25. Mai 2011

Literarische Randnotizen (1): Tagebücher, Exhibitionisten, Voyeure

In der aktuellen "Zeit" hat Thomas Lehmkuhl die kürzlich erschienen Toskana-Tagebücher Robert Gernhardts ("Toscana mia") rezensiert. Gestern hat dieser Artikel seinen Weg auch in "Zeit-Online" gefunden.

Was diese späte Übernahme motiviert hat, weiß ich nicht. Gerechtfertigt jedenfalls ist sie nicht. Denn Lehmkuhls Rezension zeugt von einem bemerkenswerten Unverständnis. Sie wäre besser in den Tiefen des Literaturteils der gedruckten "Zeit" verborgen geblieben.

Daß Lehmkuhl, nachdem er dieses eine Buch gelesen hat, nun Grund sieht, "an der Bedeutung dieses seit vielen Jahren so erstaunlich einhellig umjubelten Autors zu zweifeln", ist seltsam genug. Seit wann entwertet denn ein einziges mißglücktes Buch - nehmen wir an, "Toscana mia" wäre das - das Lebenswerk eines Schriftstellers?

Noch dazu geht es hier ja aber gar nicht um literarische Produktion. Die Herausgeberin Kristina Maidt-Zinke hat mehrere Jahrzehnte Tagebücher Gernhardts, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach lagern, gesichtet und daraus diesen Band zusammengestellt. Aus dem Inhalt von 675 Heften - Kladden des Herstellers Brunnen und deshalb die "Brunnenhefte" genannt - hat sie ein Buch von 357 Seiten destilliert.

Wenn für Lehmkuhl die Lektüre dieses Bands Anlaß ist, an der literarischen Bedeutung Gernhardts zu zweifeln, dann ist dies Anlaß, an Lehmkuhl als Rezensenten zu zweifeln.

Tagebücher sind Tagebücher sind Tagebücher. Sie sind keine Literatur, obwohl nicht selten höchst lesenswert. Aber es ist verfehlt, literarische Maßstäbe an sie anzulegen.

Niemand - naja, Lehmkuhl offenbar ausgenommen - käme beispielsweise auf den Gedanken, die literarische Bedeutung Thomas Manns an dessen Tagebüchern zu messen. Ihr Autor hat sie bekanntlich selbst als "without any literary value" bezeichnet; als ohne jeden literarischen Wert. Und in derselben, auf den Tagebüchern angebrachten Notiz hinzugefügt: " ... not to be opened by anybody before 20 years after my death". Niemand dürfe sie öffnen, bevor er zwanzig Jahre tot sei.

Dann aber schon. Er wollte ja nicht verhindern, daß man sie las, seine Tagebücher. Aber als Literatur wollte er sie nicht verstanden wissen. Wenn Thomas Mann Literatur produzieren wollte, dann schrieb und publizierte er einen Roman, eine Novelle, einen Essay. Tagebücher schrieb er aus anderen Gründen; so, wie es viele Schriftsteller tun. So, wie es Rorbert Gernhardt getan hat.



Wer ein Tagebuch schreibt, der will sein Leben dokumentieren; für sich selbst, vielleicht auch für die Nachwelt.

Er will beim Schreiben Rückschau auf den Tag halten; dabei das Wichtige vom Nebensächlichen trennen; vielleicht über das reflektieren, was er getan und gedacht hat. Er mag damit im Lauf der Jahre ein biographisches Gerüst errichten wollen. Ein Kondensat seines Lebens, in Sprache niedergelegte Spuren seines Erdenwandels. Hält er sich für bedeutend, dann mag er auch im Sinn haben, seinen späteren Biographen Material zu hinterlassen.

Ist er Schriftsteller, der Tagebuchschreiber, dann kommt eine handwerkliche Seite hinzu: Das Tagebuch hält Begebenheiten, hält Reflexionen fest, die später für das Werk verwendet werden können. Es stellt sozusagen einen Steinbruch zur Verfügung, aus dem der Schreibende sich das eine oder andere herausbrechen kann, wenn es ein literarisches Bauwerk zu errichten gilt.

Aber niemand käme auf den Gedanken, die Quader zu untersuchen, aus denen ein Gebäude errichtet wird, um daraus auf dessen architektonischen Wert zu schließen. Ebenso abwegig ist Lehmkuhls Verdikt über Gernhardt literarisches Werk, gestützt auf diese Tagebücher.



