27. September 2012

Die "Spiegel-Affäre" vor fünfzig Jahren. Eine persönliche Erinnerung. Teil 3: Die Besetzung des "Spiegel" und das Ende der Nachkriegszeit


Im ersten und zweiten Teil habe ich mich mit der Vorgeschichte der "Spiegel"-Affäre befaßt: Mit dem anfänglich kritisch-distanziert berichtenden "Spiegel", der Ende der fünfziger Jahre zu einem politischen Kampfblatt mutierte; mit dem unerbittlichen persönlichen Feldzug Rudolf Augsteins gegen Franz-Josef Strauß, der aus seiner Sicht, würde er jemals Kanzler werden, Deutschland ins Verderben führen werde.

Als in der Nacht vom 26. zum 27. Oktober 1962 gemeldet wurde, daß eine - so hieß es damals - "Razzia" gegen die Redaktion des "Spiegel" im Gang sei, dachte ich (wie vermutlich viele andere) sofort, daß das jetzt Strauß' Gegenschlag sei.

Irgend etwas Derartiges hatte ich von Strauß erwartet. Das, was sich im Lauf des 27. Oktober - eines Samstag - und an den folgenden Tagen herausschälte, war aber von einem anderen Kaliber, als ich es mir hatte vorstellen können.

Man hatte nicht nur eine Haussuchung in der "Spiegel"-Redaktion durchgeführt, sondern diese regelrecht besetzt. Sofort verhaftet worden waren der Chefredakteur Claus Jacobi, der Redakteur Hans Schmelz und - in Spanien, wo er Urlaub machte - der stellvertretende Chefredakteur Conrad Ahlers. Augstein war zunächst untergetaucht und stellte sich zwei Tage später der Polizei. Der zweite Chefredakteur Johannes K. Engel und der stellvertretende Chefredakteur Hans Dieter Jaene waren vorläufig festgenommen, dann aber wieder freigelassen worden.

Als Grund für diese Aktion erfuhr man zunächst nur, daß dem "Spiegel" "publizistischer Landesverrat" vorgeworfen wurde; begangen durch die Veröffentlichung der Titelgeschichte "Bedingt abwehrbereit" im "Spiegel 41/1962 vom 10. Oktober 1962.

Ich hatte diesen Artikel gelesen und war in der Tat über seinen Inhalt erschrocken gewesen - nicht, weil ich auf die Idee gekommen wäre, er könne in landesverräterischer Absicht und/oder mit dem objektiven Ergebnis eines Landesverrats geschrieben worden sein, sondern wegen seines Inhalts.

Anläßlich des Nato-Herbstmanövers "Fallex 62" beschäftigten sich die Autoren (später erfuhr man, daß es Conrad Ahlers und Hans Schmelz waren) mit der Frage, ob die Bundeswehr auf einen atomaren sowjetischen Angriff vorbereitet sei, und kamen zu dem vernichtenden Ergebnis, "daß die Vorbereitungen der Bundesregierung für den Verteidigungsfall völlig ungenügend sind" (Seite 33). Das Manöver habe ein "Chaos" bei einem solchen Angriff gezeigt.

Das wurde mit vielen militärischen Details belegt. Ein wenig überrascht war ich schon, was der "Spiegel" da alles herausgefunden hatte; aber auf die Möglichkeit eines Landesverrats wäre ich niemals verfallen. Landesverrat, so nahm ich (wie vermutlich die meisten Deutschen) an, begeht man, indem man geheime Informationen geheim einer fremden Macht zukommen läßt; nicht, indem man etwas in einer Auflage von knapp einer halben Million Exemplaren verbreitet.



Als im Lauf des Samstag, 27. Oktober das ganze Ausmaß der Aktion publik wurde, herrschte unter uns Studenten zuerst Fassungslosigkeit, dann zunehmend eine wütende Entschlossenheit. Es war eine Stimmung, wie ich sie bis dahin noch nicht erlebt hatte; so, wie später wieder in den Jahren 1967 und 1968, wie dann noch einmal - auf andere Weise - in den Tagen vor dem Mauerfall 1989. Plötzlich surrte es sozusagen überall vor Politik.

Es gab nur dieses eine Thema; wen immer man traf, den sprach man darauf an. Es kam zu spontanen Demonstrationen; damals habe ich an meiner ersten Demo teilgenommen. Die Politik, die wir bis dahin distanziert verfolgt hatten, war uns sozusagen auf den Leib gerückt.

