29. September 2010

Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft (4): Demographische Entwicklung und Geburtenziffer von Einwanderern - Teil 3: Sarrazins Szenarien

In den bisherigen Folgen dieser Serie ging es mir darum, die Aussagen Sarrazins zur Intelligenz, zur Genetik und zur Demographie daraufhin zu untersuchen, ob sie dem Stand der Forschung entsprechen, oder ob sie durch empirische Erkenntnisse widerlegt werden.

Es hat sich erwiesen, daß die Kritik an Sarrazin größtenteils nicht gerechtfertigt ist und daß sie auf mangelnde Kenntnisse der Kritiker in diesen Forschungsbereichen hindeutet; es sei denn, man nimmt an, daß Behauptungen wider besseres Wissen aufgestellt wurden.

In diesem abschließenden Teil der letzten Folge der Serie geht es um Aussagen, die nicht einfach an Fakten geprüft werden können; nämlich um die Szenarien, die Thilo Sarrazin für die Entwicklung Deutschlands in diesem Jahrhundert entwirft.

Ich habe den Begriff des Szenarios im ersten Teil erläutert. Sie werden die folgende Argumentation besser verstehen, wenn Sie diesen ersten und auch den zweiten Teil gelesen haben.

Szenarien sind (oft, aber nicht unbedingt quantitative) Beschreibungen davon, wie es kommen könnte, aber nicht kommen muß. Seine quantitativen Szenarien nennt Sarrazin Modellrechnungen.

Die gegenwärtig in der Öffentlichkeit meistdiskutierten Szenarien sind in einem ganz anderen Bereich die Klimamodelle; auch sie Modellrechnungen. Es kann, so besagen es diese Modelle, zu einer erheblichen globalen Erwärmung kommen. Man kann sie aber zumindest abmildern, wenn man bestimmte Maßnahmen ergreift.

Solche Modellrechnungen sind - nochmals gesagt, weil Sarrazin in diesem Punkt notorisch mißverstanden wird - keine Prognosen. Die Frage bei einem Szenario ist nicht, ob das in ihm Ausgesagte eintreten wird; das weiß ja niemand. Die Frage ist vielmehr, ob hinreichend plausibel ist, daß es eintreten könnte.

Trifft das zu, dann können solche Szenarien nützlich sein, indem sie uns zum Handeln auffordern. Mit dem möglichen Ergebnis, daß das betreffende Szenario dann nicht Wirklichkeit wird.



Es ist ein häufiger Fall, daß sich - auf nationaler Ebene oder auch global - ungünstige Entwicklungen anbahnen, die lange Zeit übersehen werden; die vielleicht auch aus politischen Gründen bewußt negiert werden. Sie treten manchmal schlagartig ins Bewußtsein der Öffentlichkeit, wenn auf sie durch Szenarien aufmerksam gemacht wird.

Das war beispielsweise in den USA Ende der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts so, als der Start des ersten sowjetischen Erdsatelliten am 4. Oktober 1957 den "Sputnik-Schock" auslöste. Es wurden daraufhin düstere Szenarien einer Entwicklung gezeichnet, in deren Verlauf die USA immer weiter hinter die UdSSR zurückfallen würden.

Die Folge waren massive Reformen vor allem - aber nicht nur - im Bildungswesen; in den sechziger Jahren versuchte Präsident Lyndon Johnson mit seiner Vision der Great Society einen regelrechten Umbau der amerikanischen Gesellschaft.

Ein Jahrzehnt später wurde eine weltweite Diskussion über Umwelt und Ressourcen durch den Bericht des "Club of Rome" "Die Grenzen des Wachstums" (1972) in Gang gesetzt.

In Deutschland hat es eine ähnliche breite Diskussion gegeben, nachdem Georg Picht 1965 sein (aus einer Artikelserie im Jahr 1964 hervorgegangenes) Buch "Die deutsche Bildungskatastrophe" publiziert hatte.

Er stieß damit eine Diskussion an, die bald weiter über das Bildungsthema hinausging. 1966 schrieb der Philosoph Karl Jaspers seinen Aufsatz "Wohin treibt die Bundesrepublik?", in dem er das beklemmende Szenario eines Landes entwarf, in dem eine "Parteienoligarchie" die Demokratie ersticken würde. Jaspers beschrieb auch treffend das Wesen eines solchen Szenarios:
Tendenzen zeigen, bedeutet nicht voraussagen. Die Faktoren des politischen Geschehens sind so zahlreich, ja unendlich, die Zufälle so unberechenbar, daß Prophetie heute wie von jeher irregeht. Sie trifft zwar Tendenzen; wie weit aber diese wirklich werden (dann spricht man von richtigen Voraussagen), ist ungewiß und liegt auch noch an uns.
Picht und Jaspers wurden damals als Mahner verstanden, die auf Gefahren für unsere Zukunft aufmerksam machten; mit düsteren, mit wohl bewußt pessimistischen Szenarien. Deren Zweck war ja das Aufrütteln.

Nichts anderes will heute Thilo Sarrazin mit seinem Buch. Die Einleitung schließt er (S. 21) mit diesen Sätzen:
Wie das meiste im Leben ist auch der Inhalt dieses Buches ambivalent: Die hier beschriebenen Trends nagen an den Wurzeln von materiellem Wohlstand und gesellschaftlicher Stabilität, aber es gibt immer Ansatzpunkte, manches zum Positiven zu wenden. Man muss es nur tun!
Georg Picht und Karl Jaspers lösten mit ihren pessimistischen Szenarien öffentliche Diskussionen aus. Sie wurden kritisiert; wie auch anders. Aber man hat sie respektiert.

Man hat ihre Argumente ernst genommen. Vieles wurde aufgenommen und politisch umgesetzt. Die großen Reformen des Bildungswesens in den siebziger Jahren und das "Mehr Demokratie wagen!" Willy Brandts im Jahr 1969 waren Antworten auf das, was Picht und Jaspers als Szenarien entworfen hatten.

So hätte es auch Thilo Sarrazin verdient gehabt. Stattdessen fand etwas statt, das ich als einen der beschämendsten Vorgänge in der Geschichte der Bundesrepublik sehe: Der Mann, der ein differenziertes, nachdenkliches, faktenreiches und mahnendes Buch geschrieben hat, wurde diffamiert.



Wie sehen nun die Szenarien aus, die Sarrazin entwirft?

Entgegen dem Eindruck, der in der Kampagne gegen ihn erzeugt wurde, geht es ihm nicht in erster Linie um Einwanderung nach Deutschland und das Problem der Integration; sondern - ich habe das schon erwähnt - um die wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung unseres Landes in diesem Jahrhundert.

Diese sieht er durch eine Reihe von miteinander in Wechselwirkung stehende Tendenzen bedroht:
  • Die anhaltend niedrige Geburtenziffer in Deutschland

  • Die sich daraus ergebende Überalterung der Gesellschaft (wachsende "Altenlast")

  • Die weiter aus der geringen Geburtenrate folgende Schrumpfung des erwerbstätigen Teils der Bevölkerung, die nicht mehr durch eine wachsende Produktivität kompensiert werden kann; mit dem Ergebnis, daß unser Wohlstand sinkt.

  • Die Abnahme des Humankapitals, also der sehr gut Ausgebildeten, vor allem im Bereich der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik); damit ein Zurückfallen im globalen Wettbewerb

  • Das Anwachsen einer bildungsfernen Unterschicht

  • Innerhalb dieser Unterschicht die Zunahme des Anteils von Einwanderern aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika mit einerseits einer hohen Geburtenrate und andererseits einer unter dem Mittelwert liegenden durchschnittlichen Intelligenz, verbunden mit einer geringeren Bildungsbereitschaft

  • Dies mit der Möglichkeit, daß im Lauf des Jahrhunderts diese Einwanderer die Mehrheit der Bevölkerung stellen und damit Deutschland mit ihrer islamischen Kultur prägen werden.
  • Auf Seite 101 faßt Sarrazin das so zusammen:
    Im folgenden werde ich zeigen, welche Mängel und Fehlentwicklungen
    - bei der Armutsbekämpfung
    - der Organisation des Arbeitsmarktes und der Gestaltung der Arbeitsmarktpolitik
    - in der Bildungspolitik
    - im Umgang mit Migration und Integration
    - in der Bevölkerungs- und Familienpolitik
    die bestehenden Negativtrends verursachen und Überlegungen anstellen, was man auf dem jeweiligen Politikfeld ändern kann.
    Sarrazin befaßt sich also mit einer Reihe von Entwicklungen, bei denen allerdings der Demographie eine Schlüsselrolle zukommt.

    Was ich jetzt zitiert habe, steht im dritten Kapitel des Buchs, betitelt "Zeichen des Verfalls". Dort beschreibt Sarrazin diese Tendenzen, ohne aber ein quantifiziertes Szenario zu entwickeln. Das tut er für die demographische Entwicklung jedoch im achten Kapitel "Demografie und Bevölkerungspolitik"; und zwar auf der Grundlage der Annahmen über die Geburtenziffer und Einwanderung, die ich im zweiten Teil beschrieben habe.



