3. Dezember 2006

Warum tragen Prolls Goldkettchen?

Diese Frage stellt Stern Online im Augenblick seinen Lesern. Ja, das habe ich auch immer schon wissen wollen.

Was die Leser von Stern Online antworten, das ist leider noch nicht zugänglich; vorläufig öffnet sich nur ein Schreibfenster, wenn man auf die betreffende Überschrift klickt. Also mußte ich mir selbst meine Gedanken machen. Hier sind sie.

Richtig formuliert ist eine Frage manchmal fast schon beantwortet. Im vorliegenden Fall liegt, denke ich, der Schlüssel zur Antwort darin, die Frage so zu stellen: "Warum tragen eigentlich nur Prolls Goldkettchen?" Warum nicht auch der Chefarzt, der Lehrer, der Buchhändler, der Buchhalter? Wenn schon nicht im Dienst, dann doch zumindest in ihrer Freizeit, in der Oper, in geselliger Runde?

Und warum trägt hingegen die Frau Chefärztin, die Lehrerin, warum tragen so viele Frauen Goldkettchen, Perlenketten, Schmückendes aller Art?



Wir haben es offensichtlich erstens mit einem Gender-Problem zu tun, zweitens mit einem Problem von beträchtlichen historischen und interkulturellen Dimensionen.

Frauen schmücken sich. Sie schmücken sich mannigfach. Der Schmuck im engeren Sinn ist ein Teil dieses allgemeinen Sich- Schmückens. Dieses Sich- Schmücken- Dürfens, ja Sich- Schmücken- Sollens. Männern ist das nicht im gleichen Umfang gestattet. Es sei denn, man ist homosexuell. Es sei denn, man ist ein Proll mit Goldkettchen.

Warum ist das so? Woher dieser Unterschied im Rollenverhalten, in der Rollenerwartung?



Eine triviale Antwort liegt auf der Hand, und sie ist erkennbar falsch: Der Rekurs auf die Biologie. Die lange herrschende Skepsis gegen Erklärungen, die biologische, die genetisch bedingte Unterschiede ins Spiel bringen, ist zwar im Abflauen, was erfreulich ist. Aber hier würde uns dieser Weg ganz und gar in die falsche Richtung führen.

Denn erstens sind quer durch die Fauna fast immer die Männchen die Prächtigeren, die Geschmückteren. Was auch eminent Sinn macht, denn da die Weibchen in der Regel nur eine relativ kleine Zahl von Nachkommen gebären können, von Eiern legen können, während die Männchen über einen üppigen Samenvorrat verfügen, ist es an den Weibchen, wählerisch zu sein. Sie sind die Konsumentinnen, die Männchen die Anbieter in einer freien Marktwirtschaft.

In anderen Worten: Bei Männchen macht's die Masse, daß sie ihre Gene weitergeben. Bei Weibchen macht's die geschickte Selektion. Also müssen die Männchen sich anstrengen. Im Verhalten, aber eben auch im Aussehen. Sie müssen so prächtig daherstelzen, daherschwimmen, daherfliegen, wie sie nur eben können. Weibchen nicht.

So war und ist es in der Regel auch beim Menschen. Daß Männer sich weniger schmücken als Frauen, ist schlicht nicht der Fall. In der Regel schmücken sich beide Geschlechter, und nicht selten treiben die Männer dabei den größeren Aufwand. Vom sein Penisfutteral vor sich hertragenden Papua bis zum Barockfürsten unter seiner Allonge, auf hochhackigen Pumps daherstelzend und zierlich sein Spazierstöcklein schwingend.



Nein, der ungeschmückte, der jedenfalls im Vergleich zur Frau bescheiden geschmückte Mann ist eine Erfindung unserer Kultur, unserer Gegenwart. Es begann Ende des 18. Jahrhunderts mit einer gewissen Unordentlichkeit, die sich als Einfachheit gab - der Revoluzzer als Sansculotte, zwar nicht ohne Hose, aber ohne die höfische Kniebundhose; stattdessen in unförmigen, um seine untere Körperhälfte herumschlotternden Beinkleidern. Der Stürmer und Dränger mit wirrem Haarschopf über seinem Feuerkopf. Dann, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Turner im Schillerkragen, im altdeutschen Wams, den Zottelbart auf die Brust wallend, wie beim Turnvater Jahn.