Tua res agitur, hatte ich einmal im Lateinunterricht gelernt; es geht um deine Angelegenheiten, es betrifft dich selbst. Das ging mir damals durch den Kopf. Die Demokratie, der Rechtsstaat, die wir für so selbstverständlich gehalten hatten, erschienen uns nun bedroht. In den Tagen danach erfuhr man, daß es überall in Deutschland zu Demonstrationen, zu Protestveranstaltungen, zu Resolutionen gegen die Besetzung des "Spiegel" gekommen war. Ein Pfarrer hatte am darauffolgenden Sonntag sogar seine Predigt diesem Thema gewidmet.

Um diese überaus heftige Reaktion zu verstehen, muß man sich klarmachen, daß die Adenauerzeit bis dahin so etwas wie eine Konsensdemokratie gewesen war. Viele der führenden Politiker waren unter den Nazis in Opposition gewesen; waren wie Konrad Adenauer von der Gestapo verhaftet worden oder gar wie sein SPD-Gegenspieler Kurt Schumacher in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen. Das war die Grundlage für die damals oft beschworene "Gemeinsamkeit der Demokraten". Man stritt um den richtigen Weg - über Planwirtschaft oder Marktwirtschaft; später über den Nato-Beitritt und die Westintegration -, aber man ging in der Regel fair miteinander um und hielt den Rechtsstaat hoch.

Den Rechtsstaat, zu dem selbstverständlich auch die Pressefreiheit gehörte. Daß sie einmal bedroht werden könnte, indem das wichtigste regierungskritische Blatt durch eine Aktion der staatlichen Obrigkeit faktisch lahmgelegt wurde, das hatte ich mir nicht vorstellen können. Vielen ging es genauso; daraus speisten sich erst das Entsetzen und dann die Wut. Diese Reaktion entlud sich in den Demonstrationen und Protesten. Also hatte Augstein mit seinen Warnungen vor Strauß doch Recht gehabt, dachte ich. Also war unsere Demokratie doch so fragil, wie Augstein immer wieder geschrieben hatte.



Die Einzelheiten der Polizeiaktion sickerten erst allmählich durch.

Man wartete gespannt darauf, ob der "Spiegel" überhaupt noch würde erscheinen können und was aus ihm dann über die "Razzia" zu erfahren sein würde. Die Produktionszeit für ein Heft war 1962, vor dem Computerzeitalter, noch ungleich länger als heute. Der "Spiegel" kam damals noch Mittwochs an die Kioske, aber das Heft wurde schon am vorausgehenden Wochenende redaktionell abgeschlossen. Die "Razzia" platzte damit in die Schlußredaktion für das Heft 44/1962 hinein; mit einer Titelgeschichte über die Kubakrise, das Titelbild zeigte Castro und Chruschtschow in inniger Umarmung.

Dieses Heft also wurde - die Schlußredaktion fand unter Überwachung durch die Polizei statt - pünktlich am Mittwoch, dem 31. Oktober ausgeliefert. Da es redaktionell schon fertiggestellt gewesen war, als die Polizeiaktion begann, enthielt es kein Wort über die Besetzung des "Spiegel". Es war ein ganz normales Heft.

Gespannt warteten wir auf das nächste Heft. Wie konnte es überhaupt aus der besetzten Redaktion heraus produziert werden, mit Augstein und seinem Chefredakteur Claus Jacobi im Gefängnis? Würde das Heft vielleicht ausfallen? (Später erfuhr man, daß angesichts der dünnen Kapitaldecke der Ausfall bereits eines einzigen Hefts den finanziellen Ruin des "Spiegel" bedeutet hätte).

Das Heft 45/1962 war pünktlich an den Kiosken und bei den Abonnenten. Sein Titelbild dürfte Ihnen bekannt vorkommen; denn der "Spiegel" hat es für seine vorletzte Nummer (38/2012 vom 17. 9. 2012) leicht verfremdet reaktiviert. Und dieses Heft 45/1962 enthielt - was zuvor kaum jemand für möglich gehalten hatte - eine detaillierte Schilderung der Razzia, der Festnahmen und Verhaftungen, der Besetzung der Redaktion.

Wer der Autor war, wußte man nicht; wie sein Vorbild Time Magazine veröffentlichte der "Spiegel" damals nicht die Namen der Autoren. Heute ist bekannt, daß Walter Busse den Artikel geschrieben hatte; einer der stellvertretenden Chefredakteure, eigentlich zuständig für das Kulturressort.

