„Mantrana ist ein Flächen- und Raumdomino. Es wird mit Maximen gespielt. Sie seien ‚Steine‘ genannt. … Die Steine brauchen von ihrem Inhalt nach von den Mitspielern nicht anerkannt zu werden. Sie stellen Ansatzpunkte dar und sollen nur eine Reaktion hervorrufen … Die Steine haben die Form knapper Maximen, die Erfahrungen oder Ansichten ausdrücken. Sie sind in der Regel in einen Satz gefaßt. Ihr Umfang sollte kaum über drei Sätze hinausgehen. Sie sollen in sich selbständig sein, an sich verständlich und ohne polemischen Bezug.“
Ernst Jünger, „Mantrana. Einladung zu einem Spiel“ (1958)
Sprecher:
[A] Männlich, lebhaft, Bariton.
[B] Männlich. Baß, gravitätisch.
[C] Für Zitate. Weiblich, Alt, möglichst ohne Modulation. Ideal wäre die Sprachausgabe eines Textprogramms.
(Der Klangraum deutet eine akustische Isolierung an, als würde das Gespräch in einer Privatbibliothek oder einem Arbeitszimmer stattfinden. Gedämpfte Verkehrsgeräusche sollten unauffällig unterlegt werden, um „Kontur“ statt Ortlosigkeit zu erzeugen. Während der durch (***) angedeuteten kurzen Sprechpausen wird „das Geräusch fallender Blätter“ hörbar. Auftakt- und Abspannmusik sind die ersten Takte von Erik Saties „Gnossienne no 4.“)
Während die Musik nach ungefähr 30 Sekunden langsam ausgeblendet wird, wird links das Umblättern der Seiten in einem offenkundig größeren Buch hörbar (2-Sekundentakt). Von rechts nähern sich gedämpfte Schritte, dann leises Klopfen an einer Tür.
[A]: Wie passend, Sie zum Monatswechsel so zu finden. [Zitiert:] ‚Die Mönche mit haarigen Fingern schlugen das Buch auf: Oktober.‘ Darf man einmal sehen?
[B]: Bei Celan heißt es allerdings ‚September.‘ Non importa. Gemäß den Propheten unserer neuen Staatsreligion sind wir ja unterwegs zu Zuständen, bei denen kein Unterschied mehr auszumachen ist, weil ihnen allen gemeinsam ist, daß sie heißer und trockener und katastrophaler waren als alle bisherigen in den letzten 128.000 Jahren. Wie in der Kurzgeschichte von Steve Rasnic Tem, in der der menschengemachte Klimawandel die Unterschiede zwischen den Jahreszeiten völlig eingeebnet hat und der graue, stickig-neblige Dauerzustand mit „Twember“ bezeichnet wird.
[C] Jetzt war es September – oder hätte es zumindest sein sollen: mit dem Herbst, der sich ankündigte, aber noch ein paar ausgesprochen warmen Tagen. Aber die Bäume trugen kaum noch Blätter, und wie es aussah, hatten sie auch bislang keine getragen, und seit Wochen herrschte ein grau-weiß bezogener Himmel, ein gewaltiges formloses Leichentuch, das dicht über den Baumkronen hing – als ob die gesamte Welt eingemottet worden wäre. Er hätte es für die Wintersonnenwände gehalten, wenn er das Verstreichen der Tage nicht festgehalten hätte – worauf er penibel achtete. Jeden Tag blätterte mindestens einmal im Kalender und versuchte das, was er draußen sah, in Übereinstimmung mit den Jahreszeiten, an die er sich noch erinnerte, zu bringen – als ob er durch einen bloßen Willensakt wieder zur alten Normalität zurückkehren könnte. … Will hatte den Eindruck, als ob eine Art metaphysischer Infektion die Atome der Welt befallen hätte und in eine Geisterwelt verwandelte. „Twember,“ nannte seine Mutter diese neue Gleichförmigkeit: „es ist alles durcheinandergeraten, nichts Halbes und nichts Ganzes. Bald gibt es nur noch diesen Zustand. Es ist völlig egal, was man pflanzt: es sieht immer so aus, als wenn es verdorrt wäre.“
[B] Ich such‘ Ihnen den Text nachher mal ‘raus.
[A] Ich wollte nur den unvermeidlichen Rilke vermeiden: ‚Herr, es ist Zeit: …“
[B] (unterbricht ihn) … der Sommer war nicht groß:
Die Lausebengel drehen an den Uhren
Und auf den Fluren lassen sie die Winde los.
