Als im Januar 1991 der erste Golfkrieg begann, war in unserer Universität und ihrem Umfeld die Bestürzung groß. Die Studenten, die "im Frieden" aufgewachsen waren, erlebten zum ersten Mal "Krieg". Es gab Schweige- märsche, es gab in der Uni viele Aktionen, Podiumsdiskussionen, "umfunktionierte" Vorlesungen und Seminare.
Am stärksten in Erinnerung ist mir eine Veranstaltung, die eine Mischung aus Happening, Kundgebung und Trauergottesdienst war. Man hatte an einem zentralen Platz der Stadt viele schwarze Kreuze aufgestellt. Es traten Redner und Rezitatoren auf, und jemand sprach einen Text, in dem es hieß (dumpf und leise-intensiv gesprochen): "'s ist Krieg". Ein sehr schöner, sehr schrecklicher Text von Matthias Claudius, mit dem bekannten "und ich begehre / Nicht schuld daran zu sein!"
Die Bestürzung, die - wie man damals noch unbefangen sagte - "Betroffenheit" war echt. Aber sie zeugte doch zugleich von einem geringen Geschichtsverständnis, von einer jedenfalls sehr subjektiven Sicht des Weltgeschehens. Denn die Zeit vor dem Januar 1991 war keine Friedenszeit gewesen, und der Golfkrieg war kein Krieg im klassischen Sinn.
Er war nur die erste kriegerische Auseinandersetzung, die in allen Einzelheiten "gecovert" wurde, medial begleitet. Und es hatte in seinem "Vorfeld" eine wochenlange, ebenfalls bereits in den Medien reflektierte, Eskalation der Kriegsvorbereitungen gegeben, die im Angriff der internationalen Streitmacht auf den Irak kulminierte. Eine bedrängende, bedrückende Dramaturgie.
Streng genommen gibt es seit 1945 kaum noch Kriege. Der Nürnberger Prozeß hat den Angriffskrieg geächtet; und es liegt nun mal im Wesen eines Krieges, daß man einander angreift, daß mindestens eine der beteiligten Kriegsparteien der Angreifer ist.
Also wird heutzutage nicht mehr "der Krieg erklärt".
Genaue Historiographen notieren zwar, daß es immer noch Staaten gibt, die sich formal im Kriegszustand befinden - Portugal und die Niederlande zum Beispiel, weil sie nach einem Krieg im Jahr 1567 es unterlassen haben, Frieden zu schließen. Nord- und Südkorea, weil sie den Korea-Krieg nur mit einem Waffenstillstand unterbrochen haben. Oder - eine aktuelle Kuriosität - der Tschad, der dem Sudan gegenüber im Dezember 2005 einen état de bélligerance, einen Kriegszustand also, verkündet hat.
Aber im wesentlichen finden heute, formalrechtlich gesehen, keine erklärten Kriege mehr statt. Das ist das Ergebnis des Nürnberger Prozesses, und es ist das Ergebnis eines langen, bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Bemühens, den Krieg "abzuschaffen".
In diesen Tagen wird darüber diskutiert, ob im Nahen Osten ein Krieg auszubrechen droht, oder ob dieser gar schon im Gange sei.
"Wie groß ist die Gefahr, dass sich der Konflikt zum Krieg ausweitet?" fragt heute beispielsweise der Tagesspiegel. In Israel wird der Krieg weithin als schon im Gang befindlich wahrgenommen. YNetNews zum Beispiel nennt ihn im Nachrichtenteil den "Zweifrontenkrieg"; und im Kommentarteil spricht Yigal Sarena, eine scharfe Kritikerin dieses Kriegs, vom Julikrieg 2006, während in einem anderen Kommentar von YNetNews Sever Plocker schreibt: "The need to win this war is absolute. There can be no debate about it."
Die Frage, ob Israel sich "noch" in einem Konflikt befindet oder "schon" im Krieg, ist augenscheinlich sinnlos.
Sie ist ebenso sinnleer wie die Frage, ob die USA seit 9/11 im Krieg mit dem islamistischen Terrorismus stehen. In den USA sehen das viele Menschen so. Hier in Europa erscheint es vielen als grotesk übertrieben.
Sie ist ebenso sinnlos wie die Frage, ob im Irak ein Bürgerkrieg tobe. Seltsamerweise sehen das viele in Europa so, die zugleich vehement bestreiten, daß die USA sich im Krieg gegen Terroristen befinden.
Sinnvoll wären derartige Fragen nur dann, wenn es noch eine klare Grenze zwischen Krieg und Frieden gäbe. Diese wurde im klassischen Völkerrecht durch die Kriegserklärung und den Friedensschluß gezogen. Mit der Minute der Kriegserklärung begann der Krieg, und mit dem Augenblick des Friedensschlusses endete er.
