6. Mai 2014

Warum ich Frau Sibylle trotz allem gerne frage

Wenn man eine Kolumne bei Spiegel Online liest, kann man in der Regel an Hand des Autors schon gut voraussagen, was einen wohl erwarten wird: Antiimperialistische Agitprop bei Augstein (und etwas feuilletonistischer von Diez); indignierter "Es-gibt-ihn-noch"-Konservatismus bei Fleischhauer; Loblieder auf die Umverteilung von Münchau. Sascha Lobos Belanglosigkeiten vermeide ich konsequent, kann ihn also nicht einordnen. 

Und dann ist da noch Frau Sibylle. Für die gilt das in keiner Weise. 



Heute habe ich in einer Kolumne von ihr etwas gelesen, was mich wie so oft überrascht hat:

Es hilft also nichts, man muss sich empören, man muss gegen das halten, was man für falsch erachtet. Gegen Nazis oder gegen Linksextreme, je nach Gutdünken. Man muss versuchen, Argumente zu finden, die möglichst viele andere auf die vermeintlich gute Seite bringen.
Es wird nichts an den großen Machtverhältnissen ändern, es wird nichts am System ändern, das die Welt auffrisst, während wir uns die Köpfe wegen irgendwelchem Mist einschlagen - aber egal: Man darf die Welt nicht komplett seinen Feinden überlassen, wo auch immer sie stehen.
Wenn die Medien Sie ankotzen, machen Sie einen Blog auf. Oder drehen Sie YouTube-Filme. Oder lancieren Sie ein Radioprogramm. Oder füllen Sie Bücher mit Ihren Thesen. Es gab noch nie so viele Möglichkeiten, seine Position zu vertreten. Nutzen Sie sie, bevor Sie über die gleichgeschalteten Medien jammern.
Das klingt doch klasse, und geradezu liberal, oder?

Aber da es sich um Sibylle Berg handelt, kann nach diesem flammenden Plädoyer für die Meinungsfreiheit in der nächsten Kolumne wieder eine Tirade gegen Abtreibungsgegner ("Gebärt doch, ihr Bratzen!"), Cornelius Gurlitt ("Archetyp des Grauens"), oder einfach nur den Normalbürger (Eure Welt gibt es nicht mehr!) kommen - übrigens der Text, dem Akif Pirincci in seinem aktuellen Buch nicht weniger als 27 Seiten widmet und ihr mit mehr als gleicher Münze heimzahlt.

Sibylle Berg braucht sich als wortgewaltige Polemikerin vor Pirincci nicht zu verstecken. In ihren Kolumnen wird geschissen, gekotzt und gefickt, dass es eine wahre Freude ist, und - diplomatisch ausgedrückt - es ist nicht gerade leicht, ihren Respekt zu erlangen.

Woran aber liegt es, dass der eine zur feuilletonistischen persona non grata wird, und die andere sich das erlauben kann? Pirincci würde natürlich sagen: weil sie Teil des "gleichgeschalteten Mainstreams" ist:

Man braucht solcherlei Produkte des Deutschen Intellektuellen wie z. B. diese Sibylle-Berg-Kolumne gar nicht zu konsumieren, um irgend etwas Neues zu erfahren, man weiß eh, was drinsteht. Es fehlt die Überraschung, das Um-die-Ecke-Denken, die augenöffnende Erkenntnis. Ich frage mich, ob der deutsche Intellektuelle aus seinem politisch korrekten Schlaf aufwachen würde, wenn er eins übergebraten bekäme. (Deutschland von Sinnen, S. 183).
Wie eingangs erwähnt, hat Pirincci in Bezug auf die meisten Feuilletonisten völlig recht. Dass er sich aber ausgerechnet Frau Sibylle als Vorzeigebeispiel auf 27 Seiten ausgesucht hat, wird ihr nicht gerecht. Denn Berg passt in keine Schublade. Thematisch nicht - sie ist gegen Antiamerikanismus, für Israel, sowohl gegen deutsches Spießbürgertum als auch gegen den Hang zum Weltverbessern. Dazu Kapitalismuskritikerin mit Hang zum Luxus. Für Kultursubventionen, aber gegen die Auswüchse des Regietheaters. Ideologische Genderfeministin mit sehr vernünftigen Ansichten zum Klimawandel. 

Im Unterschied zu den programmatischen Politkolumnisten wie Augstein und Fleischhauer hat sie einen rein ästhetischen Blick auf die Welt, und man glaubt ihr aufs Wort, dass sie politische Themen nur wegen des Honorars anfasst.

Was sie aber wirklich zu einer seltenen Erscheinung - gerade im linken Spektrum, zu dem man sie fraglos zählen muss - macht, ist ihre Selbstreflexion, die sich eben nicht in der Überprüfung ihrer Texte hinsichtlich eines Programms erschöpft, sondern in geradezu spielerischer Weise zeigt.

Auch stilistisch ist sie schwer zu greifen - sie beherrscht die Spaltaxt, das Florett, aber auch Töne von unglaublicher Zartheit und Nachdenklichkeit. Heute arrogant und menschenverachtend, morgen geradezu liebevoll. Bisweilen affektiert, dann wieder gnadenlos ehrlich. Und ganz selten moralisierend.


Meister Petz


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