Befiehl den letzten Früchtchen, voll zu sein,
Gib‘ ihnen ein paar südlichere Tritte,
Das drängt sie zur Verblendung ihn. Ich bitte
Die letzte Süße heim zu schwerem Wein... Schon gut. Hier, nehmen Sie.
(Man hört, wie ein Buch zugeschlagen und über den Tisch geschoben wird. Dann von rechts, etwas lauter als vorher, erneut das Umschlagen der Seiten.)
[A] Hm …. Bassette, Biribi, Piquet, Primero, Quinze, Trappola, Whist – alte Kartenspiele, heute vergessen und verschollen wie nur irgendein Schlagersänger aus der Zeit der Schellackplatten. Pharaoh - hat damit nicht Casanova seinen Lebensunterhalt verdient? Wenn er nicht gerade einem Mäzen ein „Projekt“ andrehen konnte?
[B] Mit all diesen hochfliegenden Plänen ist der Chevalier de Seingalt – der er bekanntlich nicht war – nie auf einen grünen Zweig gekommen. Ob es nun die Einführung einer staatlichen Lotterie in Frankreich war – das erste Vorhaben, das er nach dem Ausbüxen aus den Piombi in Venedig in Angriff genommen hat – oder das Trockenlegen der Sümpfe in Polen: mit keinen davon ist er je auf einen grünen Zweig gekommen. Aber Sie haben recht: Casanova war zeitlebens ein passionierter Spieler und verdankt seine Existenz als ruheloser Wanderer quer durch Europa nicht zuletzt der Flucht vor seinen zahllosen Gläubigern, wenn ihn ein geschickterer Falschspieler als er selbst am Kartentisch bis aufs letzte Hemd ausgenommen hatte. Wie übrigens auch der Abbé de Bonneuil, der seinen Lebenswandel mit den Karten finanzierte.
[A] Des Teufels Gebetbuch … Gibt’s einen Anlaß, daß Sie sich damit befassen?
[B] Gibt es. Ihr Stichwort vom Monatsanfang: mir kam der Gedanke, ob es sich nicht lohnen würde, ein ebenso längst außer Gebrauch geratenes Gesellschaftsspiel neu aufzulegen, das sich sch-pezjell mit diesen Wochen verknüpft.
[A] Hmm. Lassen Sie mich raten: Aus Kastanien und Schwefelhölzchen Männchen bauen?
[B] Die letzten Kastanien sind hier vor zehn Tagen abgeregnet. Wenn auf die alten Bauernregeln Verlaß ist, steht uns ein knackiger Winter ins Haus.
[A] Drachen steigen lassen?
[B] Der letzte Knabe, den ich dabei auf einem Stoppelfeld gesehen habe, ist mir 2010 untergekommen. Am Aasee in Münster kapriziert man sich in dieser Hinsicht seit geraumer Zeit auf die Sommermonate. Nein, auch nicht.
[A] „Süßes oder Saures“?
[B] Das ist bekanntlich alles andere als eine vergessene Unsitte. Aber mit Ihrem Eingangssatz von Buchaufschlagen sind Sie der Sache schon näher gekommen. Was steht für diese Woche im Kulturkalender verzeichnet?
[A] Die Frankfurter Buchmesse?
[B] In diesem Jahr mit dem Landesschwerpunkt Philippinen. Entre nous: Auch einem eingefleischten Bücherwurm dürfte es nicht ganz leicht fallen, aus der Lamäng einen Autor zu nennen, der dort beheimatet ist. Mir selbst fällt da ad hoc auch nur Leoncio P. Deriada ein, dessen knappe Sammlung von Kurzgeschichten „Night Mares“ von 1988 mir vor Jahren ein Zufall in die Hände gespielt hat. Aber da muß ich Sie enttäuschen. Traditionell war es seit der Begründung 1949 immer so, daß die Buchmesse in der zweiten Oktoberwoche stattfand; und im nächsten Jahr, 2026, soll es wieder so gehalten werden. Aber seit dem Ausfall durch die „weytbeschrieene Pestilenz“ ist sie seit 2021 auf die dritte verlegt worden; auch diesmal. Die alte Platzierung hatte zur Folge, daß der Termin, den ich im Auge habe, auf den vorletzten Tag der Buchmesse fiel.
[A] Ah, jetzt weiß ich: der Nobelpreis für Literatur. Und stimmt: es war ziemlich lange Zeit wirklich ein Gesellschaftsspiel, reihum mögliche Kandidaten dafür zu nennen. Wann ist das eigentlich außer Gebrauch gekommen?
