11. November 2014

Die Evolution kennt keine Moral (Teil 2). Gastbeitrag von Ludwig Weimer

Terror, Kriege und Leid zeigen eine steigende Tendenz.

Die Frage war, ob die Naturwissenschaft gegen das Böse in der Menschenwelt helfen könne und ob sie dafür nicht auf einen anderen Bundesgenossen angewiesen sei. Zweifellos hat sie ja eine Mitverantwortung, da ihre Ausnutzung zu technischen Fortschritten auch die Gefahren erhöht.

Der Philosoph Hans Jonas war von dem Gedanken bewegt, wie sehr das Abenteuer des Lebens und des Geistes auf diesem Planeten in unsere Hände gelegt ist. Es sei die Pflicht der Wissensmacht, das kosmische Abenteuer nicht scheitern zu lassen. Er hatte eine bescheidene Hoffnung: Kein irdisches Paradies, aber eine „Weiterwohnlichkeit der Welt“.

Ob das Raumzeitabenteuer Mensch und Geist im Wollen eines außermateriellen Geistes begründet sei, sei eine Glaubenssache und kein Ergebnis der Naturwissenschaft, sagt er. Mit dem Menschen erscheinen das Wissen, die Freiheit und die Verantwortung. Die Unschuld des Lebens sei zuende, die Dinosaurier-Unschuld auch, es agieren nun Gut und Böse.

Die Schuld von Auschwitz belaste den Gott der Gläubigen, sie müssten ihn reinwaschen.

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Eine subtile, gegen den Strich gebürstete und manchmal ironische Analyse der Freiheit zum Bösen nahm sich schon Friedrich Nietzsche in „Die fröhliche Wissenschaft“ vor. „Dies alles bin ich, will ich sein, / Taube zugleich, Schlange und Schwein!“ Jeder suche doch seinen Vorteil, wer wolle sich schon opfern, man will, dass es andere tun. Und Edle, Aufopfernde könnten gerade für ihr Ziel ihren Trieben unterliegen. Was sei Liebe anderes als besitzen wollen? Jeder will Zuwachs seines Machtgefühls. Gerade der Höhepunkt der Evolution, das menschliche Bewusstsein, komme zu Irrtümern, mache Missgriffe, wirke mit bösem Stolz. „Wir sind alle wachsende Vulkane.“

Die Moderne zuckt die Schultern über den angestaubten Begriff „Heiligkeit des Lebens“.

Die Errungenschaften der Naturwissenschaft führten zur sexuellen Befreiung des Menschen. Wie wurde schon die Erfindung der Pille gefeiert! Zum ‚wahren‘ Problem, Stoff der meisten Romane: Auflösung der Ehe durch die Liebe, hat die Naturwissenschaft nur zu sagen: Das machen die und die Tiere auch. Machen sie all das: Eliminierung Behinderter, ja; Schwangerschaftsabbruch?

Die Gefahren sind vielfältig. Fitness, ewige Jugend ist der Leitbegriff, nicht mehr das biedere „Gesundheit“. Die elektronische Überwachung des Menschen will die Verbrechen verhindern, aber ist selbst ein Verbrechen gegen die Freiheit des privaten Ich.

Die durch die Wissenschaft erschlossenen Kräfte der Natur gelten vielen als Ersatz für die verlorene Religion. Da irrte sich schon die Romantik. Eine heutige esoterische Harmonie mit den kosmischen Energien hilft gegen das Böse wenig. Selbst der aufgeklärte Lebensästhet kann das Böse bei sich und anderen nicht unter Kontrolle bringen. Die gesamte Gesellschaft von allen Fehlern und Übeln zu befreien, scheint unmöglich. Allein durch Wissen, Unterricht, Bildung und Gesetz gelingt es jedenfalls nicht.

Wir suchen als Menschen unseres Zeitalters immer eine Kraft als Ursache. Eine andere können wir uns nicht vorstellen. Die End- und Formursachen der Scholastik sind gestrichen, als gäbe es nur noch die Wirkursachen Reiz und Stoß. Die Naturwissenschaft muss nicht nur, zu Recht, einen direkten Eingriff Gottes ausschließen, sie klammert auch eine menschlich-mentale Kausalität ein. Radikale Vertreter halten daher sogar unsere Willensfreiheit für Schein und Täuschung.