Da war die Schmucklosigkeit Protest. Protest gegen die als dekadent, als überzüchtet, als gekünstelt erlebte Feudalgesellschaft. Ehrlich, kernig, treu, unverfälscht wollte man sein. Im Inneren wollte man das sein, und dem korrespondierte ein schmuckloses Äußeres.

Damals - in den Jahrzehnten vor und nach der Wende zum neunzehnten Jahrhundert - ging den Männern nicht nur die Perücke verloren, sondern auch der meiste sonstige Schmuck. Ihre Kleidung wurde schwarz, grau, jedenfalls gedeckt. Jemand, der, wie der junge Werther, im blauen Frack mit gelber Weste herumlief, wäre Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als ein Geck erschienen, ein Dandy, wie man das dann nannte. Der Dandy war, Ende jenes Jahrhunderts, gewissermaßen der lebende Protest gegen diese Entwicklung zur Schmucklosigkeit.

Warum vollzog sie sich? Da kann man viel spekulieren. Aufstieg des Bürgertums auf der Grundlage der protestantischen Ethik. Ethos der Arbeit. Figuren wie der Vater in Hebbels "Maria Magdalena" bestimmten nun die Gesellschaft. (In Lessings "Emilia Galotti" war eine ähnliche tragische Vaterfigur noch das hilflose Opfer in einer Feudalgesellschaft gewesen).



Vielleicht war es ja wirklich diese Schmucklosigkeit, die uns den Aufstieg des Kapitalismus bescherte. Der emsige Kaufmann, der disziplinierte Unternehmer, der unermüdliche Ingenieur, der mit strenger Methodik exakt forschende Wissenschaftler - sie alle tragen ja Merkmale dieser Austerität, dieses Verzichts aufs Schmückende, auf die Pose, die Darstellung. Les savants austères, heißt es bei Baudelaire.

Gut möglich, daß diese Zeit des bürgerlichen Aufstiegs, des Erfolgs strengen Denkens und disziplinierten Handels in unseren Tagen zu Ende geht. Jedenfalls werden die Männer wieder bunter.

Und dabei passiert etwas, was kulturgeschichtlich ganz untypisch ist: Die oberen Schichten orientieren sich an den unteren.

Fast immer in der Geschichte war es umgekehrt. Die Unteren eiferten den Oberen nach; in den Sitten, im Denken, auch in der Mode. "Volkstrachten" sind ja oft nichts anderes als die Oberschicht-Mode vergangener Zeiten. Der Frack, den noch heute die Saaldiener im Bundestag tragen, war vor zweihundert Jahren Alltagskleidung; die Frackschöße dienten dem bequemen Reiten.



Jetzt aber dringt die Unterschicht-Kultur nach oben. Und damit sind wir wieder bei den Goldkettchen der Prolls. Die Unterschicht, jedenfalls Teile davon, hat die skizzierte Entwicklung zur bürgerlichen Unscheinbarkeit und Austerität nie ganz mitgemacht. Dort war man immer weniger "verbogen"; die Prolls aller Zeiten haben sich, ob Frau oder Mann, am Klitzernden, am Bunten gefreut - ob nun Talmi oder richtiges Gold, ob Glas oder Besseres.

Und man hat dort auch schon lange dieses kindlich- unverkrampfte Schmuckbedürfnis auf die eigene Haut bezogen, sich also tätowieren lassen, allerlei Schmückendes an der Haut befestigt, der Nase, wo immer es sich anbot. Mag sein, daß das Seeleute aus der Südsee mitgebracht hatten.

Inzwischen ist diese Proll-Kultur dabei, in die besseren Kreise vorzudringen, oder in das, was davon übriggeblieben ist. Gepiercte Akademikerinnen, tätowierte Polizisten sind keine Seltenheit mehr. Es gibt Verprollungstendenzen in allen Schichten der Gesellschaft.

Vielleicht ist das ja nur eine Rückkehr zur Normalität, der Abschied vom Bürgertum des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Vielleicht geht damit aber auch mehr einher, eine gewisse Auflösung der Strenge und Disziplin, die unsere Kultur zur Weltkultur gemacht haben.

Nun, heute geht sie in einer neuen Weltkultur auf. Also, wer weiß, vielleicht sind die Goldkettchen an Männerarmen und -Hälsen in ein paar Jahrzehnten so normal, wie es Ende des achtzehnten Jahrhunderts normal wurde, ohne Perücke herumzulaufen.