5. September 2010

Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft (3): Teilen alle Juden ein bestimmtes Gen? - Teil 1: Grundlagen der Populationsgenetik

Alle Menschen sind miteinander verwandt. Alle jetzt lebenden Menschen und alle Menschen, die jemals gelebt haben, stammen ab von einem Paar von Hominiden (von Adam und Eva, wenn wir sie so nennen wollen), das in Ostafrika lebte.

Wir Menschen bilden alle sozusagen eine einzige Großfamilie oder Sippe. Wie in jeder Großfamilie gibt es engere und weniger enge Verwandtschaftsverhältnisse. Geschwister sind enger verwandt als Vettern zweiten Grades; diese wieder enger als die Bewohner eines Dorfs, deren Vorfahren immer wieder untereinander geheiratet haben und die dadurch ein Geflecht von Verwandtschaftsbeziehungen bilden; und so fort.

Was bedeutet "enger verwandt"? Es bedeutet, daß es eine größere genetische Übereinstimmung gibt; daß das Genom (die Gesamtheit der Gene) mehr Gemeinsamkeiten aufweist. Am größten ist diese genetische Übereinstimmung bei eineiigen Zwillingen.

Die moderne Genetik verfügt über die technischen Möglichkeiten, den Grad genetischer Übereinstimmung schnell und mit geringem Aufwand zu bestimmen. Näheres können Sie zum Beispiel hier lesen (auf Englisch; der entsprechende Artikel in der deutschen Wikipedia hat leider einen Informationswert nahe null). Das erlaubt die Untersuchung von großen Populationen im Hinblick auf ihre genetische Ähnlichkeit.

Was untersucht man, und wie geht man dabei vor? Warum macht man das überhaupt? Und gibt es eine genetische Ähnlichkeit zwischen Juden, die Thilo Sarrazins Aussage rechtfertigt: "Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden."?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns wieder - wie im Fall von Sarrazins Aussagen zur Erblichkeit der Intelligenz - zunächst ein paar Grundlagen klarmachen, bevor ich im zweiten Teil die Frage beantworte, ob Sarrazin Recht hat.

Lesen Sie bitte trotzdem weiter; sie werden sehen, daß man auch hier das Wesentliche ohne Fachchinesisch und ohne Vorkenntnisse leicht verstehen kann. Wenn Sie etwas tiefer in die Materie eindringen wollen, empfehle ich diesen gut lesbaren Text von E. G. Berger und T. Hennet, zwei Genetikern an der Universität Zürich.



Chromosomen, DNA, Gene, Allele. Das menschliche Erbmaterial (Genom) besteht aus Strukturen auf verschiedenen Ebenen. Man kann sich diese Strukturebenen mit Hilfe des folgenden Vergleichs klarmachen:
  • In einer Bibliothek stehen 46 Bücher. Das entspricht den 46 menschlichen Chromosomen, die sich im Zellkern befinden und die zusammen das menschliche Genom ausmachen. Auf jedem Chromosom gibt es lange Abfolgen (Sequenzen) von DNA, einem komplexen Kettenmolekül. Sie können sich das wie einen Zwirnfaden vorstellen, der eng zusammengeknäult ist. Diese Kettenmoleküle sind dünn, aber sehr lang (die DNA eines Chromosoms ist ungefähr 1 - 10 Zentimeter lang; die Länge der DNA des gesamten menschlichen Genoms wird auf ungefähr 1,80 Meter geschätzt; und das untergebracht in einem Zellkern mit einem Durchmesser in der Größenordnung von 0,01 mm!).

    Hier sehen Sie schematisch ein Chromosom mit der in ihm wie in einem Knäuel aufgewickelten DNA (Die Zahlen beziehen sich auf Details, auf die ich jetzt nicht eingehe):


  • Die DNA gliedert sich in einzelne Abschnitte, die Gene. Deren Zahl ist für die einzelnen Chromosomen verschieden; sie liegt beim Menschen zwischen 400 und 3340 pro Chromosom. In unserer Analogie könnte man sagen: Jedes der Bücher hat eine andere Zahl von Seiten. (Es gibt auch Abschnitte der DNA, die keine Gene sind; siehe unten).

    Wieviele menschliche Gene gibt es insgesamt; wieviele Seiten umfaßt also, in der Analogie, die gesamte Bibliothek? So genau weiß man das noch nicht; jedenfalls ist die Zahl niedriger als der Wert von rund 100.000, der früher einmal vermutet wurde. Eine gegenwärtig oft zitierte Schätzung nennt etwas über 20.000; es könnten aber auch 30.000 oder 35.000 sein.

  • Auf jeder dieser "Buchseiten" befinden sich natürlich Buchstaben. Die "Buchstaben" des genetischen Alphabets sind nur vier an der Zahl: Die Basen Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin. Die DNA in einem Chromosom enthält zwischen 48 Millionen und 250 Millionen dieser Basen; so groß ist also die Zahl der "Buchstaben" pro "Buch". Die gesamte "Bibliothek" umfaßt mehr als sechs Milliarden "Buchstaben".

  • Was meint man nun mit der "Entschlüsselung des menschlichen Genoms"? Man meint damit, daß für jedes Chromosom die Abfolge der Gene analysiert wird (Sequenzierung). In unserer Analogie bedeutet das, daß man wissen wollte - und es inzwischen weitgehend weiß - , welche Seiten jedes der 46 Bücher hat.