In dieser Funktion war er der Polizei offenbar unverdächtig; wie auch Leo Brawand, Ressort Wirtschaft, den Augstein aus dem Gefängnis heraus mit der kommissarischen Übernahme der Chefredaktion beauftragt hatte. Von den beiden Chefredakteuren saß Jacobi in Haft; Engel war zwar nach 24 Stunden wieder freigelassen worden, aber unter derartigen Auflagen, daß er keine Möglichkeit sah, seine Funktion wahrzunehmen. Er beurlaubte sich selbst. Im Impressum des Hefts 45/1962 stand daher hinter seinem Namen "auf Urlaub". Im nachfolgenden Heft 46 fehlte das; dafür stand jetzt hinter den Namen Augsteins und Jacobis "zur Zeit in Haft".

Wenn Sie Busses Artikel lesen sollten, dann werden Sie über Brawands Schicksal in dieser Nacht dies finden:
Als die Polizei in Brawands Räume kam, waren sie dunkel und leer. Brawand, der sich in einem Schrank aufhielt, hörte die Worte: "Hier haben sie auch schon dicht gemacht." Dann wurde er eingeschlossen. Er brauchte eine Viertelstunde, ehe er mit Brieföffner und Büroschere das Türschloß ausgebaut hatte. Einem Hamburger Reporter, der ihn später fragte, was er wohl im Schrank gesucht habe, antwortete er: "Ich gehe immer in den Schrank, wenn ich nachdenke."
Wie kam Brawand in den Schrank? Seine Wirtschaftsredaktion war in einem höheren Stockwerk als die anderen Ressorts. Da die Polizei die Redaktion von unten nach oben durchkämmte, war er telefonisch gewarnt worden, bevor man ihn hatte aufspüren können.

Von solchen Details ist Busses Artikel voll - wie zum Beispiel in Hamburg nach einem gewissen "Rudolf Augustin" gefahndet wurde, der in einem KfZ mit dem Kennzeichen HH-SV 100 unterwegs sein sollte; dieses Auto allerdings gehörte einem Maurerpolier. Oder wie in Düsseldorf ein Verlagsmitarbeiter des "Spiegel" festgenommen wurde, weil man den 58jährigen für den 38jährigen Augstein gehalten hatte ("Geben Sie doch zu, daß Sie nicht Fischer sind!").

Wie konnte Walter Busse diesen Artikel schreiben; wie konnte ein weitgehend normales Heft 45/1962 produziert werden? Es lag an der Hilfsbereitschaft der anderen großen Hamburger Blätter, die den heimatvertriebenen "Spiegel"-Redakteuren Räume, ihre Telefonanlagen, technische Hilfmittel aller Art und, wie Busse anmerkt, "nicht zuletzt ihr Kasino" zur Verfügung stellten - der "Stern", die "Zeit", "Constanze".



Als ich am Mittwoch, dem 7. November dieses Heft in Händen hatte, war ich sehr erleichtert. Man hatte also den "Spiegel" nicht kleingekriegt; der redaktionelle und irgendwie auch der technische Apparat funktionierten weiter.

Die Proteste waren inzwischen heftiger und flächendeckend geworden. Mit Erstaunen registrierten wir, daß es eine starke demokratische Öffentlichkeit gab, die sich gegen das obrigkeitsstaatliche Vorgehen der Staatsanwaltschaft wehrte.

Allmählich kam jedenfalls zum Teil heraus, wie es zu der Aktion gekommen war; daß sie beispielsweise durch eine Anzeige des Würzburger Juraprofessors, CSU-Abgeordneten und Brigadegenerals der Reserve Friedrich August von der Heydte ausgelöst worden war. Der "Spiegel" widmete ihm die Titelgeschichte des Hefts 47/1962 "Der General-Anzeiger".

Zuvor hatte es in Heft 46 eine Titelgeschichte über den Justizminister Stammberger (FDP) gegeben, der wider­recht­lich nicht von der Aktion informiert worden war; so wenig, wie der Düsseldorfer Innenminister Weyer (FDP) und der Hamburger Innensenator Helmut Schmidt (SPD), die ebenfalls hätten informiert werden müssen, weil Polizei dieser Bundesländer an der "Razzia" beteiligt war.

