Im Oktober 1962 hatte mein fünftes Semester begonnen. An seinem Ende wollte ich das Vordiplom machen und war mit den Experimenten zu meiner Arbeit beschäftigt; auch mit dem Lernen für das Examen. Da blieb wenig Zeit für Anderes, zumal für Politik.
Ich war bis dahin politisch sehr interessiert, aber überhaupt nicht politisch engagiert gewesen.
Schon recht früh hatte ich mit der Lektüre des "Spiegel" begonnen; später las ich als Schüler, wenn ich es mir finanziell leisten konnte, außerdem Time Magazine. Meine Eltern hatten meist drei Tageszeitungen abonniert; die FAZ, die "Welt" und eine Lokalzeitung. Ich hörte regelmäßig, oft stündlich die Radio-Nachrichten; wenn es am Ort möglich war, vor allem auch AFN.
Ich befaßte mich also recht genau mit Politik; aber in der Rolle des interessierten Beobachters. Ich sah dieses Gewusel und diese Machtkämpfe, dieses ganze bunte, wechselvolle Geschehen wie ein Theaterstück; eine Aufführung, betrachtet mit der von Brecht empfohlenen distanzierten "Haltung des Rauchend-Beobachtens".
Zur Distanz gehörte auch eine gewisse, sagen wir, süffisant-ironische geistige Verfaßtheit. Das war die Grundhaltung unserer Generation von Studenten.
Die Ernsthaftigkeit des Existenzialismus der späten vierziger und der fünfziger Jahre war verflogen. Es gab eine Neigung zu einer ästhetischen Weltsicht; ein wenig an das fin de siècle erinnernd. Man schätzte zum Beispiel Oscar Wilde; ich mit meiner Affinität zum Französischen besonders Flaubert und Maupassant, in der Lyrik Baudelaire, Rimbaud und Verlaine.
Sehr ernst nehmen konnten wir mit dieser Haltung die Politik nicht; aber wir fanden sie auch nicht besonders schlimm. Ich erinnere mich, wie ein Kommilitone ein angebliches Wort Adenauers zitierte "Je einfacher denken ist oft eine Gabe Gottes". Darüber haben wir uns amüsiert - nicht nur über die message, sondern vor allem auch über das verquere Deutsch.
Politisch engagiert waren nur sehr wenige; dann meist im links-pazifistischen Umfeld; bei "Kampf dem Atomtod", den Ostermärschen. Man sah sie als sympathische Leute, aber doch seltsame Heilige, die sich mitten im Kalten Krieg weit von den Realitäten entfernt hatten.
Das war auch mein Eindruck, als einer unserer Dozenten von einer Pugwash-Konferenz zurückkam und über diese regelmäßigen Konferenzen pazifistischer Wissenschaftler einen öffentlichen Vortrag hielt. Es hatte sich kaum ein Dutzend Zuhörer eingefunden, die skeptisch seine Ausführungen anhörten. Mich konnte diese naiv-pazifistische Weltsicht überhaupt nicht überzeugen, die doch erkennbar nur den Sowjets in die Hände spielte. Hoffentlich können solche Leute nie auf politische Entscheidungen Einfluß nehmen, dachte ich.
Bei den Bundestagswahlen 1961 hatte ich erstmals wählen dürfen. Selbstverständlich die FDP; da gab es kein Überlegen. Als aufgeklärter Intellektueller wählte man damals die FDP. Ich hatte als Schüler einmal Thomas Dehler reden hören und ihn faszinierend gefunden; das hatte mich in meiner Entscheidung für die FDP bestärkt.
Wir liberalen Studenten waren damals keine Wirtschaftsliberalen; die Wirtschaft interessierte uns nicht, und wir verstanden auch nichts davon. Wir waren aber erst recht keine Sozialliberalen; eine solche Strömung gab es damals - bis zu den Freiburger Thesen sollten noch genau 17 Jahre vergehen - in der FDP noch kaum.
Wir waren, sagen wir, Aufklärungsliberale. Wir sahen in der FDP die Partei der Freiheit des Denkens, betrachteten sie als die in dieser katholischen Republik noch am ehesten antiklerikale Partei; eine Partei auch, in der eigenwillige Charaktere eine Chance hatten. Rudolf Augstein beispielsweise. Daß Augstein in der FDP war, wußte man. Ein Jahrzehnt später sollte er sogar als Abgeordneter in den Bundestag einziehen; zu einem allerdings kurzen Gastspiel.
Augsteins "Spiegel" war für uns das Blatt, das unserer Geisteshaltung am nächsten kam. Er war damals noch keineswegs "im Zweifel links", aber ohne Zweifel liberal. Kritiker warfen ihm gern "Nihilismus" vor; und genau diese schnodderig-zynische Haltung gefiel uns. Die "Spiegel"-Journalisten suchten aufzuklären; im Sinn der Recherche, aber auch im Sinn der Erhellung.
Ihre eigene politische Meinung ließen sie außen vor; abgesehen von den Kommentaren, aber diese waren Augstein selbst vorbehalten; als "Jens Daniel", dann auch als "Moritz Pfeil", später unter seinem bürgerlichen Namen. Ansonsten wollten die Redakteure des "Spiegel" - das war jedenfalls mein Eindruck - nicht politisch agieren, sondern gute Stories schreiben.
Allerdings hatte das Blatt in einem Punkt diese journalistische Einstellung verlassen und war zum Kampfblatt geworden: In Bezug auf Franz-Josef Strauß. Dazu mehr im zweiten Teil.
Zettel
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Das Hamburger Pressehaus am Speersort 1, wo 1962 neben "Zeit" und "Stern" auch der "Spiegel" residierte. 1968 zog man in den Neubau an der Brandswiete, 2011 dann in das jetzige Gebäude in der HafenCity. Abbildung vom Autor David Kostner unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben.