Das Internet hat Informationen in einem zuvor unvorstellbaren Maß verfügbar gemacht. Was man früher in mühsamer Recherche zusammentragen mußte, hat man heute mit ein paar Klicks zur Verfügung.
Der Informationsvorsprung, den vor der Zeit des Internet Fachleute gegenüber Laien hatten, ist weitgehend verschwunden. Sie hatten ihn dadurch, daß sie wußten, wo was zu lesen ist; sie hatten ihn vor allem auch dadurch, daß oft sie allein einen einfachen und bequemen Zugang zu den betreffenden Quellen hatten - über Bibliotheken und Fachzeitschriften, über das Besuchen von Kongressen und das Besorgen von Sonderdrucken.
Das ist vorbei. Informationen sind heute für alle da. Weitgehend jedenfalls. Herrschaftswissen in seiner herkömmlichen Form gibt es kaum noch.
Das ist doch wunderbar, werden Sie vielleicht sagen. Ist es wunderbar?
Es nicht wunderbar. Freilich ist es staunenswert. Die Erfindung des Internet ist, was die Verfügbarkeit von Wissen angeht, nur mit drei anderen Großereignissen in der Geschichte der menschlichen Kultur vergleichbar: Der Erfindung der Sprache, der Erfindung der Schrift und der Erfindung des Buchdrucks.
Die Sprache hat es ermöglicht, komplexe Gedanken zu formulieren und sie mit anderen auszutauschen. Die Schrift erlaubt es, Gedanken zu fixieren; sie aus der Gebundenheit an den Augenblick zu lösen. Der Buchdruck machte diese fixierten Gedanken, dieses geronnene Wissen dem Kreis der Gebildeten und der jeweiligen Fachleute zugänglich. Das Internet macht jedermann alles Wissen dieser Welt zugänglich.
Staunenswert. Wunderbar wäre das, wenn es nur positive Seiten hätte. Was sich da in unserer Zeit vollzieht, ist aber hochgradig ambivalent. Denn diese Explosion des verfügbaren Wissens vollzieht sich singulär. Ihr entspricht keine auch nur annähernd vergleichbare Entwicklung des Kontexts, in dem Wissen verwendet wird.
Wissen als solches ist so nutzlos, wie für den Hungrigen ein Messer ohne Nutzen ist, wenn er nichts Eßbares zu schneiden hat. Der Nutzen von Wissen besteht nicht schon in seiner Existenz, sondern in seiner Verwendung.
Wer ein Lexikon auswendig lernt, der ist ein elender Dummkopf. Wenn ein Kandidat in einer akademischen Prüfung auch noch das letzte Detail aus seinem Lehrbuch aufzusagen weiß, zeigt er damit nur, daß er unfähig ist, Wichtiges von Nebensächlichem zu unterscheiden. Er hat Wissen aufgesogen, es sich aber nicht angeeignet.
Das für jedermann im Internet verfügbare Wissen vermehrt sich in hohem Tempo. Aber unsere Fähigkeiten, mit diesem Wissen etwas anzufangen, halten nicht mit. Das hat bedenkliche Folgen auf verschiedenen Ebenen.
Es führt beispielsweise zur Selbstüberschätzung. Man kann sich zu einem beliebigen Thema "eben mal schlau machen", indem man ein wenig googelt und ein paar Wikipedia-Einträge liest. Schon glaubt man sich - glaubt sich jedenfalls mancher - den Fachleuten für das betreffende Thema gewachsen, wenn nicht überlegen. So halten sich beispielsweise erstaunlich viele Menschen für befähigt und also befugt, über die Sicherheit von AKWs zu urteilen, über Klimamodelle, über wirtschaftspolitische Maßnahmen oder darüber, ob Jörg Kachelmann schuldig ist oder unschuldig.
Sodann: Wissen ist Macht, sagt man. Die nahezu unbegrenzte Verfügbarkeit von Wissen dank des Internet geht aber nicht einher mit einem entsprechenden Zuwachs an Macht. Das erzeugt eine Disproportionalität, die weitreichende Folgen hat.
Sie führt erstens zum Ressentiment.
Den Typus dessen, der viel weiß oder zu wissen vermeint, der aber keine entsprechende Position im Leben erreicht hat, gab es zwar auch früher schon. Er durchschaut alles besser, räsonniert über Gott und die Welt und ärgert sich, daß uns Dummköpfe regieren, statt daß er selbst und ähnlich Wissende das Sagen haben.
Er schwelgt im Ressentiment. Das war früher beispielsweise der frustrierte Mensch, der Professor werden wollte, aber als Dorfschullehrer endete; oder derjenige, der sich für einen hochbegabten Philosophen hielt, aber am Ende einen Handel mit Gebrauchtwaren betrieb. Der Kneipier, der drei Fächer studiert hat und sieben Sprachen spricht; der sich aber damit begnügen muß, damit vor seinen staunenden Gästen zu prahlen.
Das waren aber Ausnahmen. Heute ist dieser Typus überall anzutreffen. Er prägt nachgerade die Leserkommentare im Internet.
Skepsis und Vorsicht ist dort selten anzutreffen. Die meisten treten mit der offensichtlichen Überzeugung auf, Bescheid zu wissen, hinter die Kulissen zu blicken; zu durchschauen, wohin der Hase läuft. Sie wirken aber zugleich frustriert, manche nachgerade zornig. Denn sie können mit diesem ihrem besseren Wissen nichts anfangen. "Die Politik" ist in ihren Augen so dumm und korrupt, daß man dort einfach nicht auf sie hört. Zum Verzweifeln.