Nun hat man also den Krieg "geächtet". Daß Kriege dadurch - daß also Kriege im vergangenen halben Jahrhundert - seltener geworden wären, kann man nicht sagen. Die Nobelpreisorganisation hat eine Weltkarte der Kriege des 20. Jahrhunderts zusammengestellt.
Aber was - sicher nicht nur durch die Ächtung des Kriegs, aber sicher auch nicht unabhängig von ihr - geschehen ist, das ist eine Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden. Sie waren, als Krieg noch erlaubt und durch das Völkerrecht reguliert war, scharf gezogen; eben durch Kriegserklärung und Friedensschluß. Heute gibt es ein Kontinuum. In gewisser Weise herrscht in vielen Weltregionen Krieg. In gewisser Weise herrscht nirgends richtig Krieg.
Zur Zeit des Ost-West-Konflikts sprach man davon, daß "aus dem Kalten Krieg ein heißer werden könnte". Der "heiße Krieg" - das bedeutete damals den Atomkrieg, mit der Aussicht auf eine weitgehende Vernichtung aller beteiligter Staaten; vielleicht weiter Teile der Menschheit. Weil dieser Krieg so unfaßbar schrecklich war, war die Grenze zu ihm außerordentlich scharf gezogen.
Diese Gefahr besteht im Augenblick nicht mehr (oder noch nicht wieder). Kriege sind damit wieder führbar geworden. Sie sind aber geächtet. Und folglich gibt es nun, statt der scharf gezogenen Grenze, ein Kontinuum der Gewalttätigkeit. Alles unterhalb der Schwelle zur "Kriegserklärung". Mal terroristische Anschläge, mal "gewaltsame ethnische Konflikte", mal ein "nationaler Befreiungskampf" oder "Widerstand gegen Besatzer". Mal "Grenzzwischenfälle" oder "Raketenbeschuß", mal "gezielte Tötungen" oder "Säuberungsaktionen".
"'s ist Krieg!", das paßt heute eigentlich nicht mehr. Kriege "brechen" nicht mehr "aus". Sie sind nicht mehr wie eine Infektionskrankheit, die man nach einer Ansteckung plötzlich "bekommt", sondern eher wie ein Kreislaufleiden, das man im Lauf seines Lebens "entwickelt" und das mal heftiger, mal weniger schlimm in Erscheinung tritt.
Am stärksten in Erinnerung ist mir eine Veranstaltung, die eine Mischung aus Happening, Kundgebung und Trauergottesdienst war. Man hatte an einem zentralen Platz der Stadt viele schwarze Kreuze aufgestellt. Es traten Redner und Rezitatoren auf, und jemand sprach einen Text, in dem es hieß (dumpf und leise-intensiv gesprochen): "'s ist Krieg". Ein sehr schöner, sehr schrecklicher Text von Matthias Claudius, mit dem bekannten "und ich begehre / Nicht schuld daran zu sein!"
Die Bestürzung, die - wie man damals noch unbefangen sagte - "Betroffenheit" war echt. Aber sie zeugte doch zugleich von einem geringen Geschichtsverständnis, von einer jedenfalls sehr subjektiven Sicht des Weltgeschehens. Denn die Zeit vor dem Januar 1991 war keine Friedenszeit gewesen, und der Golfkrieg war kein Krieg im klassischen Sinn.
Er war nur die erste kriegerische Auseinandersetzung, die in allen Einzelheiten "gecovert" wurde, medial begleitet. Und es hatte in seinem "Vorfeld" eine wochenlange, ebenfalls bereits in den Medien reflektierte, Eskalation der Kriegsvorbereitungen gegeben, die im Angriff der internationalen Streitmacht auf den Irak kulminierte. Eine bedrängende, bedrückende Dramaturgie.
Streng genommen gibt es seit 1945 kaum noch Kriege. Der Nürnberger Prozeß hat den Angriffskrieg geächtet; und es liegt nun mal im Wesen eines Krieges, daß man einander angreift, daß mindestens eine der beteiligten Kriegsparteien der Angreifer ist.
Also wird heutzutage nicht mehr "der Krieg erklärt".
Genaue Historiographen notieren zwar, daß es immer noch Staaten gibt, die sich formal im Kriegszustand befinden - Portugal und die Niederlande zum Beispiel, weil sie nach einem Krieg im Jahr 1567 es unterlassen haben, Frieden zu schließen. Nord- und Südkorea, weil sie den Korea-Krieg nur mit einem Waffenstillstand unterbrochen haben. Oder - eine aktuelle Kuriosität - der Tschad, der dem Sudan gegenüber im Dezember 2005 einen état de bélligerance, einen Kriegszustand also, verkündet hat.
