"Im Zweifel für die Anstalt" titelte die FAZ. "Im Zweifel geisteskrank" lautete die Überschrift bei "Spiegel-Online". Die beiden Artikel erschienen, nachdem am Donnerstag die Staatsanwaltschaft ihr Schlußplädoyer im Osloer Breivik-Prozeß gehalten hatte. Beschrieben wurde eine juristische Argumentation der Staatsanwälte, die in "Spiegel-Online" Gerald Traufetter und Espen A. Eik den "Trick mit dem Zweifel" nennen.
In der Tat entwickelten die Staatsanwälte Inga Bejer Engh und Svein Holden eine verblüffende Argumentation; Holden trug sie in seinem Teil des gemeinsamen Plädoyers vor.
Es war eine Argumentation, gedacht, einen Ausweg aus der Gutachtenlage zur Frage der Schuldfähigkeit Breiviks zu finden: Die ersten beiden Gutachter, die Breivik kurz nach der Tat untersuchten, hatten eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Ein Team von achtzehn Gutachtern, das später eine Langzeitbeobachtung durchführte, war hingegen mit großer Mehrheit (16 zu 2 Beurteilungen) zu der Diagnose gelangt, daß keine Schizophrenie vorliegt (siehe Marginalie: Breivik ist nicht schizophren. Sagt ein Team von Experten; ZR vom 11. 6. 2012).
Anders als in der Anklageschrift stellten sich die Staatsanwälte jetzt in ihren Schlußplädoyers nicht mehr auf den Standpunkt, daß Breivik geisteskrank sei. Holden würdigte sogar das Gutachterteam, das zu der Diagnose "nicht schizophren" gekommen war, als "kompetent" und bemängelte andererseits das erste Gutachten, in dem Breivik als schizophren diagnostiziert worden war, weil es nicht gut genug untermauert sei.
Schwenkte also die Staatsanwalstschaft um? Ja und nein. Holden verfolgte eine Taktik, die man im Französischen als reculer pour mieux sauter bezeichnet - einen Schritt zurück tun, um besser springen zu können. Er konzidierte, daß Breivik möglicherweise nicht geisteskrank ist. Aber es bestehe eben nach der Gutachtenlage auch die Möglichkeit, daß er es ist, und dann greife das Rechtsprinzip "Im Zweifel für den Angeklagten".
"Im Zweifel für den Angeklagten" - das heißt, er kommt in den Genuß einer Therapie, statt im Gefängnis zu verschwinden. Holden führte Beispiele von Fällen an, in denen zuvor schon norwegische Gerichte nach diesem Prinzip auf Einweisung in eine Anstalt statt Gefängnis entschieden hatten. Es sei sogar versucht worden, den Grad des Zweifels an der geistigen Gesundheit zu quantifizieren, bei dem eine solche Entscheidung geboten ist - schon 10, 20, 25 Prozent Wahrscheinlichkeit einer Geisteskrankheit hätten genügt.
Auf den ersten Blick sieht das bestechend aus. Die Anklage nimmt das Gutachten zur Kenntnis, das ihrer ursprünglichen Beurteilung widerspricht, und würdigt es sogar. Sie beharrt auch gar nicht auf dieser bisherigen Beurteilung; wohl aber bleibt sie bei der Folgerung, die sie daraus zieht: Breivik soll nicht ins Gefängnis, sondern in eine geschlossene Anstalt. Im Zweifel für den Angeklagten.
Nur hat diese Argumentation ein Loch; ein Loch, so groß wie ein Scheunentor: Ihre Voraussetzung, daß die Entscheidung für die Psychiatrie eine Entscheidung "zugunsten des Angeklagten" ist.
Nun hat aber Breivik eindeutig erklärt, daß er lieber ins Gefängnis will als in eine psychiatrische Anstalt. Für ihn ist also das, was die Staatsanwaltschaft fordert, eindeutig eine Entscheidung zu seinen Ungunsten. Eine Entscheidung im Zweifel nicht für, sondern gegen den Angeklagten.
Nun können die Staatsanwälte allerdings argumentieren, das liege an fehlender Krankheitseinsicht. Es ist in der Tat gerade bei paranoiden Schizophrenen nicht selten, daß sie jeden Gedanken daran, sie könnten krank sein, empört von sich weisen.
Objektiv betrachtet sei die Einweisung in eine Anstalt eine Entscheidung somit zugunsten Breiviks, auch wenn dieser selbst das aufgrund seiner fehlenden Krankheitseinsicht bestreite - so könnte die Anklage ihren Antrag zu rechtfertigen versuchen.
Aber es liegt auf der Hand, daß diese Argumentation nur greift, wenn man bereits voraussetzt, daß Breivik schizophren ist; eine Voraussetzung, welche die Staatsanwälte ja gerade aufgegeben haben.
Ist Breivik aber nicht geisteskrank - eine Möglichkeit, welche die Staatsanwälte ja einräumen -, dann ist es absolut nachvollziehbar und folglich zu respektieren, daß er das Gefängnis der Anstalt vorzieht. Ein Urteil, das einen Gesunden, der das Gefängnis bevorzugt, gegen seinen ausdrücklichen Willen in die Psychiatrie einweist, wäre eine Entscheidung nicht in dubio pro reo, sondern in dubio contra reum - im Zweifel gegen den Angeklagten.