Schließlich stellte sich auch noch heraus, daß Franz-Josef Strauß entgegen seiner Beteuerung vor dem Bundestag in dieser Nacht sehr wohl aktiv gewesen war und durch ein Telefonat mit der deutschen Botschaft in Madrid die Verhaftung von Ahlers eingefädelt hatte. Man kann das mit allen inzwischen bekanntgewordenen Details im "Spiegel" der vergangenen Woche nachlesen; forgesetzt im aktuellen "Spiegel".

Strauß kostete die Lüge vor dem Bundestag damals sein Ministeramt. Der alte Fuchs Adenauer, der auch eingeweiht gewesen war und alles abgesegnet hatte, leitete geschickt den öffentlichen Druck auf Strauß und blieb selbst weitgehend unbehelligt.



Während so in Deutschland eine demokratische Öffentlichkeit sich konstituierte, überrascht von ihrer eigenen Stärke und der Breite der Zustimmung, war die Welt mit der Kubakrise beschäftigt. Wir nahmen sie zur Kenntnis; ich las die Einzelheiten im Time Magazine. Wie gefährlich die Krise war, wie nah die Welt am Rand eines nuklearen Kriegs gestanden hatte, ahnten wir nicht.

Zehn Tage vor der Besetzung des "Spiegel", am 16. Oktober, waren die sowjetischen Abschußrampen auf Kuba entdeckt worden. Am Montag, dem 22. Oktober teilte Präsident Kennedy das dem amerikanischen Volk mit und verkündete zugleich die Seeblockade Kubas.

Das war der Montag der Woche, an deren Freitag der "Spiegel" besetzt wurde. Es sah an diesem Freitag danach aus, daß die Sowjets die Blockade respektieren würden; es wurde sogar bereits öffentlich darüber diskutiert, daß die USA im Gegenzug für einen Abbau der sowjetischen Basen auf Kuba ihre 15 Jupiter-Raketen aus der Türkei abziehen könnten. Sie waren veraltet und sollten ohnehin bald verschwinden.

Kuba war weit weg. Daß aus der Krise ein Weltkrieg werden könnte, der auch uns betreffen würde, glaubten in Deutschland allenfalls die Pessimisten. Da war die "Spiegel"-Krise viel wichtiger. Sie markierte das Ende der Adenauerzeit, auch wenn dieser noch bis 1963 Kanzler blieb. Und mit ihr begann ein Jahrzehnt des Umbruchs, das mit der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler im Jahr 1972 endete.

In diesen zehn Jahren bekam die Bundesrepublik ein neues Gesicht. Die Veränderungen waren ähnlich radikal wie fünfzig Jahre zuvor zwischen 1912 und 1922.

Die Frauen von 1912 flanierten im langen Kleid mit Mieder, mit riesigen Hüten und dem Sonnenschirm. 1922 trugen die Frauen Bubikopf, Topfhut und kurze Röcke; bald tanzte man Charleston statt Walzer.

Wir Studenten von 1962 gingen mit Sakko und Krawatte in die Uni, redeten einander mit "Sie" und "Herr Kommilitone" an und erschienen zu den Examen im schwarzen Anzug; die Kommilitoninnen im Kleinen Schwarzen. Die Versammlung der Kandidaten vor dem Zimmer eines Prüfers glich einer jungen Trauergemeinde.

1972 trugen nicht nur die Studenten lange Haare, sondern selbst Polizisten und Soldaten. Zur Prüfung erschien man jetzt im Pullover. Nicht nur die Studenten duzten sich untereinander, sondern man begann auch schon die Assistenten zu duzen; manche Professoren schlossen sich dem Duzkartell an.

Es war wirklich der Beginn einer Zeitenwende, dieses Jahr der "Spiegel"-Affäre 1962. In Deutschland das Jahr auch der Schwabinger Krawalle; andernorts - Juno hat in Zettels kleinem Zimmer darauf hingewiesen - das Jahr, in dem beispielsweise die Rolling Stones erstmals auftraten, in dem die Beatles ihre erste Single Love me do veröffentlichten, in dem das erste Album von Bob Dylan herauskam. Und auch das Zweite Vatikanische Konzil wurde in diesem Jahr 1962 eröffnet, in dem, eine knappe Generation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die Nachkriegszeit zu Ende ging.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Das Hamburger Pressehaus am Speersort 1, wo 1962 neben "Zeit" und "Stern" auch der "Spiegel" residierte; 1968 zog man in den Neubau an der Brandswiete, 2011 dann in das jetzige Gebäude in der HafenCity. Abbildung vom Autor David Kostner unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben.