20. November 2015

Sind wir abwehrbereit?

Am 10. Oktober 1962 veröffentlichte der Spiegel den denkwürdigen Artikel "Bedingt abwehrbereit", in dem er die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr im Falle eines Angriffs durch den Warschauer Pakt in Zweifel zog. Die Folgen sind bekannt, es gab zwar keinen sowjetischen Angriff, aber eine der geschichtsträchtigsten Affären und lebhaftesten Debatten der noch jungen Bundesrepublik. Interessanterweise spielt der Inhalt des Artikels in der Rückschau keine Rolle mehr.

Liest man ihn heute durch (was ich nur empfehlen kann), so fällt vor allem eines auf: Der aus heutiger Sicht geradezu auf militaristische Weise entschlossene Tonfall des ehemaligen Frontsoldaten und Pressesprechers des "Amtes Blank", Conrad Ahlers, sich im Verbund mit der NATO einem eventuellen Überfall auf jede nur denkbare Weise entgegenzustellen - Atomwaffeneinsatz inklusive. 

Die Zeiten haben sich geändert - heute steht mehr die unzureichende Kinderbetreuung und das Fehlen attraktiver Arbeitszeitmodelle bei den deutschen Streitkräften im Fokus der Berichterstattung des abgerüsteten Sturmgeschützes der Demokratie, denn, was Ahlers damals offenbar nicht wusste: "Krieg führen kann jeder"

Im Lichte des Terroranschlags von Paris wurde viel über Angst und Entschlossenheit gesprochen. Merkel, Gabriel, Maas und de Maizière nahmen die Debatte zum Anlass, um das zu tun, was laut Harald Schmidt die Deutschen am besten können. Mit großem Getöse kündigten sie an, zu viert zum "Freundschaftsspiel" (aus der Schwalbenperspektive betrachtet sollte man mit diesem Begriff nicht leichtfertig umgehen, immerhin sollte es gegen Holland gehen) anzureisen, um "ein Zeichen gegen den islamistischen Terror [zu] setzen"!


Zufällig hatte ich - als Teil einer größeren Gruppe, zahlenmäßig ungefähr gleich besetzt mit Deutschen und Niederländern - für das Spiel eine Karte und freute mich schon darauf, den wetstrijd in gegenseitiger Frotzelei zu verfolgen. Wir nahmen gerade das Abendessen in einem Restaurant in Sichtweite des Stadions ein, ständig geblendet von endlosen Blaulichtkolonnen, als wir von der Absage aufgrund einer Bombendrohung hörten, kurz darauf noch die Warnung, die Innenstadt in Bahnhofsnähe zu meiden. 

Was ich dann erlebt hatte, und was in mir ein mindestens genau so merkwürdiges Gefühl hinterlassen hat wie das unmittelbare Erleben der Tatsache, dass nun auch in Deutschland Großveranstaltungen als mögliches Anschlagsziel gelten, war die dann einsetzende Gruppendynamik. 

Es war nämlich keineswegs so, wie ich mir das immer vorgestellt habe und auch beispielsweise aus Erzählungen von Älteren, beispielsweise von Erlebnissen aus dem Luftschutzbunker, kenne - dass so ein Ereignis eine Gruppe zusammenschweißt. Im Gegenteil waren die meisten Leute damit beschäftigt, auf ihren Smartphones die Nachrichten zu lesen, auf Twitter und Facebook zu posten und permanent über Whatsapp zu chatten. Nicht dass ich nicht auch eine Nachricht zur Beruhigung an alle abgesetzt hätte, die wussten, dass ich vorhatte, zum Spiel zu gehen, das ist ja das Normalste von der Welt. Aber ich fand es gespenstisch zu erleben, dass sich aus dieser Ausnahmesituation keinerlei spirit entwickelt hat. Dass die, die ruhig geblieben sind, sich kaum einmal mit denen, die offensichtlich verängstigt waren, beschäftigt haben, um sie zu trösten.

Ich weiß nicht, ob ich mir das nur eingebildet oder völlig verzerrt wahrgenommen habe; ich weiß nicht, ob ich irgendwas von dem hier nachvollziehbar transportieren kann, was mir durch den Kopf gegangen ist. Wahrscheinlich nicht, wenn ich es mir so durchlese. Aber ich fand es symbolisch dafür, dass wir trotz allen Beschwörungen weit entfernt davon sind, einer möglichen terroristischen Bedrohung in Deutschland entschlossen ins Auge zu sehen. Nicht, weil wir Angst haben. Sondern weil wir nicht gelernt haben, mit der Angst umzugehen. Abwehrbereitschaft hat heute weniger mit Ressourcen an Waffen und Sicherheitskräften zu tun, wie in der Zeit der Spiegelaffäre. Abwehrbereitschaft ist eine Geisteshaltung, und der Spiegel-Artikel lässt keinen Zweifel daran, dass diese Geisteshaltung im Jahr 1962 von ganz links bis ganz rechts Konsens war.

Ich sehe als Teil einer Generation, die keinen Krieg, kaum Gewalt und Kriminalität sowie ein nie dagewesenes Maß an Wohlstand erlebt hat, kaum Potenzial, sich in absehbarer Zeit auf eine veränderte Sicherheitslage einzustellen. Wir haben die Verantwortung für die Sicherheit und den Wohlstand bereitwillig an den Staat und die Verantwortung für unsere Gedanken an Medien und Facebookgruppen abgetreten. Deshalb findet auch nur eine Debatte darüber statt, was Merkel tut oder was Kleber sagt. Egal ob die Bombe hochgeht oder nicht, wichtig ist doch nur, welchem Politiker und Journalisten man die Schuld zuschieben kann. Oder noch schlimmer, wem sie politisch nützt oder schadet. Das ist der heutige Konsens - von ganz links bis ganz rechts.

Ich habe mich vorgestern abend nicht von Frau Merkel und nicht vom ZDF im Stich gelassen gefühlt. Ein bisschen mehr Zusammenhalt in der Gruppe hätte mir deutlich mehr Zuversicht verschafft als irgendeine politische Äußerung oder Handlung. Aber dazu sind wir wohl nicht einmal bedingt bereit.
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Meister Petz

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