14. Juli 2006

Aufklärung und Postmoderne

In ihrem Kommentar zu "In welchem Zeitalter leben wir?" hat Inger sehr zu Recht darauf hingewiesen, daß ich bei dem Versuch, dort einige Bezeichnungen für das gegenwärtige Zeitalter aufzuzählen, den vermutlich geläufigsten Namen vergessen hatte: Postmoderne.

Ja, ich habe ihn vergessen, übersehen, ignoriert, diesen Begriff der Postmoderne. Unabsichtlich, aber vermutlich nicht unmotiviert. Warum also?



Nun, zunächst einmal wohl deshalb, weil er einer dieser Begriffe ist, mit denen die Dekadenz sich selbst bezeichnet, oder mit denen sie von anderen belegt wird. Also mir zutiefst unsympathisch.

Spätantike, Manierismus, Rokoko, Ancien Régime, Fin de Siècle, Spätkapitalismus - das sind solche Epochen- bezeichnungen, mit denen der Niedergang, der Zerfall, allenfalls ein letztes Strohfeuer, ein letztes Auskosten des Geists einer Epoche gemeint ist.

So auch Postmoderne. Ein Nachklapp der Moderne. Ihr defizienter Modus. Die Spätzeit, in der diese, derweil sich alle ihre Prinzipien verflüchtigen, noch einmal mit ihren Mitteln, ihren Stilen spielt. Das Satyrspiel nach der Tragödie. Der Dandy als Karikatur des Gentleman.



"Postmodern", das ist aber nicht nur eine Diagnose, sondern es ist auch so etwas wie ein Wellness-Programm. Wenn nichts mehr geht, dann geht alles. Wie schön!

Auf, Leute, laßt uns postmodern sein! Weg von der Strenge, der Verbindlichkeit, der Rationalität der Moderne! Jedem Tierchen sein Pläsierchen! Und jedem Dummkopf seine Wahrheit! Alles gleich wahr, alles gleich falsch. Wen schert's.

Aufklärung? Pah! Nur eine Konstruktion unter beliebig vielen. Dekonstruieren wir sie, so wie sich alles dekonstruieren läßt. Dekonstruieren - also relativieren. Als beliebig, wenn nicht als Ideologie entlarven, als einen Überbau, so schwankend wie die Basis, der er aufsitzt. Mit ihr dem Untergang geweiht. Ex und hopp!

Hopp! Und öfter mal was Neues! Also was Altes. Denn es ist ja alles schon mal dagewesen. Die Mythen, die Rituale, das Zauberische und Raunende - alles das, was die eindimensionale, verkopfte, irgendwie auch männliche Aufklärung verdammt hatte: Heraus damit aus dem Orkus, in den es dieser Aufkläricht geworfen hat!



Back to the roots! Freilich in postmoderner Sicht ohne die Verbindlichkeit, die dieses Wiederentdeckte zu seiner Zeit - also zu der Zeit, als es wirklich gegolten hatte - an sich gehabt hatte.

Was unbedingt gewesen war, schwer und lastend, die Menschen in ihrer Existenz fordernd, das verwandeln die Postmodernen in Spiel und Ästhetik - die Religion wird zur Esoterik, der Mythos zur Fantasy, das Ritual zum Happening, die Philosophie zur Guru-Lehre.

Sie verwandeln es, und sie vernichten es damit natürlich. Denn wenn alles geht, dann geht in Wahrheit nichts mehr. Wenn alles gilt, dann kann man dieses alles nur noch spielerisch, uneigentlich, sich in der Selbstreferentialität selbst aufhebend, gelten lassen.



