2. April 2011

Biografien. Ein deutscher Dialog. Andrea an Zettel (2)

Lieber Zettel,

nein, man muss nicht gleich flennen, aber vielleicht hätte dies geholfen, die unbeschreibliche (für mich vielleicht unvorstellbare) Last wenigstens zum Teil loszuwerden?
Nun gut, es ist müßig, darüber nachzudenken, mein Vater ist 1996 gestorben.

Gedanken mache ich mir seit langem über die Nachwirkungen, die der Krieg auf seine Kinder und die nachfolgenden Generationen (immer noch) hat.

Sind doch viele unserer Mütter und Väter (das "unsere" schließt meinen Freundeskreis ein) heute depressiv. Wichtig ist ihnen Äußerliches ("Was die Leute sagen"). Eine große Rolle im Familienleben spielen die Mahlzeiten, wann was gekocht wird, wer wieviel isst, und an jeder Sache findet sich etwas Auszusetzendes.

Als Kinder hatten wir zu funktionieren, ansonsten drohte Liebesentzug. Für erhaltene Schläge war es an uns, uns zu entschuldigen. Wir hatten die Mutter ja schließlich dazu getrieben! Eine eigene Meinung zu haben, war fast schon ein Sakrileg. Die Eltern hatten allein aus ihrer Elternschaft heraus immer Recht.

Ich vermute, dass meine Eltern zu den Menschen zählen, die durch ihre Kriegserlebnisse die Fähigkeit, sich selbst und andere zu lieben, eingebüßt haben.
Tragisch für sie und natürlich zunächst auch für uns – ihre Kinder.

Ich spreche übrigens immer wieder in der Mehrzahl, lieber Zettel, weil es mich tatsächlich bis zum 14. Lebensjahr nur im Doppelpack gab. Ich bin mit meiner eineiigen Zwillingsschwester aufgewachsen. Erst nach der achten Klasse hatten wir die Chance, uns auseinander zu entwickeln, die eigene Identität zu suchen und zu finden.
Möglicherweise suchen wir aber immer noch danach ...

Meine Kindheit übrigens habe ich durchaus positiv erlebt. Das oben Geschilderte war eben so. Nachgefragt und reflektiert habe ich erst später.



Sie schreiben vom Sozialismus als eine schlechte Sache. Heute sehe ich ihn genauso. Aber aufgewachsen in einem "roten" Elternhaus war ich durchaus anders konditioniert.
Ich erinnere mich, als ich mit 12 Jahren "Die Elenden" von Victor Hugo gelesen habe, taten mir alle Menschen, die früheren und die damaligen Leid, weil sie nicht im Sozialismus leben konnten!

Aber ich will noch einmal auf die Kriegsgenerationen zu sprechen kommen. Sie, lieber Zettel, schrieben von Ihrer Großmutter als einer starken Frau. Das ist für mich faszinierend und erstaunlich. Immer wieder erlebe ich Frauen, die nach dem Krieg aufgebaut haben, die Trümmerfrauen waren. Oftmals haben sie Mann oder Söhne oder Brüder verloren im Krieg. Aber jetzt, weit in die 80 und 90, strahlen sie eine Stärke aus, die nur verwundern kann. Sie sind fröhlich, tief im christlichen Glauben lebend, lebensweise, gütig und sogar dankbar. So möchte ich gerne alt werden!

Zum Schluss noch etwas zum Schmunzeln. Ich habe "im Krieg verloren" geschrieben. Das war mir als Kind völlig unverständlich. Wie kann ein Mann verloren gehen und warum findet ihn keiner wieder? Und "er ist gefallen", "im Feld geblieben" – wieso, ist der so schwer gestürzt, dass er tot war, und war das so ein großes Feld, dass er sich verlaufen hat?

Wie allein Sprache Entsetzliches bagatellisiert ...

Ich freue mich auf Zettel 3!

Herzlich Andrea
Andrea

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