[B] Wie in solchen Fällen üblich, läßt sich da wohl kein fixer Termin angeben; es war wie üblich ein schleichender Prozeß. Mit der Auszeichnung an Bob Dylan 2016 ist er aber wohl zum Abschluß gekommen: was, ein bloßer Liedermacher!? Ich kann mich nicht erinnern, seitdem von solchem Name Dropping gehört zu haben. Aber ich lese auch seit gut zwei Jahrzehnten keine Zeitungen mehr; nicht einmal die Literaturbeilage der FAZ aus diesem Anlaß. Vielleicht ist mir da etwas entgangen. Den Anfang dürfte wohl die Verleihung an Dario Fo 1997 gemacht haben. Sie sind ja auch schon etwas länger dabei: vielleicht erinnern sie sich noch an die Häme von Reich-Ranicki und Konsorten im „Literarischen Quartett,“ demnächst würde dann sicher wohl der „Komödienstadl“ damit bedacht. Auch der Skandal um den ersten chinesischen Preisträger, Gao Xingjian, drei Jahre später, dürfte sich hier ausgewirkt haben, zum einen, weil es sich um einen Autor handelte, von dem nicht einmal Sinologen gehört hatten; vor allem aber, weil sein schwedischer Übersetzer Göran Malmquist eins der 18 Mitglieder des Svenska Akademien ist, die den Preis vergibt – und keine zwei Wochen vorher mit seinen Übersetzungen zu einem anderen Verlag gewechselt hatte und der nicht ganz unbegründete Verdacht im Raum stand, hier sollte den bescheidenen Umsatzzahlen für einen literarischen Nobody aufgeholfen werden.
[A] Könnte es auch damit zu tun haben, daß so viele der Preisträger der letzten, sagen wir 25, 30 Jahre ziemlich überraschend kamen? Das spricht natürlich nicht gegen diese Autoren. Ich selber nehme das immer noch regelmäßig als Stichwort, um einmal einen Blick auf Person und Werk zu werfen. Und das heißt im Umkehrschluß dann eben auch, daß sie mir bislang nicht – oder nicht sonderlich – vertraut waren. Im Fall von Olga Tokarczuk kann ich offen zugeben, daß ihre Bücher für mich „eine Entdeckung“ dargestellt haben. Aber ich liege sicher nicht falsch mit der Annahme, daß die wenigsten Leser, zumindest außerhalb ihrer Heimat, Namen wie Louise Glück, Abdrulrazak Gurnah, Annie Ernaux, Jon Fosse, Han Kang oder eben Tocarczuk für diese Auszeichung „auf dem Schirm“ hatten.
[B] Das ist allerdings ein Phänomen, das seit der ersten Preisverleihung vor 124 Jahren mit dem Nobelpreis verbunden ist. Bedenken Sie, daß in keiner der anderen Kategorien ein solches Rätselraten stattfindet. Als Saul Perlmutter 2010, Roger Penrose 2020 oder Anton Zeilinger 2022 für ihre Verdienste im Bereich Physik ausgezeichnet worden sind, war das für Fachleute und interessierte Laien, die die Entwicklungen in diesen Fächern in den letzten Jahrzehnten verfolgt haben, keine Überraschung – aber es wurden im Vorfeld keine Wetten abgeschlossen. Ich denke, diese Aufladung verdankt sich nicht zu einem geringen Teil dem Umstand, daß über einen längeren Zeitraum dieser 124 Jahre – der etwa vier Jahrzehnte und vor allem die unmittelbare Nachkriegszeit umfaßt – viele Autoren bedacht worden sind, die zum einen schon eine große Leserschaft vorweisen konnten und es zum anderen tatsächlich in den Rang eines immer noch gelesenen „modernen Klassikers“ geschafft haben – denken Sie nur an Namen wie Hemingway, Faulkner, Thomas Mann, Hermann Hesse, Camus, Samuel Beckett, Solschenizyn, Heinrich Böll oder Gabriel García Márquez. Nun ist es ja nicht so, daß diese Auszeichnung dem so Bedachten automatisch literarische Unsterblichkeit verleiht – mal vom Auftauchen als Eintrag in den entsprechenden Namenslisten abgesehen. Sehen Sie sich das davorliegende erste Drittel nur einmal an: Welche Namen sind davon noch heute „ein Begriff“ - geschweige denn die Werke der Betroffenen – oder auch nur eins davon? Wer kennt überhaupt noch die Namen: Rudolf Eucken José Echegaray, Giosuè Carducci, Henrik Pontoppidan, Jacinto Benevente, Erik Axel Karlveldt? Karl Gjellerups „Pilger Kamanita“ mag vor einem guten Jahrhundert vielleicht für pubertierende Sinnsucher die erste Tuchfühlung mit den Vorstellungen des Buddhismus dargestellt haben -
[A] Nur für den deutschsprachigen Raum. Im Englischen dürfte das eher Edwin Arnolds „The Light of Asia“ dreißig Jahre davor geleistet haben.
