4. April 2016

Aus der Schwalbenperspektive (7): Der Reiz der Ungerechtigkeit


Fußball ist auf deutschen Sportplätzen und Bildschirmen nach wie vor die Königsdisziplin. Gleichwohl wird das Lamento über die Unzulänglichkeiten des Kickspiels immer lauter: Deutscher Meister werden voraussichtlich wieder die Bayern, der einzige rechnerisch noch mögliche Konkurrent um die Schale ist der BVB – das hat man in den letzten Jahren oft genug gesehen. Und wer bei der begeisternden Handball-Europameisterschaft oder dem Damenfinale der Australien Open mitgefiebert hat, mag sich wundern, warum die „schönste Nebensache der Welt“ (Uwe Seeler) von vielen Zeitgenossen als solche empfunden wird.

Zettel hat sich diese Frage in einem seiner frühesten Beiträge gestellt und dabei einige wesentliche Punkte herausgearbeitet. Ein bedeutsamer Aspekt scheint mir darin jedoch zu fehlen, nämlich dass der Reiz des Fußballs auch darin liegt, dass der Gute nicht immer belohnt und der Schlechte nicht immer bestraft wird, sondern dass es manchmal genau umgekehrt ist.
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Ein bezeichnendes Beispiel für diese These ist etwa die Begegnung Schalke gegen Mönchengladbach am 27. Spieltag der Fußballbundesliga. Nach wohl kaum bestrittener Meinung gewann bei dieser Partie die schlechtere Mannschaft (die Gelsenkirchener). Die beiden Eigentore der Borussen fielen schon beinahe ins komödiantische Fach. Nach landläufigem Maßstab mag ein solcher dreckiger Sieg ungerecht sein, im Fußball ist dergleichen aber keine Seltenheit.

In anderen Sportarten ist ein Triumph des leistungsmäßig Unterlegenen hingegen ausgeschlossen: Angelique Kerber war an jenem denkwürdigen Tag in Sydney ungeachtet ihrer Weltranglistenposition einfach besser als Serena Williams, weil sie mehr Punkte respektive weniger Fehler machte als die Amerikanerin. Anders als ihre aussichtsreichsten Mitbewerberinnen schoss Laura Dahlmeier bei der Biathlon-Weltmeisterschaft in der Verfolgung makellos und legte eine starke Nettolaufzeit hin, sodass ihre Goldmedaille mehr als verdient war. Als Wilfried Dietrich – um ein schon etwas älteres Exempel heranzuziehen – den deutlich größeren und schwereren Chris Taylor in einer den Gesetzen der Physik trotzenden Akrobatik über Kopf auf die Matte beförderte, hatte der „Kran von Schifferstadt“ eine Brillanz in seinem Metier unter Beweis gestellt, die den Sieg rechtfertigte.

Erfolge der schwächeren Mannschaft lassen sich im Fußball nicht abschalten, es sei denn, man wollte diese Sportart einer großen Transformation unterziehen. Einen anderen Umstand, der für die Ungerechtigkeit auf dem Platz verantwortlich ist, könnte man hingegen ohne viel Federlesens ändern: Die Rede ist von der faktischen Allmacht des Schiedsrichters, der in Sekundenschnelle Entscheidungen treffen muss und dabei nur auf menschliche Assistenten mit ebenfalls täuschbaren Sinnen, nicht jedoch auf technische Hilfsmittel zurückgreifen darf. Die Versuchung, sich außerhalb des Blickfeldes der Männer mit der Pfeife bzw. den Fahnen einen Vorteil zu erschleichen, ist also groß. Im Fußball gewinnt somit bisweilen nicht nur der Schlechtere, sondern auch der Bösere. Und manchmal profitiert ein Team ganz ohne doloses Zutun von einer Fehlentscheidung.

Man erinnert sich nur zu gut an die berüchtigte „Schutzschwalbe“, die einen Elfmeter nach sich zog, die „Hand Gottes“, die den Ball im gegnerischen Kasten versenkte oder das legendäre Wembley-Tor und die nicht weniger sensationelle Wiedergutmachung bei der Weltmeisterschaft 2010. Mit dem Videobeweis und der Torlinientechnik könnte man diese Regelverstöße und Unklarheiten auf einen Schlag beseitigen. Der Fußball würde dadurch gerechter. Aber würde er auch interessanter? Sind es nicht gerade Szenen wie Möllers kontaktfreier Fall, Maradonas Ausflug in den Handballsport oder die Frage „Tor oder kein Tor?“, die uns noch Jahrzehnte später im Gedächtnis haften und zur Belebung einer mundfaulen Stammtischrunde problemlos hinreichen? Was wären die Annalen des Fußballs ohne diese Aufreger und – in jedem Sinne des Wortes – Reizthemen? Welche andere Sportart kann mit einer solchen langen Liste an spielimmanenten Skandalen und Skandälchen aufwarten?

Mehr Gerechtigkeit führt zu weniger Reiz. Das gilt natürlich nur im Fußball. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt und diese Hypothese auf andere Bereiche des menschlichen Zusammenlebens ausdehnen möchte.

Noricus


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