosophie" genannt wurde (der Ausdruck "scientist" wird im Englischen erst 1833 von William Whewell geprägt werden): die Frage nach der Natur des Lebens, nach seinem Ursprung - und ob solche Fragen jemals durch klare, nüchterne, eben wissenschaftliche Analyse ergründet werden würden.

During one of these, various philosophical doctrines were discussed, and among others the nature of the principle of life, and whether there was any probability of its ever being discovered and communicated. They talked of the experiments of Dr. Darwin, (I speak not of what the Doctor really did, or said that he did, but, as more to my purpose, of what was then spoken of as having been done by him,) who preserved a piece of vermicelli in a glass case, till by some extraordinary means it began to move with voluntary motion. Not thus, after all, would life be given. Perhaps a corpse would be re-animated; galvanism had given token of such things: perhaps the component parts of a creature might be manufactured, brought together, and endued with vital warmth.

Während einer [dieser Unterhaltungen] kamen verschiedene philosophische Ansichten zur Debatte; darunter die Frage nach der Natur des Lebens, und ob es je erforscht und publiziert werden würden, Sie sprachen über Dr. Darwins Experimente (nicht um solche, der er wirklich ausgeführt hatte, sondern die ihm zugeschrieben wurden), der Nudeln unter Glas so lange aufbewahrt haben sollte, bis in ihnen Bewegung entstanden war. Das schien unwahrscheinlich. Vielleicht aber konnte man einen Leichnam wiederbeleben; der Galvanismus schien in diese Richtung zu wiesen; vielleicht konnte man die Bestandteile eines Lebewesens künstlich anfertigen, zusammenfügen und ihr Lebenswärme einflößen.

(Kleine Anmerkung: Es handelt sich hier nicht um Charles Darwin, sondern seinen Großvater Erasmus Darwin, der schon den Evolutionsgedanken vertrat, ohne ihn in einer umfassenden Theorie zu begründen. Ahnungslose Leser der 1804 in Leipzig anonym erschienenen "Nachtwachen. Von Bonaventura" haben zumeist das Gefühl eines Zeitparadoxons, wenn sie in der Achten Nachtwache lesen: "Doktor Darwin behauptet nämlich, daß der Mensch als Mensch einer Affenart am mittelländischen Meere sein Dasein verdanke, und diese bloß dadurch, daß sie sich ihres Daumenmuskels so bedienen lernte, daß Daumen und Fingerspitzen sich berührten.")

Night waned upon this talk, and even the witching hour had gone by, before we retired to rest. When I placed my head on my pillow, I did not sleep, nor could I be said to think. My imagination, unbidden, possessed and guided me, gifting the successive images that arose in my mind with a vividness far beyond the usual bounds of reverie. I saw—with shut eyes, but acute mental vision, —I saw the pale student of unhallowed arts kneeling beside the thing he had put together. I saw the hideous phantasm of a man stretched out, and then, on the working of some powerful engine, show signs of life, and stir with an uneasy, half vital motion. Frightful must it be; for supremely frightful would be the effect of any human endeavour to mock the stupendous mechanism of the Creator of the world. His success would terrify the artist; he would rush away from his odious handywork, horror-stricken. He would hope that, left to itself, the slight spark of life which he had communicated would fade; that this thing, which had received such imperfect animation, would subside into dead matter; and he might sleep in the belief that the silence of the grave would quench for ever the transient existence of the hideous corpse which he had looked upon as the cradle of life. He sleeps; but he is awakened; he opens his eyes; behold the horrid thing stands at his bedside, opening his curtains, and looking on him with yellow, watery, but speculative eyes.