[B] Richtig. Aber heute sind Werk und Verfasser so ins Nirwana eingegangen, wie es das Ziel der Glaubenslehre ist, die diese Bücher einen breiten Lesepublikum erschließen wollten.
[A] Hans Pleschinski hat sich in seinem vorletzten Roman, „Am Götterbaum“ von 2021, ja immerhin an einer Ehrenrettung von Paul Heyse, Preisträger des Jahres 1910, versucht.
[B] Als passionierter Wahlmünchner. Und Pleschinski hat ja ein ausgespochenes Fiable für rettungslos Verschollene. Denken Sie nur an den „Holzvulkan“ von 1986: sein Capriccio über den Herzog Anton Ulrich von Wolfenbüttel und vor allem sein Prunkschloß Salzdahlum, eine Anlage, die dem Versailles des Sonnenkönigs Konkurrenz machen sollte und in Ermangelung von finanziellen Ressourcen komplett in dachwerksbauweise und in Gips ausgeführt wurde: „Die größte Holzmonstrosität Europas.“
[A] Wobei mir einfällt, daß wir uns gerade einen bundesdeutschen Sonnenkönig leisten, der sich bei Gelegenheit der fälligen Restaurierung von Schloß Bellevue für die nächsten fünf Jahre einen Holzbau spendiert, auf den diese Bezeichnung wohl auch passen würde.
[B] Immer langsam mit den jungen Pferden. Die Kosten für Steinmeiers Ausweichquartier mit seinen 160 Büros - die letzte Instandsetzung von Bellevue wurde übrigens erst 1998 abgeschlossen! - wird den deutschen Steuerzahler 205 Millionen Euronen kosten. Mindestens. Die Baukosten für Schloß Salzdahlum zwischen Braunschweig und Wolfenbüttel beliefen sich für den Zeitraum zwischen 1688 und 1694 auf insgesamt 55.000 Reichstaler. Mir ist schon klar, daß ein halbwegs genauer Vergleich von damals zu heute aufgrund der völlig anderen Umstände bei Löhnen und Materialien nicht möglich ist – denken Sie an das völlige Fehlen von Kraftmaschinen! Aber selbst wenn ich die in der Literatur oft zu findende Kaufkraftrelation von 1 Rth. = 100 € verdopple, komme ich im Fall des Herzogs auf einen Betrag von höchstens 11 Millionen Euro.
[A] Mir fällt hier gerade die bekannte Anekdote über Friedrich den Großen ein: Als der Senat von Berlin die Chaussee nach Sanssouci instandsetzen ließ – nach unseren Begriffen nur ein besserer Feldweg! - und dabei zur Orientierung einen hölzernen Wegweiser an einer Weggabelung aufstellen ließ, beging er den Fehler, die Kosten dafür der höfischen Schatulle in Rechnung zu stellen. Woraufhin Seine Majestät umgehend mit einem geharnischten Schreiben reagierte: „Ich kenne den Weg und muß ich mir den Berliner Senat vor ein großes Beest halten, mich mit so ungereimtes Zeug bei die Neese kommen zu wollen!“
[B] Lange her, daß an der Spree solch ein Wind der Bescheidenheit wehte. Auch in diesem Fall dürfte der klare Endpunkt der Entwicklung leichter dingfest zu machen sein als den Beginn: das erste markiert der Bau der Berliner Siegesallee unter Willem Zwo zwischen 1895 und 1901 mit seinen 32 klotzigen Figurengruppen, vom Volksmund und im „Simplicissimus“ auch gern als „Puppenallee“ verspottet. Der Beginn dieser unästhetischen Renommiererei dürfte mit dem Beginn der Gründerzeit nach dem Überwindung der ersten Weltwirtschaftskrise von 1873 zusammenfallen, also gegen Ende der siebziger Jahre; bei Fontane können sie dazu einiges etwa bei Effis Wohnungssuche in der neuen Reichshauptstadt nachlesen. Aber wir kommen vom Thema ab.