Eine andere Folge der Disproportionalität zwischen verfügbarem Wissen und Handlungsmöglichkeiten ist die Verbreitung von Verschwörungstheorien.
Wer Macht hat, also handeln kann, der ist dadurch im ständigen Kontakt mit der Realität, die seine Irrtümer korrigiert; oft erbarmungslos korrigiert. Wer aber Wissen zur Verfügung hat, ohne diese Rückkopplung durch das Handeln und dessen Folgen zu kennen, der kann sich nahezu Beliebiges ausdenken. Er unterwirft es ja nicht dem Realitätstest, sondern nur einer Art Plausibilitätstest; und plausibel erscheint vieles.
Die Folge ist eine Entfernung von der Realität, wie sie sich am Eklatantesten in Verschwörungstheorien manifestiert. Ich habe mich mit diesem Thema in zwei Serien befaßt, der Serie über
Verschwörungstheorien und derjenigen über
Realität.
Eine dritte Folge der Disproportionalität: Wissen, mit dem man mangels Macht im Grunde nichts anfangen kann, wird zum Wert an sich. Und damit bin ich beim Thema WikiLeaks.
Was WikiLeaks mit dem jetzigen Datendiestahl will, liegt auf der Hand: den USA schaden. Julian Assange, der Gründer und Chef, ist ein notorischer Hasser der USA (siehe
Hinter den Kulissen von WikiLeaks. Assanges Deppen; ZR vom 26. 10. 2010).
Aber die breite Zustimmung, die WikiLeaks findet, erklärt sich nicht allein daraus. Hinter ihr steckt offenbar die Überzeugung, daß das Brechen von Geheimnissen, daß ein Wissen aller über alles etwas vom Grundsatz her Gutes ist; etwas Erstrebenswertes. Jedenfalls etwas, das kommen wird und das man bejahen sollte. Am vergangenen Sonntag hat bei Anne Will
der Blogger und Buchautor Sascha Lobo eine solche Position vertreten.
Vertraulichkeit wird aus dieser Sicht zu einem alten Zopf erklärt, der schleunigst abgeschnitten gehört. "Öffentlichkeit" wird zum Fetisch. Wikileaks wird dann zum Helden; zum Helden vielleicht gar eines neuen Zeitalters.
Die Forderung nach unbegrenzter Öffentlichkeit gibt es allerdings nicht erst seit der Erfindung des Internet. Dergleichen wurde schon in den Protestbewegungen der späten sechziger und der siebziger Jahre verlangt. Aber das Internet hat diese Haltung populär gemacht und bedient zugleich die Illusion, eine Gesellschaft mit völliger Transparenz sei eine gute, eine wünschenswerte Gesellschaft. Auch im Web vertragen sich doch alle, mehr oder weniger.
Völlige Transparenz zerstört aber jede Gesellschaft. Soziale Strukturen sind wesentlich Strukturen der Kommunikation; und Kommunikation ist immer selektiv. Soziale Strukturen bestimmen darüber - und werden dadurch aufrechterhalten -, daß man bestimmte Dinge mit X bespricht, aber nicht mit Y; daß Informationen ausgetauscht werden, aber nicht ausgeschüttet wie die Betten der Frau Holle.
Eine völlige, uneingeschränkte Transparenz bedeutet, daß an die Stelle des strukurierten Fließens der Informationen ein gleichförmiger, blubbernder Sumpf von Informationen tritt. Wenn nichts mehr geheimgehalten werden kann - "unter uns" bleibt, wie man so sagt -, dann schwindet mit der Vertraulichkeit das Vertrauen, ja es wird überflüssig. Einigen sich alle auf totale Promiskuität, dann hat sich jede Treue erledigt.
Bezogen auf den jetzigen Fall: Wenn alles, was amerikanische Botschaften an das
State Department berichten, der Öffentlichkeit zugänglich wird, dann erübrigen sich solche Berichte.
Oder richtiger: Wenn es so wäre, dann würden sie sich erübrigen. Da eine Regierung aber derartige Depeschen als eine der Grundlagen für ihre politischen Entscheidungen braucht, wird man eben andere Wege gehen als bisher, sie zu übermitteln und zu archivieren.
Erforderlich sein werden - die US-Außenministerin hat es
gestern gesagt - "security safeguards ... so that this kind of breach cannot and does not ever happen again" - Sicherheitsmaßnahmen derart, daß solch ein Geheimnisbruch niemals wieder geschehen kann und wird.
Mit anderen Worten: Es wird weniger Transparenz geben. Wenn Kiebitze herumschleichen, dann muß man eben die Karten enger an die Brust halten. Der Versuch, totale Öffentlichkeit herzustellen, erzeugt zwangsläufig mehr Geheimhaltung.
Der Umgang mit Informationen wird im Ergebnis nicht freier, sondern vielmehr restriktiver. Wer anderen ihren Besitz stiehlt, der schafft damit keine egalitäre Gesellschaft, sondern eine Gesellschaft von ängstlichen, sich sichernden Eigentümern.
Daß die Forderung nach bedingungsloser Öffentlichkeit zu weniger Transparenz führt, konnte man übrigens in jenen deutschen Universitäten beobachten, an denen in den siebziger Jahren die "Öffentlichkeit aller Gremien" eingeführt oder weitgehend eingeführt worden war.
Die Folge war, daß die wichtigen Diskussionen nicht mehr in den Gremien stattfanden; daß die eigentlichen Entscheidungen in informellen Zirkeln und Gruppen getroffen wurden, die niemand kontrollieren konnte und von deren Existenz viele gar nichts wußten. Ich habe das vorgestern in
Zettels kleinem Zimmer ein wenig ausführlicher geschildert.