2. Juli 2011

Schreiben mit Schwung

Schulpolitische Aufregung um Hamburg! Am 16. Juni wurde ein "Bildungsplan Grundschule" von der Schulbehörde verabschiedet, der vorsieht, daß die Grundschulen ab dem kommenden Schuljahr nur noch die Druckschrift zu lehren brauchen. Ob sie zusätzlich die verbundene Schreibschrift lehren, ist ihnen freigestellt.

Der "Förderverein für bessere Bildung in Hamburg", bekannt geworden durch einen erfolgreichen Volksentscheid gegen das "längere gemeinsame Lernen", das die schwarzgrüne Koalition einführen wollte, protestiert: Bei der sog. "Grundschrift" können die Schülerinnen und Schüler praktisch alles machen, so lange man am Ende die Worte entziffern kann. Das sei eigentlich ein "Unbildungs-Plan". Ebenfalls kritisch äußern sich der "Verein Deutsche Sprache", der "Berufsverband Deutscher Graphologen" sowie Politiker der Opposition in Hamburg.

An den deutschen Grundschulen werden von der Druckschrift abgesehen drei Schreibschriften gelehrt: die "Lateinische Ausgangsschrift", die 1953 von der Kultusministerkonferenz der Bundesrepublik eingeführt wurde, die "Schulausgangsschrift" in der DDR seit 1968, sowie die "Vereinfachte Ausgangsschrift", letztere ein Kind der Bildungsreformen in den frühen 70er Jahren. In manchen Bundesländern ist eine diese Schriften verbindlich, in anderen bleibt es den Schulen überlassen, welche sie lehren wollen. (Siehe Wikipedia.) Seit einigen Jahren vertritt der Grundschulverband, ein Lehrerfachverband mit 12000 Mitgliedern, die Idee, anstelle dieser Schriften nur noch die Druckschrift zu lehren, und die Kinder dann anzuleiten, aus ihr die persönliche Handschrift zu entwickeln. Diese Idee wird nun in Hamburg umgesetzt. (Ende 2010 wurde der Vorschlag bereits in Baden-Württemberg diskutiert, Calimero hat das seinerzeit kommentiert.)

In der neueren Geschichte des Schreibunterrichts in Deutschland gab es zwei markante Brüche: der erste war der Übergang von der "Duktusschrift" zur "Ausgangsschrift". Mit "Duktusschrift" ist gemeint, daß die vorgegebenen Formen möglichst exakt kopiert werden sollten. Im 18. Jh. gab es dazu in roter Farbe gedruckte Kupferstiche, deren Buchstaben zum Üben mit der Feder nachgezeichnet werden sollten, damit die Schrift hernach "wie gestochen" aussah. Noch die Sütterlinschrift wurde als Duktusschrift gelehrt. Anfang des 20. Jahrhunderts kam dagegen die Idee der "Ausgangsschrift" auf: die an der Schule gelehrte Schrift sollte nicht ein Leben lang unverändert beibehalten werden, sondern nur den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer individuellen Handschrift bilden. Die persönliche Handschrift sollte an die Stelle der normgerechten Schönschrift treten. (Quelle: Jules van der Ley, Kleine Kulturgeschichte der Handschrift, GS aktuell 110, Mai 2010.) Dieser Gedanke hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in der Schulpraxis allmählich durchgesetzt und scheint heute unkontrovers zu sein.

Der zweite Bruch in der Geschichte des Schreibunterrichts ist der Aufstieg der Druckschrift zur ersten Schrift. Zunächst machte man sie offenbar zur ersten Leseschrift, wunderte sich dann über die Diskrepanz zur gebundenen Schreibschrift, und meinte dann, es sei besser, Lesen und Schreiben anhand einer Schrift zu lernen, nämlich der Druckschrift. Vorreiter hierfür ist das Land Bayern gewesen: 1981 machte man die Druckschrift zur ersten Schreibschrift, und lehrte erst danach die Lateinische Ausgangsschrift als zweite Schreibschrift. Die anderen Bundesländer folgten diesem Beispiel.

Wenn aber die Druckschrift als erste Schreibschrift gelehrt wird, dann stellt sich die Frage, aus welchem Grund man dann noch eine zweite Schreibschrift unterrichten muß - oder ob nicht die individuelle Handschrift, die ja das Ziel des Schreibunterrichts ist, auch direkt aus der Druckschrift entwickelt werden kann? Braucht man eine spezielle verbundene Schrift als Ausgangspunkt dafür?