[A] Wobei… Stichwort: „Heyse.“ Arno Schmidt, geistiger Schirmherr und Spiritus rector dieses Netztagebuchs -
[B] (unterbricht ihn scharf:) Verzichten Sie bitte darauf, die Vierte Wand zu durchbrechen! Und überlassen Sie solche Sperenzien der Postmoderne. Was nicht zuletzt einer der Gründe sein dürfte, warum notorisch genannte Anwärter auf den Nobelpreis von Thomas Pynchon oder Don DeLillo wohl bis an ihr Lebensende leer ausgehen werden: ein solches Spiel-mit-literarischen-Vexiersteinchen, gewissermaßen Literatur irgendwo zwischen Wolkenschieberei und Varieté angesiedelt, widerspricht dem erklärten Ziel, etwas Grundlegendes über die eigene Zeit oder die menschliche Natur mitteilen zu wollen, denn doch zu sehr.
[A] Gut; ich werde mich dran halten. Arno Schmidt also hat ja im Hinblick auf den Nobelpreis vom „Stigma der Mittelmässigkeit“ gesprochen und eben Heyse als Beispiel für die Fehlgriffe des Kommittees genannt.
[C] Drei Proben (anstatt vieler) mögen die Urteilsfähigkeit - in secunda Petri klingt höflich-geheimnisvoller – des für die Verteilung verantwortlichen Gremiums belegen :
1905 erhält ihn Sienkiewicz : jaja, ganz recht : Quo Vadis grellsten Angedenkens : dann hätte man ihn genauso gut Karl May geben können !
1910 Paul Heyse : haben Sie jemals Zuckerwasser getrunken ?
1955 Sir Winston Churchill : Gewiß ; stofflich von hohem politischen Interesse (obwohl man ihn auch da durchaus mit Handschuhen lesen muß !); ansonsten ein ausgesprochener Journalist von Mittelmaß. (Wenn man ihm meinetwegen noch den berüchtigtenzuerkannt hätte ; der Vater Englands, der Stiefvater Europas – obwohl man nie vergessen sollte, daß eben er der Erfinder der Oder=Neiße=Linie gewesen ist !).
[A] Wobei, Stichwort … so ganz abzustreiten ist es ja wohl nicht, daß gar nicht so selten auch politische Zeitumstände diese Vergabe beeinflussen?
[B] Es hat zumindest öfters den Anschein – wenn auch anders, als Schmidt es hier anklingen läßt. Der erste Fall dieser Art dürfte William Butler Yeats gewesen sein: 1923. Jedenfalls hat es Yeats selbst so gesehen. Nach der Ratifizierung des Anglo-Irischen Vertrags durch das irische Parlament im Januar 1922 und damit der Unabhängigkeit der Insel vom britischen Königreich wirkte das wie eine internationale Anerkennung, eine Aufwertung der irischen Kulturtradition. Die Verleihung an Hermann Hesse im Oktober 1946 dürfte nicht zuletzt ein Signal gewesen sein, daß weder die deutsche Sprache noch die deutsche Kultur für die Verbrechen und die Barbarei der Nazis unter Kuratel gestellt wurde; bei Boris Pasternak, der aufgrund des aus der Sowjetunion geschmuggelten Manuskripts des „Doktor Schiwago“ 1958 ausgezeichnet wurde (er mußte bekanntlich auf Druck der Regierung die Annahme ablehnen), war es eine Anerkennung der im Untergrund entstandenen Literatur der Dissidenten. Johannes V. Jensen, dessen Hauptwerk, der fünfbändige Romanzyklus „Den lenge rejse“ in ekstatischer Expressionistenprosa den „Aufbruch der Menschheit zu immer neueren Ufern“ von der Eiszeit bis zu Kolumbus in ziemlich holzschnittartiger Machart ausmalt und der heute so vergessen ist wie der schon erwähnte Gjellerup, hat ihn 1944 mit Sicherheit nicht aufgrund der literarischen Qualitäten seines Schaffens erhalten, sondern das Komitee wollte damit zeigen, daß das von den Deutschen besetzte Dänemark und seine Kultur nicht vom neutralen Schweden – und damit dem Rest der Welt - vergessen worden war. Ähnliches gilt für das Jahr 1939, als Frans Eemil Sillanpää deshalb anderen vorgezogen, weil das Komitee seine Solidarität mit dem bedrohten Finnland zum Ausdruck bringen wollte – was eine ungewollte Ironie zur Folge hatte.