Die Argumentation der Anklage bricht also bei näheren Hinsehen krachend zusammen. Sie funktioniert nur unter der Voraussetzung, daß Breivik schizophren ist. Macht man aber diese Voraussetzung, dann braucht man das Argument "Im Zweifel für den Angeklagten" logischerweise nicht mehr.
In der Tat entwickelten die Staatsanwälte Inga Bejer Engh und Svein Holden eine verblüffende Argumentation; Holden trug sie in seinem Teil des gemeinsamen Plädoyers vor.
Es war eine Argumentation, gedacht, einen Ausweg aus der Gutachtenlage zur Frage der Schuldfähigkeit Breiviks zu finden: Die ersten beiden Gutachter, die Breivik kurz nach der Tat untersuchten, hatten eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Ein Team von achtzehn Gutachtern, das später eine Langzeitbeobachtung durchführte, war hingegen mit großer Mehrheit (16 zu 2 Beurteilungen) zu der Diagnose gelangt, daß keine Schizophrenie vorliegt (siehe Marginalie: Breivik ist nicht schizophren. Sagt ein Team von Experten; ZR vom 11. 6. 2012).
Anders als in der Anklageschrift stellten sich die Staatsanwälte jetzt in ihren Schlußplädoyers nicht mehr auf den Standpunkt, daß Breivik geisteskrank sei. Holden würdigte sogar das Gutachterteam, das zu der Diagnose "nicht schizophren" gekommen war, als "kompetent" und bemängelte andererseits das erste Gutachten, in dem Breivik als schizophren diagnostiziert worden war, weil es nicht gut genug untermauert sei.
Schwenkte also die Staatsanwalstschaft um? Ja und nein. Holden verfolgte eine Taktik, die man im Französischen als reculer pour mieux sauter bezeichnet - einen Schritt zurück tun, um besser springen zu können. Er konzidierte, daß Breivik möglicherweise nicht geisteskrank ist. Aber es bestehe eben nach der Gutachtenlage auch die Möglichkeit, daß er es ist, und dann greife das Rechtsprinzip "Im Zweifel für den Angeklagten".
"Im Zweifel für den Angeklagten" - das heißt, er kommt in den Genuß einer Therapie, statt im Gefängnis zu verschwinden. Holden führte Beispiele von Fällen an, in denen zuvor schon norwegische Gerichte nach diesem Prinzip auf Einweisung in eine Anstalt statt Gefängnis entschieden hatten. Es sei sogar versucht worden, den Grad des Zweifels an der geistigen Gesundheit zu quantifizieren, bei dem eine solche Entscheidung geboten ist - schon 10, 20, 25 Prozent Wahrscheinlichkeit einer Geisteskrankheit hätten genügt.
Auf den ersten Blick sieht das bestechend aus. Die Anklage nimmt das Gutachten zur Kenntnis, das ihrer ursprünglichen Beurteilung widerspricht, und würdigt es sogar. Sie beharrt auch gar nicht auf dieser bisherigen Beurteilung; wohl aber bleibt sie bei der Folgerung, die sie daraus zieht: Breivik soll nicht ins Gefängnis, sondern in eine geschlossene Anstalt. Im Zweifel für den Angeklagten.
Nur hat diese Argumentation ein Loch; ein Loch, so groß wie ein Scheunentor: Ihre Voraussetzung, daß die Entscheidung für die Psychiatrie eine Entscheidung "zugunsten des Angeklagten" ist.
Nun hat aber Breivik eindeutig erklärt, daß er lieber ins Gefängnis will als in eine psychiatrische Anstalt. Für ihn ist also das, was die Staatsanwaltschaft fordert, eindeutig eine Entscheidung zu seinen Ungunsten. Eine Entscheidung im Zweifel nicht für, sondern gegen den Angeklagten.
Nun können die Staatsanwälte allerdings argumentieren, das liege an fehlender Krankheitseinsicht. Es ist in der Tat gerade bei paranoiden Schizophrenen nicht selten, daß sie jeden Gedanken daran, sie könnten krank sein, empört von sich weisen.
Objektiv betrachtet sei die Einweisung in eine Anstalt eine Entscheidung somit zugunsten Breiviks, auch wenn dieser selbst das aufgrund seiner fehlenden Krankheitseinsicht bestreite - so könnte die Anklage ihren Antrag zu rechtfertigen versuchen.
Aber es liegt auf der Hand, daß diese Argumentation nur greift, wenn man bereits voraussetzt, daß Breivik schizophren ist; eine Voraussetzung, welche die Staatsanwälte ja gerade aufgegeben haben.
Ist Breivik aber nicht geisteskrank - eine Möglichkeit, welche die Staatsanwälte ja einräumen -, dann ist es absolut nachvollziehbar und folglich zu respektieren, daß er das Gefängnis der Anstalt vorzieht. Ein Urteil, das einen Gesunden, der das Gefängnis bevorzugt, gegen seinen ausdrücklichen Willen in die Psychiatrie einweist, wäre eine Entscheidung nicht in dubio pro reo, sondern in dubio contra reum - im Zweifel gegen den Angeklagten.
Die Argumentation der Anklage bricht also bei näheren Hinsehen krachend zusammen. Sie funktioniert nur unter der Voraussetzung, daß Breivik schizophren ist. Macht man aber diese Voraussetzung, dann braucht man das Argument "Im Zweifel für den Angeklagten" logischerweise nicht mehr.
Zettel
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