Der demokratische Prozess ist nicht immer einfach, und oft heißt es ja,
dass alle Politik Lokalpolitik sei. Das ändert aber wenig daran, dass
viele Leute ein Problem mit dem bundesrepublikanischen System haben. Ein
Fallbeispiel: Berlin wird bekanntlich seit über einem Jahrzehnt schick.
Das führt dazu, dass Immobilienspekulanten vormals eher unattraktive
Liegenschaften aufkaufen, sanieren und an eine reiche Klientel
verkaufen, was natürlich weniger vereinbar mit alternativen Lebensstilen
und Sozialem Wohnungsbau ist. Dies führt bei den Alteingesessenen
naturgemäß zu Widerstand. In der taz
findet sich ein Interview mit Wolfgang und Barbara Tharra, die seit
Mitte der 1960er in Berlin wohnen. Barbara Tharra hat einen Brief an
Merkel geschrieben:
taz: Frau Tharra, haben Sie denn schon eine Antwort von Frau Merkel bekommen?
Barbara Tharra: Nicht von ihr selbst. Aber zwei Tage später hat ihr persönlicher Referent angerufen. Was der mir gesagt hat, werde ich nicht so schnell vergessen.
taz: Was hat er gesagt?
Barbara Tharra: Ich hätte ein falsches Demokratieverständnis, wenn ich glauben würde, dass die Kanzlerin für unser Anliegen zuständig sei. Ein starkes Stück.
Ja, das ist schon ein starkes Stück, dass unsere Kanzlerin die verfassungsmäßigen Kompetenzen und Grenzen ihres Amtes kennt. Ganz im Gegensatz zu diesen Aktivisten, die sich vermutlich selbst als demokratisch betrachten, sicherlich demokratischer als die CDU. Tatsächlich ist ihr Demokratieverständnis furchtbar, denn wenn sie sich über eine Merkel’sche Intervention gefreut hätten, freuten sie sich gleichzeitig auch über das Ende der Demokratie als solcher.
Das letzte Mal, dass in Deutschland jemand einfach dem Regierungschef
schreiben und erwarten konnte, dass da unter Umständen eine solche
Intervention rauskommt, war im Osten in der DDR und im Westen unter
Hitler. Da war es möglich, dass ein Großmufti daherkommt und einfach mal
die lokalen, eventuell sogar gewählten Behörden überstimmt. Würde
Merkel aber plötzlich bestimmten, dass die Wohnungen nicht verkauft
werden dürfen (auf welcher Grundlage denn bitte?), dann würde die
Verfassung keinen Pfifferling mehr wert sein. Denn dann könnte sie
jederzeit überall zu allen Gelegenheiten einfach die örtlichen
Institutionen überstimmen.
Landtage? Scheiß drauf, ich mach einfach eine Executive Order.
Das Rathaus? Wen kümmert’s, meine Blumenbeete brauchen eine neue
Wasserleitung. Mehrheitsbeschlüsse im Kabinett? Nicht wenn es nach
Merkel geht. Untersuchungsausschuss im Bundestag? Ein Bürger hat mir nen
Brief geschrieben, dass er Snowden eh doof findet. Und so weiter.
Das Demokratieverständnis, das sich hier offenbart, ist das einer
völlig schrankenlos herrschenden Exekutive, quasi eines Ersatzkönigs,
den wir dann “Kanzler” nennen (oder in dem Fall auch mal “Mutti”). Der
soll mit persönlichem Regiment im Zweifel direkt eingreifen und alles
können. Das aber ist nicht demokratisch. Das ist eine
Appellationsherrschaft, wie sie im Feudalismus üblich war, wo die
Herrscher auch auf Petitionen reagierten (meist Petitionen der Adeligen,
aber bei uns wären da auch die Ackermanns mit dem besseren Draht
ausgestattet). Mit Demokratie hat das alles wenig zu tun.
Stefan Sasse
© Stefan Sasse. Der Artikel erschien ursprünglich auf dem Blog deliberationdaily.de. Für Kommentare bitte hier klicken.