10. November 2014

Die Evolution kennt keine Moral (Teil 1). Gastbeitrag von Ludwig Weimer

Erstmals, am 12. November, landet eine Raumsonde auf einem Kometen, um ihn anzubohren, den 4,5 Milliarden Jahre alten Brocken 67P/C-G, einen Zeugen des Anfangsstadiums unseres Sonnensystems. Zehn Jahre ist sie gereist, eine Milliarde Euro kostet es. Die Erwartung ist groß: Enthält der Komet die Bausteine, aus denen auf der Erde das Leben entstand? Dann gibt es vielleicht im ganzen All die Chance?

Vielleicht glücken die Messungen, und wir wissen etwas mehr über das Leben. Wie aber kam der Geist in die Materie? Der Urknall, die Atome, die Galaxien brauchten noch keine Geistinformation. Es genügt, wenn unser Planet erst im Menschen über sich nachzudenken beginnt und Kultur, Moral, Religion, die Wissenschaften entwickelt.

Wie aber kam der Mensch evolutiv zu Geist, Technik und Ethik? „Die Evolution als der neue Demiurg kennt die Kategorie des Moralischen nicht“ (J. Ratzinger). Die Naturwissenschaft bleibt bei ihren Fragen.

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Das Gehirnwachstum kann man erklären mit dem reichlichen Fleischgenuss. Aber es gab Tiere, deren Gehirn mehr Gewicht aufweist als unseres und sie machten keinen Kulturfortschritt. War es der richtige Mittelplatz des Hinterhauptslochs, weil es uns die Sprechfähigkeit verlieh? Und damit die kulturelle Kommunikation? Kooperation und Altruismus zeigen Tiere auch, gemeinsames Jagen müssen manche Arten auch zum Überleben erfinden. Aber die Fähigkeit sich in andere hineinzuversetzen, Mitleid zu haben, sich zu schämen? Lange Erziehung und Ausbildung? Gemeinsam und in Perspektivenvielfalt sich auf eine Sache konzentrieren? Das tun Tiere nicht. Und sie scheinen auch nicht um den Tod zu wissen, kennen also nicht unsere Angst vor der Zukunft.

Und wie kam der Mensch zum Begriff eines Göttlichen, das außerhalb des menschlichen Bewusstseins existiert, in einem Stein, in einem Baum oder Stern oder gar transzendent, weltjenseitig? Man hat intelligente, aber auch absurde Hypothesen gelesen. Zum Beispiel: Der erste Affe, der festzustellen wagte, das Alphamännchen der Horde sei unvollkommen, habe ein Vakuum geschaffen und musste dieses mit der Vorstellung eines Höheren, Vollkommenen füllen.

Über die Vereinbarkeit von evolutionärem Weltbild und Schöpferglauben zu debattieren, ist im Augenblick müßig und bringt wenig. Jede Seite hat ihre Festlegungen und ihre Sprache. Der Naturwissenschaftler macht einen Gott total arbeitslos, der Theologieprofessor behauptet ein Land namens „das Ganze“, das der andere auf keinem Globus findet. Da ist es zu früh für eine Synthese, es reicht die Friedensvereinbarung: Beide Sehweisen stören sich nicht.

Mein Vorschlag: Wir sollten mit einer Synthese bei einem anderen Stoff beginnen, der beide Seiten brennend interessiert. Im Menschen beginnt nicht nur das Selbstbewusstsein, sondern die Freiheit. Auch die Freiheit zum Bösen. Er gebraucht nicht nur seine Vernunft, sondern auch seinen Willen (Mancher Gehirnforscher leugnet freilich – als Folge seiner Methode - die Willensfreiheit). Was steuert den Willen? Warum nicht immer die Vernunft? Wer klärt den Menschen auf über seine bewussten und unbewussten Triebkräfte? Die Bibel kam bis zur Bitte „Erlöse uns von dem Bösen“.

Naturwissenschaftliche Erkenntnisse, umgesetzt in Technik und Medizin, wollen das Überleben der Menschheit sichern und mehr Frieden und Glück für möglichst viele Menschen herbeiführen. Die jüdisch-christliche Moral hat viel über das Böse im Menschen nachgedacht; sie hätte das Zeug für eine aufgeklärte Ethik, für eine Praxis der „Verantwortung“ (Hans Jonas). Hier liegt die große gemeinsame Schnittfläche von Juden und Christen mit dem Ethos der agnostischen Denker.

