2. April 2011

Debatte: Aufarbeitung, Verdrängung, Schuld

Lieber Zettel, für Ihre Antwort auf meinen Beitrag danke ich Ihnen. Sie haben die neue Rubrik "Debatte" eingeführt, und so möchte ich in dieser Rubrik Ihnen antworten - oder eher noch einige Gedanken weiter ausführen. Dabei beziehe ich mich teilweise auch auf Äußerungen im "Kleinen Zimmer".

Der Gedanke der Aufarbeitung des "Dritten Reiches" hat im "Kleinen Zimmer" einen gewissen Widerspruch provoziert: Eine Aufarbeitung sei gar nicht möglich wegen der das menschliche Verstehen übersteigenden Monströsität der Verbrechen oder da die Täter gar nicht mehr leben - oder aber es gebe zu viel der Aufarbeitung, den Missbrauch der Aufarbeitung, den "Schuldkult".

Die Aufarbeitung, die ich meine und an der es - meiner Meinung nach - mangelt, ist eine andere. Die Verbrechen des "Dritten Reiches" sind bekannt, aber eben nur als Verbrechen des Dritten Reiches; die Täter, die Helfer, die Mitwisser bleiben verborgen. Das Bundesarchiv verwahrt mehrere hunderttausend Personalakten von SS- und SA-Angehörigen

Es fehlt die Auseinandersetzung damit, auf welche Weise die ganz normalen Deutschen am "Dritten Reich" beteiligt waren, welche kleine und scheinbar unbedeutende Rolle sie gespielt haben. Die NSDAP hatte 7,5 Mio. Mitglieder, die SS 840.000 - und man weíß, dass bis 1939 die Mehrzahl der Deutschen loyal hinter dem Regime stand. Aber alle Oberstufenschüler, die ich gefragt habe, und Kollegen und Freunde sind samt und sonders überzeugt, ihre Großeltern oder Eltern hätten den Nationalsozialismus nicht unterstützt. Hier ist eine - verständliche - Verdrängung passiert, die die Täter, die Unterstützer des Regimes unsichtbar macht.

Diese Verdrängung aber verhindert die notwendige Aufarbeitung des "Dritten Reiches", und damit meine ich nicht eine selbstquälerische Beschäftigung mit deutscher Schuld, sondern die Beschäftigung mit der Frage: Wie kommen Menschen wie Du und ich dazu, anderen Menschen schlimmste Verbrechen anzutun oder davon zu wissen und nichts zu tun oder davon wissentlich zu profitieren? Und zwar nicht irgendwelche Menschen, irgendwo, sondern Menschen in der Generation unserer Eltern und Großeltern, die wir möglicherweise gekannt haben, denen wir vielleicht ganz ähnlich sind oder deren Verhalten, deren Geschichte uns selbst bewusst oder unbewusst geprägt hat. - Dass es hier um Verbrechen des Nationalsozialismus geht, ist zweitrangig und dem Zufall der Geschichte geschuldet. Die gleichen Fragen stellen stellen sich den Russen für die Verbrechen in Stalins UdSSR, den Chinesen für die in Maos China. Unsere Eltern oder Großeltern haben nun mal im "Dritten Reich" gelebt, nicht in Stalins UdSSR, so dass die Aufarbeitung des "Dritten Reiches" unsere Sache ist.

Geht es bei dieser Aufarbeitung um Schuld? Ich habe den Begriff der Schuld in meinem ersten Beitrag gar nicht verwendet, so dass wir, lieber Zettel, wohl gar nicht so sehr unterschiedlicher Meinung sind. Was ich kritisiert habe und kritisiere, ist die Verdrängung, das Nicht-Eingestehen, etwas gewusst zu haben, das Leugnen, den Nationalsozialismus in einer bestimmten Phase des Lebens und einer bestimmten Situation unterstützt zu haben, dieses Reinwaschen - niemand hat etwas gewusst, keiner hat mitgemacht, die "Nacht des Faschismus" ist einfach so "über uns" gekommen (Genscher). Meine Großmutter behauptet, man habe von nichts gewusst und nichts wissen können - und dann stelle ich fest, sie hat ihren Bruder nach einem "Judenteppich" gefragt. Meine andere Großmutter behauptet, sie habe von nichts gewusst - und dann stelle ich fest, dass ein Außenlager von Auschwitz keine zwei Kilometer von ihrer Wohnung entfernt war, an der Straße von ihrem Vorort ins Stadtzentrum. Man erwartet keine Helden, weil man selbst vielleicht auch keiner wäre; aber ist das Eingeständnis, kein Held gewesen zu sein oder aus Angst geschwiegen zu haben, zu viel verlangt?

Es geht also in der Regel nicht um Schuldzuweisungen. Natürlich gibt es in diesem Zusammenhang persönliche Schuld (wie es überhaupt nur persönliche Schuld gibt und keine Kollektivschuld, keine Kollektivschuld der Deutschen, auch nicht der Deutschen der Jahre 1933 bis 1945): Die persönliche Schuld liegt klar auf der Hand für die "Täter", etwa für die Mitglieder der Einsatzgruppen, die Mannschaften in den Vernichtungslagern und so fort. Wenn sich mein Großonkel damit brüstet, für sein Offizierskasino die Wohnungseinrichtung eines böhmischen Juden einfach so beschlagnahmt zu haben, wenn er "viel Spaß" bei der "Partisanenjagd" hat, dann sehe ich auch dort eine persönliche Schuld. Wie auch immer die Umstände sind: Willkürlich etwas rauben oder "Spaß" haben im Partisanenkampf - das muss nicht sein.

Aber wenn wir von den Menschen der von Zettel so genannten "geschundenen Generationen" der Jahrgänge von 1890 bis 1930 sprechen, die nicht zur Gruppe der "Täter" gehören, die aber ihr Leben unter geschichtlich gewachsenen Umständen führen mussten, die nicht sie zu verantworten hatten und zu denen sie auch gar keine Alternative kannten - dann wäre es vermessen, als Heutiger aus dem sicheren Abstand von einigen Jahrzehnten ihnen Schuld zuzuweisen. Dies gilt um so mehr, als ein Tagebucheintrag, eine Notiz in einem Brief oder was auch immer selbst nur ein kleiner Ausschnitt aus der Wirklichkeit ist und nicht geeignet, einen Menschen allein danach zu beurteilen.

Wohl aber sind wir hier wieder bei der oben bereits gestellten und viel entscheidenderen Frage danach, was die Menschen damals dazu gebracht hat, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten oder auch nicht zu verhalten. Kann mein Großonkel ohne den Blick auf das große Ganze es 1942 anders als normal finden, wie "SS und unsere Landser" mit den Juden umgehen?

Und wenn man an die Lebensumstände denkt, an die Notwendigkeit, sich irgendwie durchs Leben zu schlagen, dann wird es selbst mit der Schuldzuweisung schwierig oder gar der Ansicht, alle KZ-Aufseher hätten die Todesstrafe verdient. Mir liegt eine Aussage aus der Nachkriegszeit vor:

"Ende der 30er Jahre, es kann 1937 oder 1938 gewesen sein, wurden durch den Reichsrechnungshof bei den Dienststellen der NSDAP und ihren Gliederungen in A. Revisionen durchgeführt. Hierbei kam ich mit einem der Revisoren bei der Dienststelle des SS-Sturmbannes in A. in ein Gespräch, in dem ich äußerte, daß ich eine besser bezahlte Tätigkeit anstrebte. Wahrscheinlich Anfang des Jahres 1940 erhielt ich von dieser Person aus Berlin die Anfrage, ob ich mich für einen Sonderauftrag des "Führers" zur Verfügung stellen würde. ... Da ich in einer solchen Sonderaufgabe eine Besserstellung vermutete, erklärte ich mich bereit und meldete mich in Berlin bei der mir mitgeteilten Dienststelle ... Ich mußte mich bei dem Personalchef, einem Herrn H., melden. Dieser fragte mich, ob ich bereit sei, Sonderaufträge des "Führers" auszuführen und nach Linz zu gehen. Als ich mich bereiterklärte, wurde ich von ihm mündlich und schriftlich zur strengen Verschwiegenheit verpflichtet, ohne zunächst zu wissen, was ich in Linz überhaupt tun sollte. In der Verpflichtungserklärung war mehrmals ausgeführt, daß bei Verstößen gegen die Verschwiegenheitspflicht die Todesstrafe ausgesprochen werden könne. Anschließend erhielt ich den Auftrag, nach Linz zu fahren, wobei festgestellt wurde, daß ich in einer Wirtschaftsabteilung Bürodienst zu versehen hätte."

Und damit war der junge Mann um die 30, der nach Jahren der Arbeitslosigkeit auf eine berufliche Besserstellung hoffte, Büroleiter einer NS-Euthanasieanstalt und verwaltete 1940/41 die Ermordung von 20.000 Kranken, Juden und KZ-Häftlingen. Ich tue mich sehr schwer, hier zu einem angemessen Urteil zu kommen - nicht nur, weil es der Großvater meiner Frau ist.

[Fortsetzung:]Dass dieser Mann Schuld trägt, weil er als "Schreibtischtäter" am Massenmord teilgenommen hat, steht für mich außer Frage. Aber an welcher Stelle ist er selbst schuldig geworden? Als er vor Ort erfuhr, um was es ging, und dann nicht mehr versucht hat, wieder wegzukommen? Als er sich für einen "Sonderauftrag" gemeldet hat in Erwartung einer "Besserstellung", aber ohne den Auftrag zu kennen? Den Pakt mit dem Bösen hat dieser Mann im Frühjahr 1933 geschlossen, als er als Arbeitsloser seine Hoffnung auf die Hitler-Regierung setzte und dann dem Rat eines Bekannten folgte, die Mitgliedschaft in der NSDAP und der SS könnte vielleicht nützlich sein, um rascher wieder eine Stelle zu finden. Er ist nicht Mitglied geworden, um an der Ermordung von 20.000 Kranken, Juden und KZ-Häftlingen mitzuwirken, sondern in der Hoffnung darauf, selbst im Leben etwas besser voranzukommen. Aber dieser Schritt war der erste, der ihn an den Schreibtisch in der "Euthanasie"-Anstalt geführt hat.

Dabei hat er noch immer Glück gehabt: Nach der Heirat 1942 und der Geburt eines Kindes kehrte dieser Mann in den Zivilberuf zurück, der er jetzt nicht mehr flexibel einsetzbar und versetzbar war. Die "Kollegen" aus jener "Euthanasie"-Anstalt nämlich wurden samt und sonders 1942 nach Polen versetzt zur "Aktion Reinhardt" - und stellten wegen ihrer organisatorischen und praktischen Erfahrung das Stammpersonal der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka.
Gansguoter

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