12. August 2012

US-Präsidentschaftswahlen 2012 (31): Romney spielt Vabanque - aufgrund einer rationalen Analyse. Paul Ryan und Politics 101

Selten hat ein Kandidat bei der Wahl seines running mate, seines Kandidaten für das Amt des Vize­präsidenten, so gegen die politischen Grundregeln verstoßen wie jetzt Mitt Romney, als er sich für Paul Ryan entschied.

Als in der Nacht zum Samstag Romneys Entscheidung durchgesickert war, habe ich eine erste Analyse geschrieben und darin hervorgehoben, daß Romney, der in den Umfragen zurückgefallen ist, mit der Wahl Ryans eine Wende erzwingen will; nicht nur, was den Trend in den Umfragen angeht, sondern eine Wende auch im Stil des Wahlkampfs.

Romney ist durch Obamas negative campaigning, durch dessen teilweise sehr schmutzige Kampagne mit dem Ziel, ihn als Menschen zu diskreditieren, in die Defensive geraten. Mit der Entscheidung für Ryan soll jetzt ein thematisch orientierter Wahlkampf beginnen; einer, in dem es darum gehen wird, welchen Weg die USA einschlagen: Weiter hinein in Obamas sozialdemokratische Gesellschaft oder zurück zu den traditionellen amerikanischen Werten, die das Land stark gemacht haben.

Zu Beginn des gestrigen Artikels habe ich darauf hingewiesen, daß diese Entscheidung in den USA als bold angesehen wird, als mutig. Denn der konservative Vize-Kandidat Ryan wird ein publizistisches Trommelfeuer der Linken auf sich ziehen; ähnlich wie vor vier Jahren die konservative Vize-Kandidatin Sarah Palin.

Romney hat mit seiner Wahl auf eine thematische Zuspitzung des Wahlkampfs gesetzt. Sie kann seinen demoskopischen Niedergang stoppen und den Trend umkehren. Sie kann ihn aber auch auf die Verliererstraße führen. Romney spielt jetzt auf Alles oder Nichts.



Inzwischen hat Nate Silver eine gewohnt gründliche Analyse geschrieben, die meine gestrige Beurteilung untermauert, aber noch deutlicher macht, wie groß Romneys Risiko ist. Auf sie stütze ich mich im folgenden hauptsächlich.

Ein Vabanquespiel - das ist eigentlich überhaupt nicht Romneys Art, der immer kühl kalkuliert. Aber es kann eben auch das Ergebnis einer rationalen Analyse sein, in einer bestimmten Phase Alles oder Nichts spielen zu müssen.

Sich einfach nur gegen Obamas Kampagne zu wehren, hätte Romneys sichere Niederlage bedeutet. Mit denselben Waffen anzugreifen, schied aus; denn Obama gilt auch bei vielen der Wähler als sympathisch, die seine Politik ablehnen. Negative campaigning konnte da nichts bringen. Es blieb nur der Angriff mit einem polarisierenden Thema.

Romney hat damit eine Entscheidung getroffen, die nicht Politics 101 entspricht, schreibt Silver - also dem, was man im Grundkurs in Politischer Wissenschaft lernt.

Bei der Wahl eines Vize, lernt man dort, kann man wenig gewinnen und viel verlieren. Das Risiko ist groß, daß er sich im Wahlkampf Patzer leistet, die auf den Kandidaten zurückfallen, oder daß er zum Objekt einer negativen Medienkampagne wird wie Palin 2008. Umgekehrt sollte er auch nicht so glänzend sein, daß er den Kandidaten selbst überstrahlt.

Also entscheidet man sich - so wird es in Politics 101 gelehrt - für einen soliden, beliebten und erprobten Politiker; am besten einen, der schon viele Wahlkämpfe erfolgreich bestanden hat, der als Mann der Mitte keine Attacken auf sich zieht und der im Idealfall auch noch aus einem swing state kommt; einem Staat auf der Kippe, den er ins Lager des Kandidaten holen kann. Man entscheidet sich für einen wie Obamas running mate Joe Biden 2008, den Mann ohne Ecken und Kanten, den meisten Amerikanern aus seinen Auftritten als langjähriger Senator vertraut.