    Für die Geburtenziffer der einheimischen Bevölkerung in Deutschland nimmt Sarrazin an, daß sie bei dem Wert verharrt, den sie Ende der siebziger Jahre erreicht hatte und der seither weitgehend stabil geblieben ist; also 1,4.

    Für alle Einwanderer mit Ausnahme derer, die aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika kommen, nimmt Sarrazin eine Angleichung an diese deutsche Geburtenziffer an. Für die größtenteils moslemischen Einwanderer aus diesen Gebieten setzt er die Geburtenziffer bei 2,0 an.

    Wie wir im zweiten Teil gesehen haben, sind das Werte, die für die Gegenwart stimmen; derjenige für die Moslems liegt vielleicht sogar eher zu niedrig. Ob sie in den kommenden Jahrzehnten unverändert bleiben werden, weiß niemand. Sarrazin hebt das ausdrücklich hervor (Seite 359):
    Es handelt sich, das muß betont werden, ... um eine Modellrechnung und nicht um eine Prognose. Es gibt nämlich keine wissenschaftlich zuverlässige Methode, Geburtenverhalten und Zuwanderung über mehrere Jahrzehnte verläßlich vorherzusagen.
    Aber deshalb ist es doch wichtig - so die Logik Sarrazins -, zu wissen, was passieren wird, wenn sich nichts ändert.

    Die jährliche Zuwanderung setzt Sarrazin mit 100.000 Personen an. Er nimmt an, daß diese Zuwanderer überwiegend aus moslemischen Ländern (Naher und Mittlerer Osten, Afrika) kommen werden, da die Einwanderungswellen der Gastarbeiter aus Süd- und Südosteuropa sowie die Einwanderung aus Ländern des ehemaligen Ostblocks weitgehend abgeschlossen seien (die letzere wegen der dort ebenfalls schrumpfenden Bevölkerung).

    Diese Zahl von 100.000 im Jahr ist verschiedentlich heftig kritisiert worden, u.a. in der erwähnten Titelgeschichte des "Spiegel". Sarrazin stützt sich aber (Tabelle 8.5, Seite 342) auf übereinstimmende Prognosen der UNO (für 2050 vorhergesagtes Wanderungssaldo: 110.000) und des Statistischen Bundesamts (für 2060 vorhergesagtes Wanderungssaldo: 100.000).

    Eine letzte Annahme Sarrazins betrifft die gegenwärtige Zahl der Moslems in Deutschland, die Sarrazin aufgrund des Mikrozensus 2007 auf 5,7 Millionen schätzt (S. 261).

    Das liegt höher als die häufig genannte Zahl von 4,0 Millionen Moslems. In der Tat war dies die Zahl, für die im Mikrozensus 2007 eine Zuordnung zu dieser Herkunftsregion (Naher und mittlere Osten, Afrika sowie Bosnien und Herzegowina) möglich gewesen war. Sarrazin verweist darauf, daß aber von den 15,4 Millionen erfaßten Einwanderern 4,7 Millionen wegen fehlender oder fehlerhafter Angaben gar keiner Religion oder einem Herkunfstgebiet zugeordnet werden konnten. Unter der Annahme, daß unter ihnen Moslems anteilig vertreten waren, errechnet er die Zahl von 5,7 Millionen Moslems in Deutschland.

    Macht man diese drei Annahmen, dann läßt sich ein Szenario für die folgenden Generationen errechnen. Sarrazin stellt es in Tabelle 8.9 auf Seite 359 dar:

    Innerhalb einer Generation wächst der Anteil der Einwanderer aus Nah- und Mittelost sowie Afrika bzw. ihrer Nachkommen auf 20,1 Prozent der Bevölkerung. In der nächsten Generation sind es 37,9 Prozent, sodann 56,2 und schließlich - in der vierten Generation von jetzt an - 71,5 Prozent.



    Was ist davon zu halten? Da es sich um ein Szenario handelt, kann man diese Daten nicht richtig oder falsch nennen. Man kann nur abzuschätzen versuchen, wie plausibel sie sind. Im folgenden kommentiere ich deshalb - auch als Abschluß dieser Serie - aus meiner eigenen Sicht:

    Die von Sarrazin angenommene Zahl von jährlich 100.000 moslemischen Einwanderern ist problematisch.

