15. August 2011

"Dem Präsidenten liefen Tränen über die Wangen". John F. Kennedys Versagen in der Berlinkrise und seine Folgen

Als ich vorgestern über die Verantwortung für den Bau der Mauer geschrieben habe, ging es mir vor allem darum, auf Verfälschungen durch die kommunistische Agitprop aufmerksam zu machen: Die Mauer sei eigentlich ein "Schutzwall" gegen Infiltration gewesen; sie sei "notwendig" gewesen, um ein Ausbluten der DDR zu verhindern; sie hätte die Gefahr eines drohenden Kriegs beseitigt und sei somit eigentlich ein Werk der Friedenssicherung gewesen.

Das ist Geschichtsklitterei in der kommunistischen Tradition, Geschichtsschreibung als Mittel im politischen Kampf einzusetzen.

Nur am Rande bin ich in diesem Artikel auf die Mitverantwortung des Westens für den Mauerbau eingegangen; auf die Verantwortlichkeit vor allem des amerikanschen Präsidenten John F. Kennedy. Inzwischen ist in der Washington Post ein Artikel des Kolumnisten George F. Will erschienen, der diesen Aspekt beleuchtet. Er veranlaßt mich, jetzt noch einmal dieses Thema aufzugreifen.

Will stützt sich vor allem auf Frederick Kempes Buch "Berlin 1961". Den Journalisten Kempe, der jetzt Präsident des Think Tank "Atlantic Council" ist, kennen Sie vielleicht von seinen Auftritten im deutschen Fernsehen; er war langjähriger Berlin-Korrespondent des Wall Street Journal und spricht ausgezeichnet Deutsch.

Was ich in diesem Artikel beschreibe, stützt sich wesentlich auf die Kolumne von Will. Es ist aber meine eigene Sicht; keine Paraphrase dieses Artikels.



Kein amerikanischer Präsident der Zeitgeschichte bis 2009 hat in seinem ersten Amtsjahr derart Fehler auf Fehler gehäuft wie John F. Kennedy. Er war, bis Barack Obama kam, der am meisten überschätzte Präsident, der unfähigste Präsident der USA seit Jahrzehnten. Durch seinen Tod wurde er zur Ikone. Ohne das Attentat wäre er sehr wahrscheinlich als ein ungewöhnlich schlechter Präsident in die Geschichte eingegangen; als ein Präsident, der das Handwerk des Regierens schlicht nicht beherrschte.

Es begann mit der gescheiterten Invasion Cubas, dem Abenteuer an der Schweinebucht im April 1961. Dieses schlecht geplante, bemerkenswert dumme Unternehmen überzeugte Nikita Chruschtschow davon, daß der junge Präsident zu unerfahren sei, das Risiko eines solchen Vorgehens zu erkennen - und zu charakterschwach, um es, wenn er es denn schon begonnen hatte, mit allen erforderlichen Mitteln zum Erfolg zu bringen. Unverzeihlich aus der Sicht eines Kommunisten, der ausschließlich in Machtkategorien denkt. Der Beweis der Unfähigkeit, der Schwäche dieses Präsidenten Kennedy.

Die Einschätzung der sowjetischen Führung, daß Kennedy ein schwacher und unentschlossener Präsident sei, prägte die Politik der UdSSR in den Jahren 1961 und 1962. Sie war es, welche die Welt in der Cuba-Krise des Jahres 1962 an den Rand eines nuklearen Weltkriegs brachte. Und sie war zuvor die Voraussetzung für den Bau der Mauer gewesen.

Die Sowjetunion hatte Erfolge im Weltall und beim Wettrüsten erzielt; und angesichts des schwachen Präsidenten Kennedy hielt es Chruschtschow für an der Zeit, aufzutrumpfen und das weltpolitische Gleichgewicht entscheidend zugunsten der UdSSR zu verändern. Es war das Spiel eines ausgekochten kommunistischen Apparatschiks gegen einen unerfahrenen 44jährigen Sproß der amerikanischen Aristokratie. Dieses Spiel sollte den entscheidenden machtpolitischen Durchbruch der UdSSR bringen; es sollte zusammen mit der Unterstützung weltweiter sogenannter "nationaler Befreiungsbewegungen" die Weltrevolution einleiten.

