19. August 2009

Marginalie: Prozentual mehr Arme in Nordrhein- Westfalen als in Indien?

Unter anderem das Kölner Domradio meldete gestern:
NRW: Jedes vierte Kind ist arm.
Ein NRW- Bündnis aus Wohlfahrtverbänden, Kinderschutzbund und Gewerkschaften fordert einen Rechtsanspruch auf eine existenzsichernde Grundsicherung von monatlich 502 Euro pro Kind. (...) Fast jedes vierte Kind zwischen Rhein und Weser sei arm.
Laut dem Artikel Demographics of India (Demographie Indiens) der Wikipedia liegen 22 Prozent der Bevölkerung Indiens (Schätzwert für 2006) unterhalb der Armutsgrenze.

Diese Gegenüberstellung macht deutlich, wie willkürlich es ist, wen man als arm bezeichnet. Es wird irgendwo eine Grenze gezogen, und wer mit seinem Einkommen darunter liegt, der ist "arm".

Den meisten Menschen, die solche Meldungen lesen, dürfte diese Willkürlichkeit nicht bewußt sein. Das Wort "arm" eignet sich deshalb bestens zum politischen Kampfbegriff.

Je nachdem, wie man Armut definiert, kann man für Indien auch zu ganz anderen Zahlen kommen; beispielsweise zu der Zahl der Weltbank von 42 Prozent Armen im Jahr 2005.

Natürlich wird Armut in Deutschland ganz anders definiert als bei dieser Berechnung der Weltbank. Dort wird ein absolutes Kriterium verwendet, nämlich ein Einkommen von weniger als 1,25 Dollar pro Tag. In Deutschland wird Armut in der Regel relativ definiert: Arm ist, wer weniger als 50 Prozent (manchmal 60 Prozent) des Durchschnittseinkommens (Median aller Einkommen) verdient.

Wie widersinnig diese Definition ist, erhellt zum Beispiel daraus, daß es nach ihr in Deutschland ungefähr 11 Prozent Arme gibt, in Ungarn aber nur 7,1 Prozent.

Ob jemand arm ist, hängt nach dieser Definition davon ab, wie hoch die Einkommen der Besserverdienenden sind. Die einfachste Maßnahme, die Armutsrate zu senken, besteht folglich darin, die höheren Einkommen stärker zu besteuern. Die Lage der Schlechterverdienenden ändert sich dadurch zwar nicht; aber es sind dann weniger von ihnen arm.

Ein anderes Beispiel: Mit der Wiedervereinigung wurden mit einem Schlag viele DDR-Bürger zu Armen, auch wenn sie dasselbe oder vielleicht sogar mehr verdienten als zuvor. Denn ihr Einkommen hatte in der DDR mehr als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens betragen, lag in der Bundesrepublik nun aber bei weniger als 50 Prozent.

Ob jemand arm ist, hängt weitgehend davon ab, welche Region man zur Berechnung heranzieht. Jemand kann zum Beispiel als Mecklenburger nicht arm sein, als Deutscher hingegen arm und als Europäer wiederum nicht arm.

Ausführlich habe ich die Problematik des Begriffs "arm" im Mai vergangenen Jahres anläßlich des Armutsberichts der Bundesregierung in diesem Artikel erörtert. Verschiedene Aspekte der Armut behandelt diese Serie. Die Absurditäten der in Deutschland (und der ganzen EU) üblichen relativen Defintion von Armut werde vor allem in der vierten und der fünften Folge diskutiert.



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