Hans Jonas dachte darüber nach, warum Gott, wenn es ihn gibt, nicht in Auschwitz eingriff und wie ein weltjenseitiger Gott überhaupt in die Welt ‚eingreifen‘ könnte. Er kam zum Ergebnis, dass Gott ohnmächtig bleibt, solange keine Menschen für seine Sache eintreten. Wie nun stellt sich Jonas den Anteil Gottes an dem Wirken in der Welt vor? Bloße Inspiration? Eine wunderschöne Formulierung lautet, Gott locke mit dem stummen Werben der unerfüllten Verheißungen.

Das heißt: Da hatten jüdische Propheten Hoffnungen und Wunschträume, die bis heute Leser und Hörer bewegen, weil sie im Heute unerfüllt sind. Mehr ‚Eingriff‘ braucht es nicht.

Interessanterweise habe ich bei Josef Ratzinger eine ähnliche Kausalitätsvorstellung gefunden, als Erklärung, warum ein Bittgebet nicht unsinnig sei.

„Wie aber ist der Weg der Erhörung zu denken? Versuchen wir, in gedrängtester Kürze darauf Antwort zu erhalten, so könnte sie etwa so aussehen: In Jesus beteiligt sich Gott an der Zeit. Durch diese seine Beteiligung an der Zeit wirkt er als Liebe in die Zeit hinein. Seine Liebe wirkt als Reinigung in den Menschen hinein; als Identifikationsraum wird sie Vereinigung, die durch Reinigung (und nicht anders) ermöglicht ist. Anders ausgedrückt: Durch die Beteiligung Gottes an der Zeit in Jesus wird Liebe als Causa, als Ursache, in der Welt wirksam, die die Welt verändert und jederorts und jederzeit in sie eingreifen kann. Die Liebe ist Causa, die die mechanische Kausalordnung nicht aufhebt, aber sich ihrer bedient und sie in sich aufnimmt. Die Liebe ist die Macht, die Gott in der Welt hat. Beten heißt: sich auf die Seite dieser Kausalität stellen.“ (Das Fest des Glaubens, Einsiedeln 1981,30)

Ziehen wir mal diesen Schluss: Wenn Erkennen (Wissenschaft) und Liebe (Logik des Herzens) zusammenfallen, wäre in idealer Weise der Wille da, das Gute zu verwirklichen. Das Beten und Bitten ist Ausdruck des eigenen Wollens und Einigung mit dem Wollen Gottes, für den man dann hingeht und in den Lauf der Dinge einzugreifen sucht, möglichst mit anderen zusammen, damit es effektiv wird.

Unser Wissen um die Evolution macht noch einen Einwand: Was da locke, sei nur unser Traum, der sich die bitteren Fakten zurecht legt, sozusagen eine Neo-Mythe und Selbsttäuschung. Denn wenn wir Gottes Macht zurückschöben auf das Freilassen der Kreatur, hätten wir immer noch einen merkwürdigen Künstlergott: Aus Katastrophen sei das Leben entstanden, die Evolution bedeute Asteroideneinschläge, die Tötung fast aller Arten, den Zufall von Kopierfehlern, nicht nach Plan. „Jede Entwicklung in der Biosphäre aus Tippfehlern der genetischen Übertragung entstanden, aus puren Zufällen, Missgriffen… Ein solches Weltbild ist nichts für Kinder und nichts für Christen“ (Botho Strauß). Allerdings müssten wirkliche Christen schon geschult sein: Sie wissen, dass sogar in der sogenannten Heilsgeschichte fast alles Lernen aus Katastrophen von außen und innen, aus Fehlern und Versagen kam. Und diesen Realismus kann man sogar weit besser aushalten als Schönfärbereien; er entspricht dem anthropologischen Befund und der Lebenserfahrung.

Spätestens die Sonne wird als Roter Riese in wenigen Milliarden Jahren unser Leben wieder vernichten. Der größte Teil des Universums ist lebensfeindlich leer und kalt. Einen Rettungsausweg zu suchen und dies gegen alle Wahrscheinlichkeit, ist typisch menschlich. Was anderes als eine Moral wird aus dem Wissen um die Evolution unseres Sonnensystems gezogen?


(Die Hinweise zu Hans Jonas beziehen sich auf dessen Bücher „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ und „Erinnerungen“).

Ludwig Weimer

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