22. Juli 2014

Billard über drei Banden: Erinnerung an das Ende eines Kometen



Vor zwanzig Jahren, am 22. Juli 1994, um 10 Uhr, 5 Minuten und 30 Sekunden Mitteleuropäischer Sommerzeit, schlug das Fragment W des Kometen Shoemaker-Levy 9 in die Atmosphäre des Planeten Jupiter - der letzte Treffer einer Reihe von insgesamt 21 Einschlägen, die seit dem 16. Juli mit einer Geschwindigkeit von gut 60 Kilometern pro Sekunde (also ungefähr 216.000 Kilometern pro Stunde) den größten Planeten des Sonnensystems getroffen hatten. Die Einschläge hinterließen dunkle Flecken in der oberen Atmosphäre des Planeten, wo dunkleres Material aus den tiefergelegenen Atmosphärenschichten durch die Schockwellen der Explosionen auf bis zu 24.000 Grad erhitzt und nach oben geschleudert wurde, die den Durchmesser der Erde erreichten und noch mehr als ein Jahr später auch in kleinen Fernrohren leicht ausgemacht werden konnten. Der Impakt des größten Fragments, G, am 18. Juli, setzte die Sprengkraft von 6 Millionen Megatonnen TNT frei - eine Energie, die dem sechshundertfachen des damaligen nuklearen Arsenals der Atommächte entsprach.









Der Komet, dessen Trümmerkette für dieses Himmelsschauspiel verantwortlich war, war ein Jahr zuvor, am 24. März 1993, vom amerikanischen Forscherteam Carolyn und Eugene Shoemaker und David Levy mit Hilfe des 16-zölligen Schmidtspiegels am Mount Palomar entdeckt worden. Es war der neunte kurzperiodische Komet, der von diesem Team aufgespürt wurde: von daher die Seriennummer - und es war der erste Komet, der nicht die Sonne umkreiste, sondern einen Planeten. Es wird vermutet, daß er etwa 20 bis 30 Jahre vor seiner Entdeckung von Jupiter eingefangen wurde. Die meisten Kometen befinden sich, wenn sie zuerst, aus der [*url*]Oortschen Wolke kommend, die die äußersten, kältesten Bereiche des Sonnensystem bildet, in die inneren Bereiche des Sonnensystems eindringen, wo die Strahlung der Sonne sie erst zu Kometen mit einem Schweif und Halo werden läßt, auf einer langperiodischen Bahn, die sie erst nach Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden wieder, wenn überhaupt, wiederkehren läßt. Die enorme Schwerkraft des Jupiter lenkt manche von ihnen in kurzperiodische Bahnen um, so daß sie nur noch wenige Jahre für einen Umlauf benötigen. Solche Kometen sind, astronomisch gesprochen, kurzlebig: die Gase, aus denen diese „schmutzigen Schneebälle" in der Hauptsache bestehen, verdunsten - sublimieren - relativ rasch; und die inerten Relikte sind von den Asteroiden, die zumeist zwischen Mars und Jupiter ihre Bahnen ziehen, nicht mehr zu unterscheiden. Und manchmal können sie auch von einem Planeten eingefangen werden. (Es wird vermutet, daß viele der kleineren Monde des Sonnensystem, wie die äußeren Monde von Jupiter und Saturn, aber auch die bekannteren des Mars, Deimos und Phobos, solche eingefangenen Asteroiden sind.)

Darauf, daß SL-9 ein junger Fang war, deutet die recht große Menge an Gas hin, die die Kette der Trümmer umgab, und die exzentrische Umlaufbahn: die Gravitationsstörungen der anderen Monde in einem komplexen System wie dem des Jupiter sorgen dafür, daß eine solche Bahn recht schnell annähernde Kreisform annimmt. Die große Exzentrizität der Bahn (das Verhälntis von großer zu kleiner Bahnachse) führte SL-9 bei seiner letzten Annäherung an Jupiter innerhalb der sogenannten Roche'schen Grenze bis auf 42.000 Kilometer an dessen Wolkenobergrenze heran - die „Roche'sche Grenze" bezeichnet den Bereich, innerhalb dessen große Objekte durch die entstehenden unterschiedlichen Zentrifugalkräfte zerrissen werden (wenn sie nicht fest verschweißt sind, also über einen genügenden inneren Zusammenhalt verfügen). Das war am 7. Juli 1992 der Fall (der Tag wäre der 85. Geburtstag Robert A. Heinleins gewesen). 