Damit ist nicht das sogenannte Weltethos gemeint. Dieses ist unerreichbar und eine Küng’sche Abstraktion. Nicht eine rational-ethisch-religiöse Weltformel ist realistisch, sondern ein Dialog zwischen zweien, die sich auseinandergelebt haben: Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft.

Erinnert sich noch jemand an die letzten Sätze der Ansprache von Papst Benedikt XVI. vor dem deutschen Bundestag? Hier sind sie: „Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. (…) Wenn uns, den Gesetzgebern von heute, eine Bitte freigestellt wäre? Was würden wir erbitten? Ich denke, auch heute könnten wir letztlich nichts anderes wünschen als ein hörendes Herz – die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so wahres Recht zu setzen.“

Eine Synthese ‚nach Auschwitz‘ braucht die Unterscheidung zwischen ‚Religion‘ (die z. B. Gewalt erlaubt) und aufgeklärtem Glauben. Und eine Synthese ‚angesichts der technomorphen Zukunft‘ braucht ebenso eine Unterscheidung zwischen falschen und echten Weltrettern.

Die Natur zeigt für viele Zeitgenossen keinen Maßstab, außer dem Recht zur Fortpflanzung des Starken. Manche meinen, zwischen zwei Personen könne vertraglich alles ausgehandelt werden, erlaubt sei alles, worin beide übereinstimmen. Man denkt zuerst immer an die Schlafzimmer. Walker Percy beschrieb das Problem etwas anders. Wissenschaftler, Künstler steigen mit ihrem autonomen Selbst in einer elitären kleinen Gemeinschaft auf wie ein Raumschiff in den Orbit. Andere, normale Leute, bilden sich ein, durch laienhaften Anschluss an diese Welt Anteil an dieser modernen Form des Transzendierens zu haben. Beide können aber ziemliche Wiedereintrittsprobleme haben, vor allem die zweite Sorte. Sie kommen vom Olymp an den Abendbrot-Tisch und finden kein Wort für Frau und Kinder. Es kann einer Atomphysiker sein und zugleich einfältig in politischen Dingen. Der Laie kann als Besserwisser jedem auf die Nerven gehen.

Häusliche, private Probleme und globale Nöte – der Wille müsste motiviert sein, die Anstrengung einer Lösung anzugehen. Wie kommt der Haustyrann vom Alkohol los, mit dem er sein Wiedereintrittsproblem in den Alltagsabend betäubt? Was soll einen Pharmakonzern dazu motivieren, ein Medikament zu entwickeln, das nur in armen Ländern gebraucht wird?

Die Naturwissenschaft und die Techniken besitzen nur das Können, aber beherrschen nicht das Wollen. Die Firmen wissen sogar, was vernünftig wäre, aber irgendwo versteckt hinter jeder Geschäftsphilosophie sitzt ein Panther, der die Konkurrenten vertreiben will. Die Politiker suchen mit Gesetzen die Folgen zu lindern.

Trotz der Vernunft handelt der Mensch böse, er kann sogar eine Lust daran haben, - wie kann er so dumm sein und was kann da helfen? Aber wer wollte lieber als instinktgeleitetes gutes Tier leben? Von der Natur überwacht und zum Bravsein verdammt? Haben wir nicht lieber die Freiheit zur Selbstbestimmung durch Vernunft und Mitleiden?

Die Menschen träumen seit je von Frieden und Wohlstand. Die Juden hatten Paradiesträume für diese Erde und das Leben vor dem Sterben. Keine Naturwissenschaft sollte diesen Glauben als mythischen Restmüll entsorgen wollen. Auch wenn alle sagen: Bitte eine bescheidenere Hoffnung, denn alle, die den Himmel auf dieser Erde wollten, haben eine Hölle geschaffen. Wer darf uns das Recht nehmen, den Träumen eine Grenze zu setzen? Wir sind noch nicht gescheitert. Die Menschheit ist noch sehr jung.

Ludwig Weimer

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