Thomas Rietzschel, Die Achse des Guten (Quelle)
Kommentar:
Die Frage nach dem Thema kann sich auch ein konsequenter Neujahrs-, Weihnachts- und sonstiger Gedunkansprachenverweigerer wie ich sparen, denn es gibt nur eines: Pegida. Ein medialer Hype, dem sich offensichtlich nicht einmal die Kanzlerin entziehen kann, die ja erfahrungsgemäß der Seismopolitik à la Horst Seehofer auch nicht abgeneigt ist.
Aber nun zum Text. Die von Rietzschel mit harscher Kritik bedachten Worte lauten im Original so:
Eine Folge dieser Kriege und Krisen ist, dass es weltweit so viele Flüchtlinge gibt wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Viele sind buchstäblich dem Tod entronnen. Es ist selbstverständlich, dass wir ihnen helfen und Menschen aufnehmen, die bei uns Zuflucht suchen.
Kürzlich erzählte mir jemand von einem Kurden, der heute Deutscher ist. Vor vielen Jahren sei er aus dem Irak geflohen – unter sehr schwierigen Bedingungen. Unter Lebensgefahr. Er habe gesagt, das Wichtigste sei für ihn in Deutschland, dass seine Kinder hier ohne Furcht aufwachsen könnten.
Das ist vielleicht das größte Kompliment, das man unserem Land machen kann: dass die Kinder Verfolgter hier ohne Furcht groß werden können.
Und das war auch ein Motiv der vielen Menschen, die vor 25 Jahren in der DDR jeden Montag auf die Straße gingen. Hunderttausende demonstrierten 1989 für Demokratie und Freiheit und gegen eine Diktatur, die Kinder in Furcht aufwachsen ließ.
Heute rufen manche montags wieder „Wir sind das Volk“. Aber tatsächlich meinen Sie: Ihr gehört nicht dazu – wegen Eurer Hautfarbe oder Eurer Religion.
Deshalb sage ich allen, die auf solche Demonstrationen gehen: Folgen Sie denen nicht, die dazu aufrufen! Denn zu oft sind Vorurteile, ist Kälte, ja, sogar Hass in deren Herzen!
Und, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, welch großes Glück es ist, dass wir seit bald 25 Jahren in einem in Frieden und Freiheit geeinten Land leben können, das konnten wir trotz aller Anstrengungen und trotz aller Probleme auch unseres Alltags gerade auch in diesem Jahr spüren.Rietzschel bezieht die Zuschreibung von "Vorurteilen, Kälte, ja sogar Hass in deren Herzen" nicht auf diejenigen, "die dazu aufrufen", sondern auf alle, die mitmarschieren. Das mag nicht in der Intention der Kanzlerin gelegen haben, das muss man der Redlichkeit halber einräumen.
Aber im Übrigen ist seine Sicht durchaus korrekt: Wenn ein Bürger von seinem Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit Gebrauch macht, geht das die Kanzlerin erst mal gar nix an.
Und was die "Aufrufer" angeht: Dass die Organisatoren einer Demo gegen den Irakkrieg völlig frei von Vorurteilen und Hass sind, kann man auch nicht annehmen. Man muss demnach feststellen: Argumentativ steht die Aussage eher auf tönernen Füßen. Was hat die Kanzlerin also geritten?
Dass man sich zum Thema auch klar positionieren kann, ohne so direkt mit dem Finger auf die Demonstranten in Dresden zu zeigen, hat der Bundespräsident eine Woche vorher gezeigt. Er nannte ebenfalls ein positives Beispiel für die Aufnahme von Flüchtlingen und kommentierte lediglich:
Dass wir mitfühlend reagieren auf die Not um uns herum, dass die Allermeisten von uns nicht denen folgen, die Deutschland abschotten wollen, das ist für mich eine wahrhaft ermutigende Erfahrung dieses Jahres.Die Kanzlerin geht weit darüber hinaus. Rietzschel sieht in seinem Kommentar die Ursache in Merkels kommunistischer Sozialisation in der DDR. Ich glaube nicht einmal, dass dort die so häufig bemühte "ehemalige Propagandasekretärin der FDJ" gesprochen hat.
