6. Januar 2011

Marginalie: Huckleberry Finn, purgierte Fassung. Politische Korrektheit, Aufklärung und die Magie der Wörter

"Purgieren" nannte man früher das Reinigen von Büchern; also das Beseitigen von anstößigen Stellen. Klassiker blieben meist verschont. Nicht länger, jedenfalls nicht in den USA.

Wie die New York Times berichtet, wird eine Neuausgabe des "Huckleberry Finn" eine gereinigte Fassung bieten. Das Wort nigger kommt darin nicht mehr vor; es ist durch slave ersetzt. Ebenso ist die (damals) umgangssprachliche Verballhornung von indians zu injuns purgiert; allerdings heißen diese immer noch so und nicht, wie es ja bekanntlich politisch korrekt wäre, native Americans.

Zu verantworten hat das der Verlag New South Books in Alamaba und der Herausgeber Alan Gribben, Professor für Englisch an der Auburn University in Montgomery, Alamaba.

Nach Gribbens Willen sollen die Schüler und Studenten, für die diese Ausgabe des Klassikers gedacht ist, die politisch unkorrekten Wörter, die Twain verwendete, nicht mehr lesen dürfen oder nicht mehr lesen müssen. Die NYT:
Mr. Gribben said Tuesday that he had been teaching Mark Twain for decades and always hesitated before reading aloud the common racial epithet, which is used liberally in the book, a reflection of social attitudes in the mid-19th century.

"I found myself right out of graduate school at Berkeley not wanting to pronounce that word when I was teaching either 'Huckleberry Finn' or 'Tom Sawyer'" he said. "And I don't think I'm alone."

Gribben sagte am Dienstag, er behandle Mark Twain seit Jahrzehnten im Unterricht und zögere immer, bevor er die ordinäre Bezeichnung für die Rasse vorlese, die in dem Buch reichlich verwendet wird; ein Ausdruck der sozialen Einstellungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

"Schon nach Abschluß meines Studiums in Berkeley wollte ich dieses Wort nicht benutzen, wenn ich 'Huckleberry Finn' oder 'Tom Sawyer' durchnahm", sagte er. "Und ich glaube nicht, daß ich damit allein stehe".
Eine seltsame Aussage, die verschiedene Aspekte hat.

Auf der politischen Ebene zeigt dieses Beispiel, zu welchen Auswüchsen die politische Korrektheit führen kann. Selbst Klassiker sind offenbar nicht mehr vor ihr sicher. Ihnen wird im Nachhinein das aufgepfropft, was die heutige Zensur verlangt.

Wer weiß, vielleicht darf ja auch an deutschen Bühnen demnächst nicht mehr der "Zigeunerbaron" gespielt werden, sondern nur noch der "Sinti-Baron" oder der "Roma-Baron" oder vielleicht auch der "Sinti-und-Roma-Baron".

Vielleicht wird das "Lied von der Glocke" aus den Schulen verbannt werden, weil dort ("Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder, und herrschet weise im häuslichen Kreise") überholte Rollenklischees transportiert werden. Oder der "Wilhelm Tell" wegen elitärer Textstellen ("Der Starke ist am mächtigsten allein"). Oder Ludwig Uhlands Gedicht "Schwäbische Kunde" wegen Fremdenfeindlichkeit ("Zur Rechten sah man wie zur Linken einen halben Türken heruntersinken").

Das ist einer der bemerkenswerten Aspekte dieser Meldung. Ein anderer ist die Aussage Professor Gribbens, daß es ihn Überwindung koste, das Wort nigger auch nur auszusprechen.

Er macht es sich ja nicht zu eigen, dieses Wort, wenn er aus dem "Huckleberry Finn" vorliest; er beschimpft oder verunglimpft niemanden. Er liest nur einen Text aus dem 19. Jahrhundert vor. Seine Vernunft sollte ihm sagen, daß das in Ordnung ist. Aber etwas in ihm wehrt sich offenkundig. So etwas wie ein Tabu meldet sich.

Primitive, von der Magie bestimmte Gesellschaften sind voller Tabus; man darf bestimmte Orte nicht besuchen, darf bestimmte Handlungen zu bestimmten Zeiten nicht ausführen usw. Das ist fast alles in unserer modernen Gesellschaft verschwunden. Aber geblieben ist die Magie der Wörter.

Ein "schmutziges" Wort, ein Tabuwort will uns nicht über die Lippen, im Wortsinn. Es sperrt sich etwas dagegen. Es gibt einen Konflikt.

Freud hat in einem ähnlichen Zusammenhang den Begriff des "Gegenwillens" verwendet. Lerntheoretiker würden von klassischem Konditionieren sprechen, durch das solche Wörter negative innere Reaktionen auslösen.

Wir sprechen sie nicht aus, diese Tabuwörter, um diese unangenehme affektive Reaktion nicht aufkommen zu lassen; so, wie das Kind die Hand nicht mehr auf den Herd legt, nachdem es sich einmal verbrannt hat. Avoidance learning; Vermeidungslernen.



Einen politischen Aspekt hat diese kleine Geschichte also, und einen psychologischen. Sie hat noch einen dritten Aspekt; einen wenn man so will geistesgeschichtlichen.

Ich habe kürzlich die Frage diskutiert, ob das Zeitalter der Aufklärung zu Ende geht (Das Ende des Zeitalters der Aufklärung?; ZR vom 2. 1. 2011).

Die USA sind seit ihrem Bestehen so etwas wie der Hort der Aufklärung; sie waren der erste Staat der Welt, dessen Verfassung die unmittelbare Umsetzung von Prinzipien der Aufklärung ist. Kaum irgendwo sonst wird die Freiheit so ernst genommen.

Wenn in diesem Land bereits Anstalten gemacht werden, klassische Texte politisch zu reinigen, dann ist das ein Alarmsignal.

Es zeigt einen Hang zu Denkverboten; zum Gegenteil dessen, was Kant den Wahlspruch der Aufklärung genannt hatte: Haben den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Professor Gribben will nicht, daß die Schüler und Studenten sich ihres eigenen Verstandes bedienen. Sie sollen Mark Twain nicht so sehen, wie er war, und sich dann ein eigenes Urteil bilden. Sie sollen vielmehr gar nicht erst mit dessen Sicht auf die Schwarzen in der Mitte des 19. Jahrhunderts konfrontiert werden.

Sie sollen nicht nachdenken dürfen. Sie sollen nur so denken dürfen, wie es nach Ansicht des Professors und seiner Gesinnungsgenossen richtig ist. Das ist der Versuch, an die Stelle der Aufklärung wieder die Indoktrination zu setzen; an die Stelle der Freiheit des Denkens die Kontrolle des Denkens durch diejenigen, die sich die Autorität dafür anmaßen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.