Über solchen Gesprächen wurde es Nacht, und als wir schlafen gingen, war schon die Geisterstunde vorbei. Als ich mich hinlegte, schlief ich nicht ein; ich dachte auch nicht bewußt nach. Meine Phantasie nahm mich gefangen und verlieh den Bildern, die mir in den Sinn kamen, eine Lebendigkeit, die über das übliche Maß des Gedankenspiels hinausgingen. Ich sah, mit geschlossenen Augen, aber geschärfter Phantasie - den Adepten verbotener Wissenschaften, wie er neben seinem Werk kniete. Ich sah das furchtbare Zerrbild einer Menschengestalt, hingestreckt, und dann, durch die Wirkung einer mächtigen Maschine, Lebenszeichen zeigend und sich in unsichere Bewegung setzend. Das müßte grauenvoll sein; denn eine solche Nachahmung des göttlichen Schöpfungswerks durch einen Menschen mußte eine entsetzliche Wirkung haben, Sein Erfolg würde den Künstler entgeistern; er würde vor seinem Werk voller Grauen die Flucht ergreifen. Er würde hoffen, daß der matte Lebensfunke verlöschen würde und würde vielleicht mit der Hoffnung einschlafen, daß das Schweigen des Grabes das flüchtige Dasein des Leichnam zudecken wird, den er zum Ursprung neuen Lebens machen wollte. Er schläft - aber er wird geweckt; er öffnet die Augen: sieh - an seinem Bett steht das grauenvolle Wesen, zieht die Bettvorhänge zur Seite und sieht ihn mit gelben, trüben, aber neugierigen Augen an.

I opened mine in terror. The idea so possessed my mind, that a thrill of fear ran through me, and I wished to exchange the ghastly image of my fancy for the realities around. I see them still; the very room, the dark parquet, the closed shutters, with the moonlight struggling through, and the sense I had that the glassy lake and white high Alps were beyond.

Ich schlug die meinen vor Schrecken auf. Die Vision schlug mich in Bann; ich hatte nur den Wunsch, das schreckliche Bild meiner Phantasie gegen die Wirklichkeit zu tauschen. Ich sehe sie jetzt noch vor mir; das Zimmer; die geschlossenen Fensterläden, das Mondlicht, das matt hindurchschien, und die Gewißheit, daß sich dahinter der See und die hohen weißen Alpen befanden.

Der Leser wird erkannt haben, daß es sich bei der jungen Frau, die die Genese ihrer Geschichte fünfzehn Jahre, 1831 später im Vorwort der dritten Auflage schildert, um Mary Shelley handelt (oder genauer: um - noch - Mary Wollstonecraft Godwin; sie wird Percy Bysshe Shelley erst am 30. Dezember dieses Jahres heiraten), und bei dem fraglichen Text um "Frankenstein: or, The Modern Prometheus", jener Fabel, jenem fabulierten Wesen, das über die Ursprünge aus den Befindlichkeiten des gotischen Schauerromans auf der einen Seite und der Weltanschauung des "Byron'schen Helden" der literarischen Frühromantik auf der anderen hinaus, ein doppeltes - und wie es sich für ein solches Geschöpf gehört - unsterbliches (ein untotes?) Nachleben gewonnen hat.

Da ist zum einen die Figur des "Schraubenkopfs", des "Bruders Ungeschlacht", jener direkten Verkörperung als Gestalt der mittlerweile ihrerseits als klassisch geltenden Filmversionen, von den amerikanischen Universal-Versionen der frühen 30er Jahre bis zu den Remakes der Hammer-Studios ein Vierteljahrhundert später. Von den "klassischen" Gestalten der filmischen Schrecken - neben dem Vampir, dem Zombie und dem Werwolf - ist diese Gestalt als erste zu einer Selbstparodie verkommen; die schon nach zwei oder drei Leinwandauftritten nur noch als lächerliches Zerrbild sein Dasein fristen konnte (der zweite Auftritt Boris Karloffs in dieser Rolle, in "Frankensteins Braut", markiert das Ende; schon in "Arsen und Spitzenhäubchen/Arsenic and Old Lace" von 1940 ist für diese Figur nur noch die Stufe der Travestie möglich; ein Schicksal, das dann bis zur Rocky Horror Picture Show das gesamte Standardpersonal dieses Genre ereilen wird). Zum anderen findet sich hier, transformiert und seiner Geisterbahn-Attribute entkleidet, eine literarische Gestalt, die auf ein wesentliches Charakteristikum der literarischen Moderne verweist: der vaterlose, verstoßene Protagonist, der in eine sinnlose, jeder Hoffnung auf Erlösung bare, grausame Welt ausgestoßen wird und der entweder keinen Schöpfer mehr hat, der dieser Welt - und dem eigenen Auf-dieser-Welt-Sein einen Sinn oder Zweck geben könnte. Im Fall von Frankensteins Schöpfung hat dieses Wesen zwar einen Erzeuger, der es aber von Anfang an vor Entsetzen verstößt. Die einzige Haltung, die sein Dasein und sein Tun antreiben kann, ist der Aufstand, die Revolte, der Wunsch, seinerseits diesen Schöpfer zu vernichten. Anders als in den filmischen Varianten, egal auf welcher Ebene der Travestie, ist in der Romanfassung das Wesen ja nicht durch Vorbelastung zum Schlechten prädestiniert ("Igor, you idiot: you picked the wrong brain!"), sondern durch die Zurückweisung seiner Umgebung, Die existenzialistische Welthaltung, die dann im nachfolgenden zwanzigsten Jahrhundert so viele Sinnsucher bis hin zu Sartre prägen wird, findet sich hier, unter den Arabesken der schauerromantischen Attribute.

