19. September 2014

Zurück nach West Lothian


West Lothian war ein schottischer Wahlkreis vor den Türen Edinburghs. Bekannt durch die Frage, die sein Abgeordneter Tam Dalyell bei der Diskussion um die Etablierung eines eigenen schottischen Parlaments formulierte:
For how long will English constituencies and English Honourable members tolerate ... at least 119 Honourable Members from Scotland, Wales and Northern Ireland exercising an important, and probably often decisive, effect on English politics while they themselves have no say in the same matters in Scotland, Wales and Northern Ireland?
Wie lange werden es englische Wähler und Abgeordnete hinnehmen ... daß 119 Abgeordnete aus Schottland, Wales und Nordirland einen wichtigen, oft entscheidenden Einfluß auf die englische Politik haben, während sie selber bei den gleichen Themen in Schottland, Wales und Nordirland nichts zu sagen haben?

Denn die "Devolution" genannte Föderalisierung im Vereinigten Königreich erfolgte seltsam unsymmetrisch: Die historischen Länder Schottland, Wales und Nordirland bekamen eigene Parlamente mit weitreichenden Befugnissen, die ihnen deutlich mehr Autonomie ermöglichen als deutsche Bundesländer sie haben.
England dagegen blieb alleine dem gemeinsamen britischen Parlament unterworfen, hat keinerlei Eigenständigkeit, und die Regierung in London regiert mit einem Zentralismus direkt bis in die Gemeinden hinein, der auf dem Kontinent kaum vorstellbar ist.

Mit dem Scheitern des Unabhängigkeits-Referendums in Schottland wird sich diese Frage neu stellen.
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Denn klar ist, daß nun die von der Londoner Regierung versprochene maximale Autonomie auf der Tagesordnung steht. Wahrscheinlich wird für die Zentralregierung nicht viel mehr bleiben als Außenpolitik, Verteidigung, die Währungspolitik und die Staatsbürgerschaft.

Und es ist kaum anzunehmen, daß Wales und Nordirland schlechter gestellt bleiben - auch sie werden die Rechte bekommen, die den Schotten eingeräumt werden.

Und spätestens dann werden die englischen Wähler nicht mehr akzeptieren, daß sie ihre eigenen Angelegenheiten nicht selber regeln dürfen. Die Einrichtung eines englischen Parlaments neben dem britischen ist eigentlich unvermeidlich.
Und dabei wird es wahrscheinlich nicht bleiben.

Schon bisher haben die Bürger von Northumberland oder Cornwall nur widerwillig akzeptiert, daß ihnen die Selbstbestimmung vorenthalten wird, wie sie ihre Nachbarn in Schottland oder Wales haben. Die Übermacht Londons und die völlig Abhängigkeit des übrigen Englands steht schon lange heftig in der Kritik.

Es ist daher zu erwarten, daß Großbritannien sich in einen föderalistischen Staat entwickelt. Mit vier fast selbständigen Hauptländern, und mehr Rechten für die Regionen und Gemeinden.

Und das wäre dann wirklich die Vorbildwirkung, die Europa braucht.

Viele EU-Kritiker außerhalb Schottlands hatten auf eine schottische Sezession gehofft, weil sie sich davon eine Sogwirkung versprachen. Also Abspaltungen auch in anderen Teilen Europas, in Spanien oder Belgien etwa. Von diesem Zerfall in kleinteilige Nationalstaaten versprachen sie sich eine Schwächung der ungeliebten EU-Zentrale.

Das war eine absolute Fehlkalkulation. Je schwächer die Einzelstaaten, desto stärker die EU-Bürokratie - das wäre die Folge gewesen. Und die Lösung innereuropäischer Konflikte ist ohnehin nicht zu erreichen, wenn man sich abschottet, wenn man diesen Konflikten ausweichen möchte, indem man Türen schließt.

Ein stärker föderalistisches Großbritannien würde dagegen den richtigen Weg aufzeigen: Europa kann nur gut funktionieren, wenn keine künstlichen Grenzen eingezogen werden. Wenn aber Entscheidungen möglichst bürgernah "unten" getroffen werden, in den Gemeinden und Regionen.
Und für Nationalstaaten und EU-Ebene nur die nötigsten, nur minimale Kompetenzen bleiben.

Das gestrige Abstimmungsergebnis eröffnet Chancen für Europa. Und die zeitgleiche Krise in der Ukraine zeigt was droht, wenn diese Chancen nicht genutzt werden.
R.A.


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