Die Einschläge auf der Südhalbkugel selbst waren auf der Erde nicht unmittelbar sichtbar: sie erfolgten sehr knapp hinter dem Horizont und tauchten gut zehn Minuten später für die irdischen Teleskope, auch das Weltraumteleskop Hubble und den Röntgensatelliten ROSAT, auf - als die Boliden schon tief in die Atmosphäre geschlagen hatten (wie die drei anderen Gasplaneten: Saturn, Uranus und Neptun, verfügt der Jupiter, anders als die „Steinplaneten" wie der Mars, die Venus oder die Erde, nicht über eine feste Oberfläche) und sich die Druckwellen bereits weitflächig ausgebreitet hatten. Daß die irdischen Beobachter trotzdem direkte Zeugen dieser Ereignisse werden konnten, verdankten sie einem Reisenden, der selbst eigener Mission zum Jupiter unterwegs war: der Raumsonde Galileo, die sich zu diesem Zeitpunkt, 17 Monate vor Erreichen des Ziels in einer Entfernung von 1,6 Astronomischen Einheiten (der Entfernung Erde-Sonne, 150 Millionen km) befand.

Wie der Komet hatte auch die Sonde keinen direkten Weg zurückgelegt - sondern sogar einen noch verwickelteren. Gestartet worden war sie am 18. Oktober 1989 vom Space Shuttle Atlantis im Rahmen der Mission STS-34. In der Ladebucht eines Space Shuttles hätte eine Raketenstufe, die der Sonde die nötige Beschleunigung verliehen hätte, keinen Platz gefunden - und so behalf man sich bei der amerikanischen Weltraumbehörde NASA mit einem Trick, der einem physikalischen Laien zunächst unmöglich anmutet: mit einer Serie von „Swing-By-Manövern", bei denen ein (möglichst massereicher) Planet angesteuert und in recht geringer Entfernung passiert wird: dadurch wird nicht nur der Kurs auf das eigentliche Ziel ausgerichtet, der „zusätzliche Schwung" verleiht der Sonde auch die nötige Geschwindigkeit, aus den Bereichen des inneren Sonnensystems zu entkommen. Das „Laienverständnis" besteht zunächst darauf, daß bei einem solchen Manöver kein Gewinn an Bewegungsimpuls möglich sei, weil die gewonnene Beschleunigung beim Anflug durch die genau umgekehrte Abbremsung nach dem Passieren aufgefressen werden sollte: allerdings befindet sich die „Anflugschneise" näher an der Sonne als der „Fluchtkorridor", woraus die Asymmetrie resultiert; da Energie erhalten bleibt (der berüchtigte 1. Hauptsatz der Thermodynamik), führt ein solches Manöver zu einer, freilich höchst vernachlässigbaren, Verlängerung der Rotation des betreffenden Planeten. (Allerdings sind auch die Pioniere der Raumfahrt, wie Goddard, Oberth oder von Braun in ihren Durchrechnungen nie auf diese Möglichkeit gestoßen; die ersten Kalkulationen stammen aus der fünfziger Jahren.)  

Die Odyssee von Galileo führte zunächst zum sonneninneren Nachbarplaneten Venus, den sie am 10. Februar 1990 in einer Entfernung von 16.106 Kilometern passierte (& dabei einen Geschwindigkeitsbonus von 8.030 km/h einzog), dort in die Richtung umgelenkt wurde, an der die Bahn der Erde die der Sonde am 8. Dezember 1990 kreuzen würde - und von da zu jenem Punkt umgelenkt wurde, an dem sich die Erde genau zwei Jahre später, am 8. Dezember 1992 wieder befinden würde (wo sie einen letzten zusätzlichen Schwung von 3,7 Sekundenkilometern erhielt) - und von dort in die Richtung geschleudert wurde, in der sich der Planet Jupiter drei Jahre später, im Dezember 1995 befinden würde. Das Ziel der Mission war nicht nur, eine Umlaufbahn um den Jupiter einzuschlagen, sondern auch eine Meßsonde, nebenbei anähernd kugelförmig, in der Atmosphäre des Planeten zu versenken. (Das war dann am 7. Dezember 1995 der Fall.) Man kann also, ganz unmetaphorisch, feststellen, daß hier die Erdlinge Billiard über drei Banden gespielt haben, um am Ende die Kugel im Zielloch (für den in Englischen gebräuchlichen Ausdruck „gravity well" - Gravitationssenke - gibt es im Deutschen leider kein gebräuchliches Pendant) zu versenken - mit den Planeten des inneren Sonnensystems als Billardtisch - ein Vorhaben, das den Superhelden aus der bunten Groschenzeit-Prähistorie der Science Fiction, als galaktische Imperien und außerirdische Ungeheuer im Dutzend billiger zu haben waren, sicher gefallen hätte. Die alten Griechen hätten es sicher unter Hybris verbucht.