National bekannt - das ist in der Regel eben ein Senator oder ein Gouverneur. Ryan aber ist nur Abgeordneter des Repräsentantenhauses. Er repräsentiert keinen Staat der USA, sondern nur den Ersten Kongreßdistrikt im Südosten Wisconsins mit gerade einmal 670.000 Einwohnern. Im Staat Wisconsin genießt er kein besonderes Ansehen; nur 38 Prozent haben eine positive Meinung von ihm (33 Prozent eine negative; der Rest kennt ihn noch nicht einmal oder hat keine Meinung). In den gesamten USA kannte bis gestern überhaupt nur jeder zweite seinen Namen.

So ähnlich geht es den meisten Mitgliedern des Repräsen­tanten­hauses. Wegen ihres vergleichsweise geringen Ansehens auf nationaler Ebene kommt es nur selten vor, daß sie von einem Kandidaten als Vize ausgesucht werden. Die beiden letzten, die auf einem ticket waren und auch zum Vizepräsidenten gewählt wurden, waren James S. Sherman 1908 und John Nance Garner 1932, der allerdings als Präsident des Repräsentantenhauses eine nationale Figur gewesen war.

Das ist der eine Punkt, in dem Romney von Politics 101 abwich. Der zweite ist noch gravierender: Man sollte sich als Vize jemanden aus der politischen Mitte aussuchen. Ryan aber ist - wie freilich auch Palin 2008 - das Gegenteil.

In den USA werden Sentoren und Abgeordnete aufgrund ihres Abstimmungsverhaltens danach eingestuft, wie weit links oder rechts sie stehen. Ryan erhält ungefähr denselben Wert wie Michelle Bachmann. Nate Silver hat sich die Werte aller Vize-Kandidaten seit 1900 auf dieser sogenannten DW-Skala angesehen. Keiner stand je so weit rechts wie Paul Ryan (der Zweitplacierte ist Dick Cheney, George W. Bushs konservativer Vize).

Ein wenig bekannter Kandidat. Ein politisch weit rechts stehender Kandidat. Und als wenn das nicht genug wäre - Ryan ist als Vorsitzender des Haushalts­ausschusses des Repräsentantenhauses auch noch die Symbolfigur für einen Kongreß, dem Obama vorwirft, ihm ständig Knüppel zwischen die Beine geworfen zu haben. Obama, der einen Teil seiner trefflichen Ziele wegen der Sparpolitik des Kongresses nicht erreichen konnte - das ist ein Grundthema des demokratischen Wahlkampfs; und Ryan verkörpert nachgerade ideal dieses Feindbild.



Nate Silver ist deshalb skeptisch, daß Romney eine weise Entscheidung getroffen hat. Aber er habe sich immerhin getraut, ein Risiko einzugehen.

Er mußte dieses Risiko wohl eingehen. Ob er damit seinen Sieg oder seine Niederlage eingeleitet hat, wird man erst in einiger Zeit sehen. Denn die Nominierung eines running mate bringt oft vorübergehend einen demoskopischen Aufschwung; das war auch vor vier Jahren bei Palin so. Ob er trägt, hängt davon ab, wie sich die öffentliche Debatte über diesen Kandidaten entwickelt. Bei Palin trug er nicht, sondern schlug ins Gegenteil um.

Bei Ryan wird es zum einen darum gehen, wie sehr er die republikanische Basis begeistern wird, die bisher zu Romney ein allenfalls lauwarmes Verhältnis hat. Zweitens wird entscheidend sein, ob er sein Konzept einer konservativen Erneuerung Amerikas offensiv vertreten kann, oder ob er sich von den zu erwartenden Attacken der Obama-Kampagne und der linken Medien in die Defensive drängen läßt.

Jetzt bewegt sich alles erst einmal auf die republikanische National Convention zu, den Wahlparteitag vom 27. bis 30. August in Tampa, Florida. Danach könnte sich abzeichnen, ob das Kalkül des vorsichtigen Mitt Romney, einmal aus rationalen Erwägungen Vabanque zu spielen, aufgehen wird.­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Das Lansdowne-Porträt von George Washington, gemalt von Gilbert Stuart (1796). National Portrait Gallery der Smithsonian Institution. Das Porträt zeigt Washington, wie er auf eine weitere (dritte) Amtszeit verzichtet. Links zu allen Beiträgen dieser Serie finden Sie hier. Siehe auch die Serie Der 44. Präsident der USA von 2008.