Nun ist allerdings einzuräumen, daß Schriftsteller Tagebücher nicht ausschließlich aus den bisher genannten Gründen schreiben. Der Gedanke, daß sie dereinst publiziert werden, mag schon mitschwingen - als ein Gedankenspiel, als eine Möglichkeit, bei Einigen vielleicht auch als ein festes Vorhaben.

Das kann zu Tagebüchern führen, die beachtliche formale Qualitäten haben, wie beispielsweise diejenigen von Peter Rühmkorf (TABU I. Tagebücher 1989-1991; TABU II. Tagebücher 1971-1972). Der Schreiber formuliert dort teilweise so treffsicher, daß man an eine spätere Bearbeitung denken könnte. Rühmkorf hat sie nach eigenem Zeugnis aber nicht vorgenommen.

Ein anderes Beispiel sind die Tagebücher von Martin Walser, von denen bisher die ersten drei Bände erschienen sind. Wortgetreu so gedruckt, wie Walser es in seinen Kladden eingetragen hatte. Mit Passagen, gedanklich und sprachlich so glänzend, als seien sie den Mühen langen, wiederholten Überarbeitens zu verdanken.



Sieht man sich die Rezensionen zum ersten Band von Walsers Tagebüchern an, dann ist eine gewisse Enttäuschung unübersehbar: Man vermißt das Persönliche.

Walser reflektiert überwiegend über das Schreiben, über sein Werk. Ja gut, das ist auch interessant. Aber wer ein Tagebuch liest, der möchte doch vor allem eines: Den authentischen Einblick in ein fremdes Leben. Der Leser eines veröffentlichten Tagebuchs ist eine Art Voyeur; vom Autor erwartet er einen gewissen Exhibitionismus.

Jedenfalls von Autoren wie Mann, Rühmkorf, Walser erwartet man ihn, die ihre Tagebücher auf eine spätere Veröffentlichung hin angelegt, die dieser zumindest zugestimmt haben. Oder - um ein einigermaßen aktuelles und besonders illustratives Beispiel zu nennen - von Fritz J. Raddatz. Dessen Buch mit dem seltsam redundanten Titel "Tagebücher 1982-2001. Jahre 1982-2001", erschienen im vergangenen September, ist nachgerade eine Orgie der Selbstenthüllung; freilich erst recht der Entblößung anderer - der Kollegen, der Konkurrenten und Kulturgrößen, mit denen es Raddatz als langjähriger Feuilleton-Chef der "Zeit" zu tun gehabt hatte.

Hellmuth Karasek, wie Raddatz ein Intimus diese Szene, seinerseits einmal Kultur-Chef des "Spiegel", hat in seiner Rezension in der "Welt" diesen Exhibitionismus genüßlich beschrieben; wobei man nicht weiß, was beeindruckender ist: Das Geklatsche von Raddatz oder Karaseks Geklatsche über das Geklatsche von Raddatz. Kostprobe (Karasek zitiert Raddatz, der einen Abend bei Rudolf Augsteins Ex-Ehefrau Gisela Stelly schildert):
"Er (gemeint ist Augstein): 'Eigentlich wollte ich Gisela (immerhin war das mal seine Frau und er hat einen Sohn mit ihr) die Memoiren der jetzigen amerikanischen Botschafterin in Paris mitbringen, eine der größten Huren der Welt. Aber sie hätte das auf sich bezogen.'

Ich (Raddatz): 'Wir wollen hier nicht die Gastgeberin beleidigen.'

Er: 'Ich bin hier der Gastgeber. (Womit er andeuten will, dass sie per Abfindung von IHM lebt).'

Ich: 'Ach, deshalb gibt es den miesen Sekt statt Champagner.' Worauf er schwieg und Frau Dohnanyi entgeistert vom Sofa floh."
So ähnlich dürfte am Hof von Ludwig XIV. die Madame de *** die Marquise de *** mit Sottisen versorgt haben.

Karasak gibt sich Mühe, dahinter nicht zurückzubleiben, indem er seinerseits Raddatz bloßstellt:
Das alles ist schön und gut, nur dass der ganze Zirkus von Raddatz veranstaltet wird, um jahrelang Tagebuch über eine persönliche Kränkung zu führen und alle, die an der Kränkung beteiligt waren oder ihn nicht geschützt haben, ihm nicht beigesprungen sind, nun geradezu mit einem niederträchtigen Hass zu verfolgen. Da kennt er nichts und niemand. Dabei war Raddatz' große Katastrophe (die zweite nach seinem Rauswurf bei Rowohlt), dass er als Feuilletonchef der "Zeit" flog - gefeuert wegen einer "Lappalie", wie er fand.
Und so weiter und so weiter. Raddatz macht Kollegen nieder, und Karasek macht Raddatz nieder, weil er Kollegen niedermacht. Wer's denn mag.