Dagegen spricht die Beobachtung, daß die meisten Erwachsenen-Handschriften der Druckschrift recht nahe sind und in der Regel nur zwei bis drei Buchstaben miteinander verbunden werden, nämlich dann, wenn die Verbindung einfach ist. Der Weg von der Druckschrift zur persönlichen Schrift scheint demnach sogar etwas kürzer als der von der schnörkeligen "Ausgangsschrift" zu sein.

Jedenfalls meint der Grundschulverband, daß die Kinder von der Druckschrift direkt zu ihrer Handschrift gelangen können, und um diesen Vorgang zu erleichtern, haben sie eine spezielle Schrift entwickelt, die "Grundschrift", bei der manche Buchstaben mit kleinen Häkchen versehen sind, um die Möglichkeit eines Verbindungsstriches anzudeuten: Beim "Schreiben mit Schwung" würden die Kinder dann ihre höchstpersönliche Schrift erfinden können. Dies soll unter pädagogischer Anleitung geschehen, damit dabei die Lesbarkeit erhalten bleibt.



Soweit finde ich den neuen Ansatz schon einleuchtend, und auf erfolgreiche Versuche mit zufriedenen Lehrkräften und Schülern kann der Grundschulverband selbstverständlich auch verweisen. Er zieht die Konsequenz aus dem zweiten Bruch in der Geschichte des Schreibunterrichts, der Vorrangstellung der Druckschrift.

Fragwürdig finde ich dagegen den früheren Umbruch zur Idee der Ausgangsschrift, welche die individuelle Handschrift zum Ziel erklärte. Weshalb sollte die Persönlichkeit der Schreibenden gerade in Form einer "Klaue" zum Ausdruck kommen? Individualität ist ja schön, aber wozu sollte sie gerade auf dem Gebiet der Kommunikationswerkzeuge gut sein? Es genügt doch völlig, wenn die Texte einen persönlichen Stil und eigenständigen Inhalt haben. Bei der Schriftgestalt dagegen ist Individualität nichts weiter als ein Lesehindernis.

Nun mag man einwenden, die Leute entwickelten im Lauf des Lebens ja doch eine eigene Handschrift, warum sollte man also versuchen, sie auf eine Norm drillen? Diese habe ihren Sinn in einer Zeit gehabt, als Dokumente noch mit der Hand geschrieben wurden, von eigens in "Schönschrift" ausgebildeten Kanzleischreibern - doch mit der Erfindung der Schreibmaschine sei dieser Zweck einer Duktusschrift nun hinfällig geworden. Es gäbe nun keinen besonderen Druck mehr, nach der Regel zu schreiben und daher schrieben alle, wie es ihnen passe, ob man das nun als Individualität hochschätzt oder nicht.

Mir scheint jedoch, daß der hauptsächliche Grund für die Entstehung einer persönlichen Schreibweise nicht im Streben nach individuellem Ausdruck - und auch nicht in beklagenswerter Nachlässigkeit - sondern in dem Bestreben liegt, schneller zu schreiben, als es die Ausgangsschrift ermöglicht. Eben zu diesem Zweck wird die Schrift vereinfacht, und da es hierfür keine Anleitung gibt, macht das jeder, wie es ihm so einfällt. Was als Individualität gefeiert wird, stellt daher im Grunde den halbherzigen, unsystematischen und undurchdachten Versuch dar, aus der umständlichen Langschrift eine Kurzschrift zu entwickeln. Während dabei die Schreibgeschwindigkeit nur unwesentlich erhöht wird, leidet die Lesbarkeit unter dem individuellen Charakter der Vereinfachungen.

Warum aber sollte man die Vereinfachung der Ausgangsschrift den einzelnen Schreibern überlassen? Es gibt doch längst eine normierte Kurzschrift, die das sehr viel besser leistet und sowohl rasches Schreiben als auch gute Lesbarkeit ermöglicht. Wenn die Druckschrift erste Lese- und Schreibschrift sein soll, was einleuchtet, dann liegt es nahe, als zweites gleich die Kurzschrift zu lehren - anstelle der etwas komischen Bemühung, die sich dilettantisch vereinfachende Handschrift der Schüler in den Grenzen der Lesbarkeit zu halten.

Es ist falsch, die Stenographie als eine Spezialtechnik für einige wenige professionelle Schreiber abzutun; sie ist vielmehr die effizienteste Handschrift, die es gibt. Sie sollte an der Grundschule gelehrt werden.
Kallias

© Kallias. Das Bild aus dem "Bildungsplan Grundschule", Hamburg 2011 ist als Teil eines "Amtlichen Werks" gemeinfrei. Für Kommentare bitte hier klicken.