Zum anderen steht der Roman am Anfang einer Literaturgattung, die die Befindlichkeiten und Themen des populärliterarischen Sensationsromans, erweitert um das Gefühlspektrum des Sturm und Drang, in einen Spiegel der Moderne verwandelt. Salopp und verkürzt gesagt: der alte Schrecken bezieht seine Effekte aus einer imaginierten Vergangenheit; seine Kulissen evozieren ein (oftmals so schlicht wie schemenhaft) umrissenes Mittelalter, seine Staffage entspricht den Ritter- und Räubergeschichten, wo denen Goethe hoffte, daß ein günstiges Geschick sie den Amerikanern ersparen möge - diese Ironie der nachfolgenden Literaturgeschichte von Edgar Allen Poe bis Stephen King ist oft vermerkt worden. Viktor Frankenstein operiert nicht mit magischen Mitteln; er bedient sich nicht der Alchemie, sondern der Wissenschaft seiner Zeit: als lebensspendendes Fluidum seiner Kreatur dient die Elektrizität eines Blitzes. Nicht der Teufelspakt, sondern unendliche Experimentalreihen führen zum Gelingen des Unterfangens. Bei allem Gefälle zum zeitgleich entstandenen Faust weist der Moderne Prometheus auf eine zentrale Verfaßtheit der Moderne, der lebensweltlichen wie der literarischen, voraus. Wissenschaft und menschliche Selbstüberschätzung öffnen die Büchse der Pandora; zwar stehen die Fragen der Sinnstiftung, der Verantwortlichkeit, des Leidens an der Welt, unübersehbar im Zentrum, aber mit der Verantwortung bleiben die Sterblichen allein. Brian W. Aldiss war der erste Kritiker, der in dieser Haltung das Charakteristische sah, das den Kern, zumindest einen der Kernbereiche, der modernen Science Fiction ausmacht, und ihn zum ersten vollgültigen Exemplar dieses Genres erklärt.