Zumal in einem Bereich, in dem schon die Namen die der antiken Götter sind. Zwar tragen die Planeten, die meisten der Monde und viele Asteroiden die lateinischen Versionen der Götter und ihrer Lieblinge, also Mars statt Ares, Saturn statt Chronos, und so fort; es handelt sich freilich um dieselben Gestalten. (Als Faustregel kann im Bereich der Göttersagen gelten, daß römische Götter eine reine Funktionsbezeichnung sind: Mars als Verkörperung des Krieges, Jupiter als oberster Gott, vielleicht noch nach seinen Funktionen benannt als Iuppiter tonans oder Iuppiter pluvius; die Geschichten, Skandale, die Götterkriege und Sagen entstammen dem hellenischen Bereich. Wenn einem Römer die Siegesgöttin erscheint, heißt das, daß ihm der Sieg verheißen ist; wenn einem griechischen Prinzen drei Göttinnen erscheinen, von denen er einer den Schönheitsapfel zuwerfen muß, kann er sich aussuchen, welche der zwei Vergnatzten ihn mit ihren speziellen Plagen heimsuchen werden.) Auch die frühen Raumfahrtprogramme, jedenfalls die amerikanischen, zollen den Göttlichen, zumindest in der Namensgebung, Respekt: das Mercury-Programm dem Götterboten, die Gemini-Missionen den Dioskuren, und Apollo dem Sonnengott. Und in diesen Bereich fällt auch die Tradition, daß die Olympischen eine Herausforderung, wenn sie denn der Ansicht sind, hier würde ein Sterblicher frech in ihre Bereiche hineingreifen, gerne annehmen.

Und so erklärt sich vielleicht auch die Merkwürdigkeit, daß ausgerechnet der Galileo-Sonde der einzige wirkliche Logenplatz bei diesem Himmelsfeuerwerk eingeräumt wurde. Die Serie von Einschlägen auf dem Jupiter (dem Planeten, nicht dem Vater der Götter) markiert nämlich, in geradezu unheimlicher Passgenauigkeit, das 25. Jubiläum der ersten bemannten Mondlandung von Neil Armstrong, Buzz Aldrin und Michael Collins von 16. bis zum 24. Juli 1969. (Einen detaillierten Zeitplan der Mission finden Sie hier; eine Liste der Kometenimpakte hier.)  Das erste Kometenfragment, A, traf den Planeten am 16. Juli 1994, 20:11 Uhr GMT (die Greenwich Mean Time wird bei astronomischen Ereignissen als Eichmaß verwendet); der Start von Apollo 11 von (damals) Cape Kennedy erfolgte am 16. Juli 1969 um 13:32 EST (Eastern Standard Time); um 16:22:13 EST, was 20:22 GMT entspricht, fand der Brennschluß statt, der das Raumschiff auf die Bahn zum Mond brachte. Der Einschlag des Fragments J ereignete sich 47 Minuten „vor" dem Zeitpunkt, zu dem Aldrin und Armstrong die erste Mondlandsimulation in der Mondfähre am 18. Juli, 23:27 EST begannen; die Mondlandung erfolgte am 20. Juli, 20:17:39; der erste Schritt eines Menschen auf der Mondoberfläche (und der berühmte Satz „That`s one small step for man, one giant leap for mankind" - mit dem vergessenen „a" in der ersten Satzhälfte) fand um 02:56:15 am 21. Juli statt; der Einschlag des Fragments R erfolgte umgerechnet um 01:33. Danach wird die „Treffgenauigkeit" frappant: der Start von der Mondoberfläche erfolgte am 21, Juli um 17:54 EST; das Fragment U traf den Jupiter am 21. Juli 1994 um 17:55 EST; die Trennung der Apollokapsel vom Mondlandmodul fand um 00:02 am 22. statt; der Einschlag des Brockens V um 00:02 am 22. 07. 1994. Das oben schon erwähnte letzte Fragment, W, schlug am 22. Juli um 4:05 ein; die Antriebszündung, die Apollo 11 aus der Mondumlaufbahn zurück zur Erde brachte, dauerte am 22. Juli drei Minuten lang von 4:55 bis 4:58.
Herausforderungen der Olympischen scheinen heute, anders als zu ihren Hochzeiten, nicht mehr automatisch einen lethalen Ausgang zu nehmen. Aussichtslos sind sie gleichwohl: man versteht sich dort oben eben besser auf das Weben oder das Musizieren. Oder das Billardspielen.


Ulrich Elkmann


­[Das Bild zeigt den Einschlag des Fragments G. Als Bild der NASA freigegeben unter Creative Commons License.]


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