Aber im wesentlichen finden heute, formalrechtlich gesehen, keine erklärten Kriege mehr statt. Das ist das Ergebnis des Nürnberger Prozesses, und es ist das Ergebnis eines langen, bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Bemühens, den Krieg "abzuschaffen".
In diesen Tagen wird darüber diskutiert, ob im Nahen Osten ein Krieg auszubrechen droht, oder ob dieser gar schon im Gange sei.
"Wie groß ist die Gefahr, dass sich der Konflikt zum Krieg ausweitet?" fragt heute beispielsweise der Tagesspiegel. In Israel wird der Krieg weithin als schon im Gang befindlich wahrgenommen. YNetNews zum Beispiel nennt ihn im Nachrichtenteil den "Zweifrontenkrieg"; und im Kommentarteil spricht Yigal Sarena, eine scharfe Kritikerin dieses Kriegs, vom Julikrieg 2006, während in einem anderen Kommentar von YNetNews Sever Plocker schreibt: "The need to win this war is absolute. There can be no debate about it."
Die Frage, ob Israel sich "noch" in einem Konflikt befindet oder "schon" im Krieg, ist augenscheinlich sinnlos.
Sie ist ebenso sinnleer wie die Frage, ob die USA seit 9/11 im Krieg mit dem islamistischen Terrorismus stehen. In den USA sehen das viele Menschen so. Hier in Europa erscheint es vielen als grotesk übertrieben.
Sie ist ebenso sinnlos wie die Frage, ob im Irak ein Bürgerkrieg tobe. Seltsamerweise sehen das viele in Europa so, die zugleich vehement bestreiten, daß die USA sich im Krieg gegen Terroristen befinden.
Sinnvoll wären derartige Fragen nur dann, wenn es noch eine klare Grenze zwischen Krieg und Frieden gäbe. Diese wurde im klassischen Völkerrecht durch die Kriegserklärung und den Friedensschluß gezogen. Mit der Minute der Kriegserklärung begann der Krieg, und mit dem Augenblick des Friedensschlusses endete er.
Nun hat man also den Krieg "geächtet". Daß Kriege dadurch - daß also Kriege im vergangenen halben Jahrhundert - seltener geworden wären, kann man nicht sagen. Die Nobelpreisorganisation hat eine Weltkarte der Kriege des 20. Jahrhunderts zusammengestellt.
Aber was - sicher nicht nur durch die Ächtung des Kriegs, aber sicher auch nicht unabhängig von ihr - geschehen ist, das ist eine Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden. Sie waren, als Krieg noch erlaubt und durch das Völkerrecht reguliert war, scharf gezogen; eben durch Kriegserklärung und Friedensschluß. Heute gibt es ein Kontinuum. In gewisser Weise herrscht in vielen Weltregionen Krieg. In gewisser Weise herrscht nirgends richtig Krieg.
Zur Zeit des Ost-West-Konflikts sprach man davon, daß "aus dem Kalten Krieg ein heißer werden könnte". Der "heiße Krieg" - das bedeutete damals den Atomkrieg, mit der Aussicht auf eine weitgehende Vernichtung aller beteiligter Staaten; vielleicht weiter Teile der Menschheit. Weil dieser Krieg so unfaßbar schrecklich war, war die Grenze zu ihm außerordentlich scharf gezogen.
Diese Gefahr besteht im Augenblick nicht mehr (oder noch nicht wieder). Kriege sind damit wieder führbar geworden. Sie sind aber geächtet. Und folglich gibt es nun, statt der scharf gezogenen Grenze, ein Kontinuum der Gewalttätigkeit. Alles unterhalb der Schwelle zur "Kriegserklärung". Mal terroristische Anschläge, mal "gewaltsame ethnische Konflikte", mal ein "nationaler Befreiungskampf" oder "Widerstand gegen Besatzer". Mal "Grenzzwischenfälle" oder "Raketenbeschuß", mal "gezielte Tötungen" oder "Säuberungsaktionen".
"'s ist Krieg!", das paßt heute eigentlich nicht mehr. Kriege "brechen" nicht mehr "aus". Sie sind nicht mehr wie eine Infektionskrankheit, die man nach einer Ansteckung plötzlich "bekommt", sondern eher wie ein Kreislaufleiden, das man im Lauf seines Lebens "entwickelt" und das mal heftiger, mal weniger schlimm in Erscheinung tritt.