  • Man weiß damit aber noch nicht - und das ist ein wichtiger Punkt, wenn wir die Aussage Sarrazins auf den Prüfstand stellen - was genau auf jeder Seite steht. Das nämlich ist von Mensch zu Mensch verschieden. Mit anderen Worten: Jedes Gen existiert in unterschiedlichen Varianten, den Allelen. Es gibt beispielsweise ein Gen für die Augenfarbe. Je nachdem, als welches (dominierende) Allel es im Erbgut eines Menschen vorliegt, ist dessen Augenfarbe braun, blau oder vielleicht ein sanftes Grün.
  • Wenn Sie - beispielsweise im Zusammenhang mit der Aufklärung eines Verbrechens - von "DNA-Analyse" lesen, dann ist damit die Bestimmung dieser Besonderheit, dieser Einmaligkeit in der DNA eines Individuums gemeint. Allerdings werden zu diesem Zweck nicht die Gene herangezogen, sondern die "nichtkodierten" Teile der DNA, von denen angenommen wird, daß sie keine Erbinformation tragen. Ihre Funktion ist noch nicht klar.



    Populationsgenetik. Wir Menschen haben also (von Sonderfällen wie dem Down-Syndrom abgesehen) alle dieselben Chromosomen und Gene, aber in Form unterschiedlicher Allele. (Sie merken hier schon - um das vorwegzunehmen -, daß die Formulierung von Sarrazin so nicht richtig sein kann).

    Sie verstehen jetzt genauer, was gemeint ist, wenn man davon spricht, daß zwei Menschen einander "genetisch ähnlich sind": Sie haben in einem mehr oder weniger großen Umfang dieselben Allele. Ihr inviduelles Genom ist ähnlich zusammengesetzt. Eineiige Zwillinge haben bei allen Genen dieselben Allele; allerdings können diese aufgrund epigenetischer Unterschiede verschieden wirksam sein.

    Man kann also mittels einer DNA-Analyse das Vorliegen einer (im engeren Sinn) Verwandtschaft und auch den Grad der Verwandtschaft feststellen. Mitte der neunziger Jahre ging zum Beispiel durch die Presse, daß man eine - vermutliche - DNA-Probe des Findelkinds Kaspar Hauser aus dem 19. Jahrhundert untersucht und dabei herausgefunden hatte, daß dieser entgegen einer hartnäckigen Verschwörungstheorie kein entführter Sohn des Erzherzogs von Baden war.

    Die Populationsgenetik nun befaßt sich mit den Allelen in einer Population, ihrer Verteilung und deren Änderungen. Eine Population ist dabei eine mehr oder weniger große Gruppe von Individuen, die sich kreuzen können; beim Menschen würde man sagen: Die miteinander gemeinsam Kinder zeugen können.

    Man kann menschliche Populationen auf jeder Ebene betrachten - die Chinesen sind ebenso eine Population wie, sagen wir, die Einwohner von Amrum oder die Mitglieder irgendeiner Landkommune. Oder auch - darauf komme ich im zweiten Teil - die Juden.

    Wissenschaftlich besonders interessant ist die Populationsgenetik unter anderem deswegen, weil sie es erlaubt, die Wanderungsbewegungen unserer Vorfahren zu rekonstruieren, seit sie sich aus Afrika heraus ("out of Africa") aufmachten, die Welt zu besiedeln; vor vielleicht 60.000 Jahren.

    Denn je unähnlicher die Allele von zwei Populationen sind, um so früher müssen diese sich schon getrennt haben; sozusagen verschiedene genetische Wege gegangen sein (das Genographic Project untersucht das in großem Stil).

    Stellen Sie sich eine Schar von Wandersleuten vor, die gemeinsam "im Frühtau zu Berge" losziehen und sich im Lauf des Tages in immer kleinere Grüppchen auflösen, von denen jedes seine eigenen Wege geht. Wenn man am Abend nachsieht, wo jeder angekommen ist, wird man finden, daß zwei Wanderer im Schnitt umso weiter voneinander entfernt zu Abend essen und ihr müdes Haupt betten, je früher am Tag sich ihre Wege getrennt haben.

    Allerdings werden bei einer solchen genetischen Analyse von Wanderungsbewegungen nicht einfach Allele verglichen, sondern man konzentriert sich auf bestimmte "genetische Marker", die zum einen vom Vater an den Sohn weitergegeben werden (über das Y-Chromosom, das nur Männer haben), zum anderen nur von der Mutter an ihre Kinder (die mitochondriale DNA; mtDNA).

    Die Rekonstruktion der Wanderungsbewegungen stimmt erstaunlich gut mit den Ergebnissen der vergleichenden Linguistik überein: Je früher sich, abzulesen an den genetischen Markern, zwei Populationen getrennt haben, umso verschiedener sind in der Regel auch ihre Sprachen.

    Wie gesagt: Auch die Juden sind eine Population, die man in dieser Weise untersuchen kann. Was sich dabei ergeben hat und ob es Sarrazin Recht gibt, ist das Thema des zweiten Teils.



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    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette von der Autorin Nina unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Abbildung vom Autor Markus Manske unter GNU Free Documentation License, Version 1.2 später, freigegeben. Mit Dank an Nepumuk.