Ein Gläubiger der Postmoderne - also ein gläubiger Ungläubiger - wird das vermutlich alles einräumen und, in einer sehr postmodernen Volte, es gerade als Bestätigung postmodernen Denkens für sich reklamieren: Ja, genau dies, diese Uneigentlichkeit, dieses Herumspielen, dieses Ästhetisieren, diese Beliebigkeit - das ist eben, streng konstruktivistisch, die Weltsicht, die unserer aus den Fugen - den Fugen der Moderne - geratene Welt als einzige entspricht. Die Art, wie unsere untergehende Gesellschaft sich die Welt konstruiert, indem sie Weltsichten dekonstruiert.

So denken sie, die Postmodernen. So selbstreferentiell, so allerliebst-unverbindlich. Daß sie denken, wie sie denken, bestätigt in ihren Augen schon, daß es berechtigt ist, so zu denken. Wie jede halbwegs gelungene Ideologie - wie die Lehre Hegels, wie die von Marx - umfaßt das postmoderne Denken als seinen Gegenstand nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst. Es erklärt uns nicht nur, warum die Welt so ist, wie es sie beschreibt, sondern auch, warum es selbst - dieses Denken - gar nicht anders sein kann als so, wie es ist.




Ja, ist sie denn nicht so, diese heutige Welt? Überhaupt nicht ist sie so. Es ist eine Welt, in der es ein Maß an Verbindlichkeit gibt wie noch nie in der Geschichte der menschlichen Kultur.

Keine Spätzeit, sondern viel eher eine Frühzeit: Der Eintritt der Menschheit in eine neue Epoche. Eine Epoche, in der die abendländische Kultur, und mit ihr die moderne Wissenschaft und Technologie, mit ihr die Demokratie und der Rechtsstaat sich weltweit ausbreiten und zugleich modifizieren - sich in dem Maß modifizieren, in dem das alles von anderen Kulturen absorbiert, also ihren eigenen Traditionen assimiliert wird.

Die Moderne ist nicht vorbei, sondern sie ist erst im Begriff, sich zu entfalten.

Wissenschaftler aus allen Teilen der Welt arbeiten erstmals an denselben Problemen. Sie verwenden dieselben Methoden und diskutieren dieselben Theorien, meist sogar in einer gemeinsamen Sprache - dem Englischen, der Lingua Franca unserer Zeit.

Die gesellschaftlichen Normen, die Verhaltensweisen der Menschen, die Umstände ihres Alltagslebens gleichen sich mit einer geradezu atemberaubenden Geschwindigkeit an. Sie sehen TV-Programme, die einander in der Ästhetik, in den Präsentationstechniken, zunehmend auch in den Inhalten immer mehr gleichen. (Man sehe sich das englischsprachige Programm des chinesischen CCTV9 an und vergleiche es mit CNN oder dem internationalen Programm der BBC). Und auch die politischen Systeme, die Rechtssysteme werden einander immer ähnlicher. Ein Rechtsphilosoph hat mir kürzlich erzählt, wie die chinesischen Juristen sich systematisch mit der Rechtsphilosophie der Aufklärung vertraut machen, um auf dieser Grundlage ein modernes Rechtssystem zu entwerfen.



Ja, der Aufklärung. Denn alle diese Konvergenzen sind ja Konvergenzen hin zu einer Gesellschaft, die auf den Prinzipien der Aufklärung basiert - auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als deren unmittelbarem Ausdruck; auf dem ungeheuren Aufschwung, den die Wissenschaft und die Technik seit dem 18. Jahrhundert genommen haben, als ihrer mittelbaren Folge.

Die Moderne ist nicht zu Ende. Sie hat gerade erst richtig begonnen. Warum also dieses postmoderne Geschwätz? Es ist, glaube ich, eine Begleitmusik, wie sie solche säkularen Umwälzungen oft begleitet: Die Reaktion derjenigen, die mit diesen Umwälzungen nicht zurechtkommen.

Der Übergang zur Neuzeit war vom Hexenwahn, von Exzessen der Inquisition, von Dunkelmännerei à la Cagliostro begleitet. Der Übergang in die globale Moderne wird heute von den Theorien der Postmodernen begleitet.