30. April 2012

Zettels Meckerecke: Empörend!

Ist Ihnen das auch schon aufgefallen? Wenn man den Medien traut, dann sind wir eine Gesellschaft von Empörten. Ständig passiert in diesem Land etwas, über das wir empört sind. Nun gut, nicht wir alle. Aber stellvertretend für uns diejenigen, die aktuell einen Anlaß zum Empörtsein haben. Jedenfalls, wie gesagt, wenn man den Medien glaubt.

Aktuelles Beispiel: Vor einigen Stunden wurde bekannt, daß der Bundes­gerichts­hof das Urteil gegen den Vater des "Amokläufers von Winnenden" aufgehoben hat. Sie erinnern sich an den Fall: Am 11. März 2009 hatte der 17-jährige Tim Kretschmer bei einem Amoklauf 15 Menschen und sich selbst getötet (Anmerkungen zum Schulmassaker in Winnenden; ZR vom 11. 3. 2009).

Kretschmer verwendete dazu eine Waffe, die er aus dem unverschlossenen Schlafzimmer seines Vaters entwendet hatte, eines Sportschützen. Dieser war deshalb wegen fahrlässiger Tötung zu einem Jahr und neun Monaten Freiheitsentzug auf Bewährung verurteilt worden. Seine Anwälte hatten Revision eingelegt, der vom BGH jetzt wegen eines Verfahrensfehlers stattgegeben wurde: Die Verteidigung hatte in dem Prozeß keine Gelegenheit erhalten, eine Therapeutin Tim Kretschmers zu befragen, die als Zeugin aufgetreten war.

Über Schuld oder Unschuld des Vaters Kretschmer ist damit nichts gesagt; es muß allerdings neu gegen ihn verhandelt werden.

Über dieses Urteil nun findet man seit heute 15.50 Uhr eine Meldung in "Spiegel-Online", in deren Vorspann es heißt:
Jetzt will der Bundesgerichtshof das Urteil wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung aufheben. Die Angehörigen der Opfer von Winnenden sind empört.
Sie sind empört, die Angehörigen. Und das weiß "Spiegel-Online" schon wenige Stunden, nachdem die Entscheidung des BGH veröffentlicht wurde.

Natürlich weiß es die Redaktion von "Spiegel-Online" nicht. Sie hat sich das aus den Fingern gesogen, mal wieder. Seriöse Quellen wie FAZ-Net berichten lediglich von einer Reaktion des Anwalts einiger der Nebenkläger, Jens Rabe; und dieser war nicht "empört", sondern sagte: "Das ist sehr ärgerlich und für die Angehörigen sehr belastend".



Der übliche Revolverjournalismus von "Spiegel-Online" also, mit dem ich mich gerade ein wenig befaßt habe­. Aber es ist ja nicht nur das, nicht der Einzelfall "Spiegel-Online". Sondern es wird mit einer derartigen Falschmeldung ein Klischee bedient, das in unserer Gesellschaft allgegenwärtig ist. Aus den deutschen Medien der vergangenen Tage, ziemlich wahllos herausgegriffen:
  • "Betreuungsgeld - Ausschluss Armer empört die Opposition" ("Handelsblatt", 25. 4.)

  • "Kirchen über Hartz-IV-Benachteiligung empört" ("Die Welt", 26. 4.)

  • "Bretterverschläge an den Esso-Häusern - Initiative empört" ("Hamburger Abendblatt", 27. 4.)

  • "Brüssel kappt Förderung - Sager empört" ("SHZ.de", 27. 4.)

  • "Musikgebühr empört Schützen" ("RP-Online"; 28. 4.)

  • "Krafts Kita-Äußerung empört die Union" ("Süddeutsche.de", 29. 4.)

  • "Empört Euch!" ("Junge Welt", 30. 4.)
  • Dieser letztgenannte Artikel in der heutigen Ausgabe der kommunistischen Tageszeitung "Junge Welt" bezieht sich auf eine Beilage zum 1. Mai. Ein Aufruf also. In der Tat ist der Gestus des ständigen Empörtseins eine Haltung der extremen Linken, ja ihre Grundbefindlichkeit.

    Denn der Empörte ärgert sich ja nicht einfach über irgend etwas. Er kritisiert es. Und er kritisiert es nicht nur, sondern er kritisiert es wütend. Und diese seine Wut - auch das impliziert das Wort "empört" - ist wohlbegründet; sie richtet sich gegen einen Schuldigen. Dieser Schuldige kann ein Einzelner sein. Für den Linksextremen ist es der Kapitalismus.

    Sie hat etwas von einem Heiligen Zorn, die Wut des Empörten. Wem ein Meteorit auf sein Haus fällt, der mag darob wütend sein; aber empört ist er nicht. Das könnte er aber sein, wenn jemand gegen sein Haus einen Stein wirft. Und so richtig empört ist er, wenn er die Gesellschaft dafür verantwortlich machen kann, die den Steinewerfer nicht richtig erzogen hat. Oder ihm ja vielleicht Anlaß gegeben, seinerseits empört zu sein; er selbst ein Opfer.

    Verwendet man, wie die "Junge Welt", das Verb "empören" reflexiv in der Wortform "sich empören", dann wird das noch deutlicher: Sich empören, das tun die Verdammten dieser Erde, die Mühseligen und Beladenen. Diejenigen, die den schlimmen Zustand dieser Welt nicht ertragen können.



    Daß "empört", "Empörung" usw. im Deutschland dieser Tage allgegenwärtige Wörter sind, ist demnach kein Zufall. Es drückt die Befindlichkeit einer Gesellschaft aus, die zunehmend von einem Denken geprägt wird, das einst das Kennzeichen des Linksextremismus war: Moralisierend, die gesellschaftlichen Zustände verdammend, letztlich auf deren Umsturz gerichtet.

    Nein, daran denkt niemand bei "Spiegel-Online", wenn er den Angehörigen der Opfer von Winnenden Empörtheit andichtet. Solche Klischees breiten sich ja gerade deshalb aus, weil nicht nachgedacht wird. Sie appellieren an das, was man heute gern das "Bauchgefühl" nennt. Ganz unpolitisch, aber allgegenwärtig.

    Das Bauchgefühl, das sich in Deutschland zu etablieren beginnt, mit tätiger Förderung durch viele Medien, beinhaltet dies: Es ist irgendwie alles ganz falsch in diesem Land. Die Dinge sind empörend, so wie sie sind. Vom Betreuungsgeld bis zum Bretterverschlag. Sich empört zeigen, das kann eigentlich nie falsch sein.
    Zettel



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