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Mary Shelleys Mitstreiter beim Abfassen einer Gruselgeschichte lassen dieses trivial pursuit schon am nächsten Tag beiseite: von Lord Byron bleibt ein Versfragment von gut 8 Druckseiten, das 1819 als Anhang seines Versepos Mazeppa gedruckt wird;  Percy Bysshe Shelley hinterließ einen Prosaauftakt von einer guten halben Seite, der bis lange nach seinem Tod ungedruckt blieb; Marys Halbschwester Claire Claremont  - die zu dieser Zeit schon Byrons Geliebte geworden war -  fühlte sich nicht herausgefordert, und Matthew Gregory Lewis, der Verfasser des zu seiner Zeit als notorischstem und grellsten verschrieenen Schauerstück, "The Monk" von 1796, traf erst Anfang Juli in Genf ein. Lediglich John Polidori, den Lord Byron zwei Monate vorher, "offiziell" sozusagen, als Arzt für die Reisegruppe eingestellt hatte, entwickelte genug Energie, um seinerseits einen längeren Text zu Ende zu bringen, The Vampyre, der ebenfalls 1819, ohne Verfasserangabe, erschien, und der zunächst als Werk Byrons  - "A Tale by Lord Byron" -  verlegt: sowohl im Magazinabdruck im New Monthly Magazine im April wie auch bei der Buchausgabe einen Monat später bei Sherwood, Nelly & Jones in London (bei einem Umfang von 84 Seiten für die Buchausgabe scheint die Bezeichnung "Roman" leicht übertrieben). Letztlich ist diese Episode in der Villa Diodati in ihren Einzelheiten belanglos. Welche Details, welche spezifischen Anregungen hier eingeflossen sind - einschließlich des Zufalls, daß ohne diese verregneten Tage die Genese eines ganzen literarischen Genres auf einen Mosaikstein verzichten müsste - ist seinerseits ein Fall von trivial pursuit (das allerdings von Literaturinteressierten und -fans - zu denen sich der Autor dieser Zeilen selbstredend niemals zählen würde - mit frivoler Hingabe betrieben wird). Drei Tage nach jenem Sonntagabend klärte das Wetter zum ersten Mal auf, seit Byrons Entourage am 10. Juni die Villa Diodati bezogen hatte, und Shelley wie Byron konnten sich dem widmen, wozu sie nach Genf gekommen waren: nämlich sich auf literarische Pilgerfahrt zu begeben: zu Madame de Staels Anwesen in Coppet, zu Voltaires Altersrefugium in Verney, zu den Schauplätzen von Rousseaus Roman Julie ou la Nouvelle Héloïse von 1761 und zu Bergausflügen in die Gletscherwelt des Berner Oberlandes. Schon die Anmietung des Sommerwohnsitzes war Teil dieser Spurensuche: Byron hatte aus dem Namen der Familie Diodati fälschlich geschlossen, dies sei das Haus, in dem John Milton 1638 bei seiner Rückkehr von Italien nach England kurze Zeit Station gemacht habe, um der Familie seines kurz vorher verstorbenen Freundes zu kondolieren.

Der Sommer des Jahres 1816 ist in die Klimageschichte als das "Jahr ohne Sommer" eingegangen. Nach dem Ausbruch des Vulkan Tambora in Java im Jahr zuvor, einer der größten Eruptionen der Geschichte, die den Ausbruch des Krakatau im Jahr 1883 um ein Vielfaches übertraf, war es durch die gewaltigen Aschemengen, die in der Stratosphäre verblieben waren, weltweit zu einem Temperaturrückgang von durchschnittlich 1,5 Grad gekommen; mit Auswirkungen auf das Wetter, die weitaus heftiger ausschlugen, als es dieser schüttere Wert zunächst vermuten lässt. Das Londoner Gentleman's Magazine für den Monat Juli 1816 vermeldet für die kontinentalen Verhältnisse:

SWITZERLAND.
The weather in several parts of the Continent has been such, that in England we should rather rejoice at our exemption, than comlain of our sufferings. From all parts of Europe there are accounts of the dreadful ravage of storm and tempest, of lighning, thunder, and rain. These ravages have not been partial; every kingdom has had its share in the dreadful visitation. Switzerland appears to have been more afflicted than any other country. The canton iof laris is represented to be in the last degree of msiery and want. The Birs and the Birsig have broken their banks, carried away the bridges, and inundated large tracts. The Canon of Basle is in a dreadful state. The plains, the grain, and every other produce of the earth, is under water. In Germany the destruction is nearly as great. In Saxony, in the Grand Duchy of Wortzburg, the husbandman is in utter despair. Turkey, Hungary, Italy, and the whole of the Eastern part of Europe, have suffered largely. (S. 72)