Die Stunde der Wahrheit war das Treffen zwischen Kennedy und Chruschtschow am 3./4. Juni 1961 in Wien. George F. Will:
Khrushchev treated Kennedy with brutal disdain. In excruciating pain from his ailing back and pumped full of perhaps disorienting drugs by his disreputable doctor (who would lose his medical license in 1975), Kennedy said that it was the "worst thing in my life. He savaged me." British Prime Minister Harold Macmillan said, "For the first time in his life, Kennedy met a man who was impervious to his charm." Kempe writes, "From that point forward Khrushchev would act more aggressively in the conviction that there would be little price to pay." Kempe says that when Robert Kennedy met with his brother back in Washington, "Tears were running down the president's cheeks."

Chruschtschow behandelte Kennedy mit brutaler Verachtung. Von peinigenden Schmerzen in seinem kaputten Rücken gequält und vollgepumpt mit möglicherweise sein Urteil trübenden Medikamenten seines umstrittenen Arztes (der seine Zulassung dann 1975 verlor), sagte Kennedy, dies sei "das Schlimmste, das mir in meinem Leben widerfahren ist. Er machte mich fertig." Der britische Premierminister Harold Macmillan sagte: "Erstmals im Leben traf Kennedy auf einen Menschen, der seinem Charme widerstand". Kempe schreibt: "Ab diesem Zeitpunkt würde Chruschtschow aggressiver handeln; er war davon überzeugt, daß er dafür kaum einen Preis zu zahlen haben würde". Kempe schreibt, daß dann, als Robert Kennedy mit seinem nach Washington zurückgekehrten Bruder zusammentraf, "dem Präsidenten die Tränen über die Wangen liefen".



Kennedy weinte nicht zu Unrecht. Er hatte bei der Operation Schweinebucht versagt; er hatte in Wien versagt. Es lag in der Logik der kommunistischen machtpolitischen Einschätzung, daß ein Bruch des Viermächteabkommens über Berlin von Kennedy hingenommen werden würde; daß also das Risiko kalkulierbar war. Diese Memme im Weißen Haus würde den Bau einer Mauer, also die eklatante Verletzung des Viermächtestatus von Berlin, hinnehmen.

Chruschtschow hatte richtig kalkuliert. Kennedy reagierte lahm; Adenauer blieb nichts übrig, als sich dem zu fügen. Die Bundesrepublik Deutschland konnte sich ja ohne die Rückendeckung der USA nicht der Sowjetunion widersetzen.

George F. Will berichtet, welchen Eindruck der damalige Spitzenjournalist James Reston von einem Interview mit Kennedy gewann: [He] "has talked like Churchill but acted like Chamberlain" - rhetorisch ist er ein Churchill, aber gehandelt hat er wie Chamberlain.

Für Chruschtschow war damit klar, daß er die Stationierung von Raketen auf Cuba würde riskieren können. Eingerichtet wurden gut ein Jahr nach dem Bau der Mauer Basen für R-12-Dvina-Raketen mit einer Reichweite von mehr als 2000 km, die den gesamten Osten der USA bis in die Mitte des Kontinents hinein hätten erreichen können; mit einer Vorwarnzeit, die einen Gegenschlag unmöglich gemacht hätte. Es war Chruschtschows Griff nach der Weltherrschaft.

Da endlich begriff Kennedy, was auf dem Spiel stand. Hätte er in Berlin standgehalten, dann wäre es wahrscheinlich nie zu dieser Cuba Missile Crisis gekommen, durch welche die Welt an den Rand eines Atomkriegs geriet. Es war learning by doing; der unerfahrene, naive Präsident hatte endlich die Regeln des weltpolitischen Spiels begriffen. Es ging gerade noch einmal gut.



Barack Obama wird gern mit John F. Kennedy verglichen. Ich fürchte, zu Recht.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Posthumes Porträt Präsident Kennedys von Aaron Shikler. Als Werk der US-Regierung in der Public Domain.