Meine Vermutung ist eine andere: Der Zorn der politischen Klasse gilt der als widerrechtlich empfundenen Aneignung der Parole "Wir sind das Volk!". In der an nationalen, staatstragenden Symbolen armen Berliner Republik ist dieser Satz sozusagen der einzige unumstrittene Gründungsmythos. Deshalb beharrt die Kanzlerin öffentlich so vehement auf der - mittlerweile verstaatlichten - Definitionshoheit für diesen Satz.
Merkel ist nicht die erste, die die Parole im Fall von Pegida nationalistisch, ja völkisch interpretiert - dies ist die gängige Deutung in den Medien seit Beginn der Proteste:
Auch der Ruf der Pegida-Protestierer „Wir sind das Volk“ ist eine Umdeutung. Er stand für die friedliche Revolution und den Kampf um Freiheit, jetzt steht er für Abgrenzung. (FAZ)Natürlich ist davon auszugehen, dass einige der Demonstranten tatsächlich eine nationalistische Einstellung haben, der sie Ausdruck verleihen. Aber die Pauschalisierung greift zu kurz, denn sie übersieht zwei Aspekte: Zum einen zeugt diese "Verführer-und-Rattenfänger"-Beschreibung der Pegida-Organisatoren nicht gerade von Respekt gegenüber ihren "Mitbürgerinnen und Mitbürgern", die sie offensichtlich für eine tumbe und lenkbare Masse hält und deshalb sozusagen von Staats wegen erziehen muss.
Zweitens ist es mittlerweile bei Protestveranstaltungen aller Art üblich, "Wir sind das Volk" zu skandieren - beispielsweise gegen Stromleitungen. Es kommt vorrangig dann zum Einsatz, wenn sich Bürger von "denen da oben" übergangen, schikaniert, außen vor gelassen fühlen.
Interessanterweise ist die veröffentlichte Meinung bei ihr genehmen Themen wie Kernkraft oder Irakkrieg dann automatisch auf der Seite der Demonstranten. Broder, Joffe, Maxeiner und Miersch haben diesen Effekt unter dem Begriff "authentisch" einmal so zusammengefasst:
"Authentisch ist, wenn in einer Bürgerversammlung fünf hochkarätige Wissenschaftler dargelegt haben, warum der Neubau eines Golfplatzes kein bedrohliches Risiko darstellt, und dann einer aufsteht und sagt: 'Aber ich habe Angst.' Dann können die fünf Experten einpacken und die Journalisten wissen, wem sie ihr Mikrofon unter die Nase halten."Dies gilt aber nicht in diesem Fall:
Nur einen Spruch rufen sie immer wieder: "Wir sind das Volk". Aber auf die Frage, welches Volk sie denn meinen, wer dazugehört und wer nicht, möchten sie nicht antworten, zumindest der Presse nicht. Ein Volk hat sich nicht zu erklären. Es ist einfach da und hat deshalb recht. (DIE ZEIT).Wie auch immer man zur Pegida-Bewegung stehen mag - eines ist offensichtlich: Mit ihrer paternalistischen Warnung schüttet Merkel geradezu einen Niagarafall auf die Mühlen derer, die aus dem Grund zu Pegida gehen (und meiner Vermutung nach sogar deren Mehrheit stellen), weil sie von "denen da oben" die Schnauze voll haben. Mehr "die da oben" geht nicht.
Ob das, wie Rietzschel vermutet, Merkels politische Überzeugung ist oder sie nur auf den Stimmungszug aufgesprungen ist, ist gar nicht so wichtig. Ich hätte mir nur gewünscht, dass die "Klartext-Kanzlerin" (taz), wenn sie schon zu Parolen auf Demonstrationen Stellung bezieht, auch Klartext dazu gesprochen hätte, dass "manche" wieder "Tod den Juden" (ab 2:55) rufen. Aber ob man denen folgen will oder nicht, das scheint der Kanzlerin nicht so wichtig zu sein. Das kann sie ihren "Mitbürgerinnen und Mitbürgern" selbst überlassen.
Meister Petz
© Meister Petz. Titelvignette: Angela Merkel, Hamburg, May 2014. Quelle: www.glynlowe.com unter CC BY 2.0. Für Kommentare bitte hier klicken.