Im einzelnen bedeutete das, daß die Tages- besonders aber die Nachttemperaturen weit unter denen eines frühsommerlichen Juniversums blieben. Anfang Juni hatten die Mittagstemperaturen in Genf noch bei 18°C gelegen; bis zum 14. und 16. fielen sie auf 8 beziehungsweise 6 Grad (natürlich wurde damals noch nicht in Grad Celsius gemessen; sondern in Reaumour); für den ganzen Monat vermelden die Wetteraufzeichnungen nicht einen einzigen Sonnentag (die Einzelheiten lassen sich dieser Arbeit, bes. Abb. 2, entnehmen). Auch die "verschollene Charteque" (so Arno Holz' Schreibweise in seiner Barock-Poesie-Parodie des "Schäfers Daphnis" von 1904) braucht man nicht näher in Augenschein zu nehmen. (Es handelt sich um den Band "Fantasmagoria", 1812 ohne Herausgeberangabe in Brüssel erschienen; mit 8 ins Französische übersetzten Spukerzählungen, die zumeist der 1805 von Laun und Apel verfassten Sammlung "Das Gespensterbuch" entnommen waren), die John Polidori drei Tage vorher beim Besuch einer Genfer Leihbibliothek ausgeliehen hatte. Byron selbst vermied den Ort nach Möglichkeit, um den zahlreichen englischen Touristen zu entgehen, die ihm den Aufenthalt im Hôtel Angleterre verleidet hatten, als er dort am 1. Juni abstieg. Es liegt eine hübsche, kulturinvariante Ironie darin, daß das Dasein eines Rockstars sich im Alltagstrott überaus unleidig erweist - und das anderthalb Jahrhunderte vor der Erfindung des Superstars von Mick Jagger bis Michael Jackson. Aber Byron entsprach dieser Rolle avant la lettre vollauf: mit einem relativ schmalen dichterischen  Oeuvre, den ersten beiden Bänden des ironisch-satirischen Versromans "Childe Harolds Pilgrimage", dafür aber einem Ruf als skandalösem Egomanen, jede Moral verachtenden Zyniker und verantwortungslosem Prasser und Verführer (nicht zuletzt wüsten Gerüchten, daß er eine inzestuöse Beziehung zu seiner Halbschwester gehabt habe) - "mad, bad, and dangerous to know", wie seine zukünftige Schwiegermutter Charlotte Lamb ihre Tochter Augusta vorgewarnt hatte: nicht ganz zu Unrecht. Zwei Wochen nach der Geburt seiner Tochter Ada im Dezember 1815 verließ sie Byron; für immer. Ada Lovelace ihrerseits ist Informatikern durch die Erstellung des ersten Computer-Programms der Welt im kollektiven Gedächtnis geblieben.)

Avant la lettre erweist sich der 16. Juni auch, weil er als literarischer Gedächtnisort, als Zündmoment eines Werkes von weitreichender Wirkung, erst ein Jahrhundert später in die Bücherwelt eintritt: am 16. Juni 1904, dem Tag, als in Dublin ein gewisser James Joyce einer gewissen Nora Barnacle begegnete und der achtzehn Jahre später zum Handlungszeitraum des Ulysses avancierte und der seit der fünfzigsten Wiederkehr dieses sowohl  realen und fiktionalen Datums Jahr für Jahr Anlaß zu so alkoholischen wie erkenntnisfreien Re-enactments anläßlich des "Bloomsdays" bietet. Womit sich der Kreis des trivial pursuits, der Spurensuche  in der von Ahnungslosen "wirkliche Welt" genannten Kulisse, trefflich schließt.

(PS: Als literarischer Pilgerort ist dieser spezielle Nexus in Raum und Zeit übrigens seinerseits zum Ziel von Zeitreisenden geworden - virtuellen (den Protagonisten dieser Werke) wie denen mit "acute mental vision", die ihre Visionen zu Papier bringen: in Brian Aldiss' Roman "Frankenstein Unbound" von 1973, in Reinhard Kaisers "Der kalte Sommer des Doktor Polidori" von 1990 oder in Walter Jon Williams' Novelle "Wall, Stone, Craft" von 1993. Oder am ambitioniertesten in der Entwicklung eines narrativen Kosmos und das mythologischen Anspielungs-Hallraums Tim Powers's Roman "The Stress of Her Regard" von 1989. Am nachhaltigsten im Gedächtnis geblieben ist davon vielleicht Ken Russells Filmversion "Gothic" von 1986, der aus den Erwähnungen von Laudanum im Tagebuch von Claire Clairmont als Mittel gegen ihre neuralgischen Schmerzen eine so wüste wie ziellose Kaskade von Drogenhalluzinationen ausfächert, deren Erkenntnisgewinn für den nicht in dieser Weise geflügelten Betrachter in der Erfahrung liegt, daß heftiges Sodbrennen nicht nur über den Magen, sondern auch über den Sehnerv ins Hirn transportiert werden kann.)  






  (Obere Abb.: Frontispiz der Ausgabe des "Frankenstein: or: The Modern Prometheus" von 1831; untere Abb.: die Villa Diodati; anonymer Stahlstich des 19. Jahrhunderts)












    

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Ulrich Elkmann

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