    Nicht nur, weil er die höchst unsicheren Prognosen der UNO und des Statistischen Bundesamts übernimmt (wo sollte er freilich andere Zahlen herbekommen?) und des weiteren unterstellt, daß diese Einwanderer nahezu ausschließlich aus dem islamischen Raum kommen werden.

    Sondern es liegt in der Natur der Zuwanderung, daß sie kaum zu prognostizieren ist. Anders als die Geburtenziffer hängt sie von Faktoren ab, die sich schnell ändern können; beispielsweise von Kriegen oder Revolutionen und der Entwicklung der wirtschaftlichen Prosperität, natürlich auch von den Einwanderungsgesetzen.

    Auch die Frage eines EU-Beitritts der Türkei (auf die Sarrazin nicht eingeht) wird eine entscheidende Rolle spielen; nach einer Aufnahme der Türkei dürfte die Zuwanderung von dort, da sie mittelfristig keinen Einschränkungen unterliegen würde, sprunghaft ansteigen.

    Wenn - wie es der "Spiegel" in der zitierten Titelgeschichte hervorhebt -gegenwärtig sogar mehr Türken aus Deutschland in die Türkei zurückkehren, als von dort einwandern, so ist das freilich in der Regel die Rückkehr von gut qualifizierte Personen, die sich mit ihrer in Deutschland erworbenen Ausbildung beste Chancen in der Türkei ausrechnen können; während die Einwanderung nach Deutschland überwiegend durch schlecht oder gar nicht beruflich Qualifizierte stattfindet, beispielsweiese Bräute hier lebender junger Türken. Also eher ein Grund zu einer weiteren Besorgnis als zur Erleichterung.

    Was die Geburtenziffern angeht, so lassen sich besser begründete Vermutungen anstellen als zum Wanderungssaldo.

    Die Geburtenziffer der einheimischen deutschen Bevölkerung liegt, wie erwähnt, seit den siebziger Jahren konstant bei 1,4. Es ist unwahrscheinlich, daß sie sich in den kommenden Jahrzehnten spontan ändern wird. Jedenfalls gibt es dafür keine Indikatoren. Mit einer gezielten Bevölkerungspolitik könnte man sie vielleicht beeinflussen. Aber schon dieses Wort ist ja tabuisiert.

    Ebenso gibt es keine Hinweise darauf, daß die Geburtenziffer der eingewanderten Moslems sich diesem extrem niedrigen Wert angleichen wird, der sich in Deutschland aufgrund der gesellschaftlichen Umbrüche der siebziger Jahre herausgebildet hat (siehe Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These; ZR vom 14. 9. 2010).

    Dafür, daß es nicht zu einer Angleichung an die extreme deutsche Geburtenziffer kommen wird, sprechen nicht nur die von Milewski analysierten Daten, sondern dafür spricht auch der Umstand, daß die Geburtenziffer von der Religiosität abhängt. Sarrazin verweist hierzu auf die eingehenden Untersuchungen des Religionssoziologen Michael Blume (Seiten 318f und 368f). Religiöse haben mehr Kinder als nicht Religiöse; und das liegt nicht daran, daß es gemeinsame Faktoren gibt, die für sowohl Religiosität als auch Kinderreichtum verantwortlich sind.

    Die deutsche Geburtenziffer ist hauptsächlich deshalb so niedrig, weil es einen hohen Anteil an kinderlosen Frauen vor allem in der (nach Bildung) oberen Schicht gibt. Ich kenne keinen Hinweis darauf, daß sich ein ähnliches Phänomen bei den moslemischen Einwanderern entwickeln würde.

    Hat Sarrazin also Recht, hat er Unrecht?

    Hatte Georg Picht Recht, Karl Jaspers, der Club of Rome? Die von ihnen entworfenen Szenarien sind überwiegend bisher nicht eingetreten. Deshalb waren sie aber nicht falsch; was Szenarien ja nicht sein können. Man hat Maßnahmen ergriffen, um zu verhindern, daß diese Szenarien Wirklichkeit werden würden.

    Sarrazin schlägt eine ganze Batterie von Maßnahmen vor, mit denen man einer Entwicklung, in der seine Szenarien Realität werden würden, entgegenwirken kann; sie zu besprechen ginge über den Rahmen dieser Serie hinaus.

    Wenn Sie allerdings meinen, Sarrazin sei zu pessimistisch, dann empfehle ich Ihnen die Lektüre dessen, was ich im März zu den Analysen des Bremer Soziologen, Ökonomen und Demographen Gunnar Heinsohn geschrieben habe. Gegen das, was Heinsohn erwartet, ist Sarrazins Buch ein Quell der Hoffnung.



    Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.



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