Diese Selbstentblößung, die als Startpunkt dafür dient, über andere herzuziehen, ist das eine Extrem dessen, was publizierte Tagebücher sein können: Das zunächst im stillen Kämmerlein Niedergeschriebene wird zur Ware auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Zum Schluß möchte ich ein Beispiel für das Gegenteil geben; für ein ganz und ganz uneitles Tagebuch.

Alice Schmidt hat es geführt, die Frau von Arno Schmidt. Bisher sind zwei Bände erschienen, die Tagebücher der Jahre 1954 und 1955; dasjenige des Jahres 1956 ist für diesen Herbst angekündigt. Alice Schmidt war mit Arno Schmidt so eng verbunden - nicht nur als seine Frau, mit der er fast stets 24 Stunden am Tag zusammen war, sondern auch als seine Mitarbeiterin, seine Kritikerin, seine Sekretärin -, daß dies zugleich ein Tagebuch über Arno Schmidt ist.

Es ist die nüchterne, präzise Schilderung der Tage einer aufs Äußerste reduzierten Existenz. Vor allem 1954 lebten die Schmidt noch am Rand des Existenzminimums. Alice schildert das zum Beispiel so (Eintragung vom 15. Februar; zuvor hatte sie erwähnt, daß von Rowohlt Honorar eingegangen war):
Zählen Geld durch u. entscheiden: 150 DM pro Monat bis einschl. Aug. nächsten Jahres. A. gibt mir 300 Mark für Nähmaschine, legt 300 Mark für Sommerreise zurück bleiben rund 100 Mark für Sonderausgaben. 100 Mark für nächsten Winter: Kohlen sind auch noch da. Sonst aber absolut nichts. Nichts für evtl. Steuer, nichts wenn einer krank wird. Wir müssen aber sehen, daß wir unbedingt mit 150 Mark im Monat auskommen, also Wohnung, essen, Elektrisch, eben alle Ausgaben. Muß gehen!
Interessiert das den heutigen Leser noch? So amüsant wie Raddatz' Klatsch und so intellektuell anregend wie die Tagebücher von Rühmkorf und Walser ist es gewiß nicht. Aber es entsteht aus solchen Aufzeichnungen - über Sorgen und Freuden des Alltags; über Anschaffungen, Krankheiten, die Katzen; aber auch Ausflüge, eine Reise nach Berlin - bei aller Nüchternheiten der Schilderungen, oder gerade durch sie, ein plastisches Bild jener Zeit.

Und natürlich erfährt man alles über Arno Schmidts Arbeit, seine Pläne und seine Selbstzweifel; über seine Kontakte mit Lesern, Kollegen, Lektoren, so sporadisch sie auch waren. Gewiß, man kann einen Autoren lesen, ohne sich für seine Biographie zu interessieren; diese mag sich sogar zwischen den Leser und das Werk drängen. Aber Interesse an dem Werk erzeugt fast immer auch den Wunsch, Genaueres über den Autor zu erfahren. Für den intensiven Leser Arno Schmidts sind diese Tagebücher eine nachgerade unverzichtbare Quelle.

Die Lektüre der Tagebücher von Rühmkorf und Walser habe ich genossen; das waren Lesevergnügen. Stärker bewegt haben mich die beiden Bände der Tagebücher von Alice Schmidt; sie haben auch mein Wissen mehr bereichert.

Raddatz habe ich nicht gelesen und werde ich nicht lesen. "Toscana mia" steht auf meiner Leseliste.



Zu Robert Gernhardt siehe Robert Gernhardt ist tot; ZR vom 30. 6. 2006; zu Martin Walser Martin Walser zum 80. Geburtstag (1): Walser und Walser; ZR vom 13. 3. 2007 und Martin Walser zum 80. Geburtstag (2): Der Künstler und die Politik; ZR vom 20. 3. 2007; zu Arno Schmidt Marcel Reich-Ranicki über Arno Schmidt: Anmerkungen zu einer Bemerkung; ZR vom 8. 5. 2010; sowie Warum ich von Arno Schmidt fasziniert bin; ZR vom 2. 4. 2011.
Zettel



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