[A] Klären Sie mich auf: fing der Winterkrieg nicht erst NACH der Vergabe an?
[B] Die Invasion der sowjetischen Truppen begann tatsächlich erst am 30. November. Aber die Ereignisse in Polen standen natürlich jedem klar vor Augen, und die UdSSR hatte seit Mitte 1938 ihren unbedingten Anspruch auf die östliche finnische Provinz Karelien immer wieder betont. „Verhandlungen“ darüber waren Ende 1938 ergebnislos zu Ende gegangen, gefolgt von einer Mobilmachung auf beiden Seiten.
[A] Und welche Ironie wäre das?
[B] Nun: unter den 33 Namen, die in jenem Jahr als Vorschlag beim Komitee eingereicht wurden, fand sich neben dem von Hesse und solch bekannten wie Benedetto Croce (chancenlos, weil Vertreter des faschistischen Italiens), Hans Fallada (chancenlos, weil Vertreter des Dritten Reichs) und Paul Valéry auch der einzige Niederländer, der es bislang auf diese Vorschlagslisten geschafft hat: Johan Huizinga, der Verfasser von „Herbst des Mittelalters“ und „Homo Ludens“ (vorgeschlagen von vier Mitgliedern der Koninglijke Akademie van Wetenschapen der Niederlande) – dessen Werke auch heute noch bekannter sein dürften als Sillanpääs Milieuschilderungen des armseligsten Landlebens – und damit die niederländische um die einzige Chance auf diese - damals wenigstens – weltweit geachtete Nobilitierung gebracht hat.
[A] Eine gewisse, na: nationalistische Aufladung ist dabei ja nicht zu übersehen.
[B] Noch weniger als bei der Beinflussung durch die politischen Zeitumstände. Wer einmal mitbekommen hat, wie stolz etwa Kolumbianer auf die Ehrung ihres Landsmanns García Márquez sind („endlich einmal etwas, für das unser Land bekannt ist als nur Drogenhandel und Bandenkriege!“), die Japaner auf die Verleihung an Yasunari Kawabata 1968, die Lateinamerikaner insgesamt für die Anerkennung ihrer Literatur in Gestalt von Gabriela Mistral 1945 – lange vor dem „Boom“ von dortigen Autoren wie Pablo Neruda, Borges, Miguel Angel Asturias, Mario Vargas Llosa oder Julio Cortazar (diese Liste umfaßt drei weitere Nobelpreisträger) in den 1960er Jahren! – erkennt das sofort.
[A] Derek Walcott als Vertreter der Karibik nicht zu vergessen. Oder Han Kang, die erste Koreanerin. Arno Schmidt schrieb ja in Hinblick auf den ersten indischen Preisträger, Rabindranath Tagore: „Frau Wirtin hat‘ auch einen Inder…“
[B] Man läuft Gefahr, die Bekanntheit solcher Literaturen – nennen wir sie einmal, durchaus zu Unrecht, „randständig“ – aus dem Abstand von Jahrzehnten, falsch einzuschätzen. Als etwa Friedrich Dürrenmatt Mitte der sechziger Jahre gebeten wurde, für die deutsche Übersetzung eines japanischen Romans ein Vorwort zu schreiben – ich meine, es hätte sich um Yasushi Inoues „Das Jagdgewehr“ gehandelt, kann mich aber, Jahrzehnte nach meinem damaligen Zufallsfund, durchaus irren – hat er die vier Seiten damit gefüllt, sich schwer zu wundern, daß es in Japan „überhaupt moderne Literatur“ gebe. Für ihn begann die Modernisierung des Landes erst mit der Niederlage und Besetzung von 1945; der einzige ihm bekannte japanische Text, der ihm einfällt, ist „Die Geschichte des Prinzen Genji“ von Murasaki Shikibu (dessen Abfassung immerhin vor das Jahr 1021 – oder 後一条天皇5年 - fällt). Von den Namen der Klassiker der frühen „bürgerlichen“ Literatur wie Mori Ogai, Natsume Soseki oder Kenji Miyazawa hatte er niemals gehört. Es kommt aber noch ein Aspekt hinzu. Mitunter hat es den Anschein, daß eben die gerade genannten Zeitumstände in Sachen einer Verleihung (oder Nicht-Verleihung) durchaus den Ausschlag geben. Bei der Vergabe an Nadine Gordimer 1991 dürfte ich nicht der einzige gewesen sein, der den Eindruck hatte, „eigentlich“ bei wesentlich bekanntere und von Kritikern höher gelobte Doris Lessing „gemeint gewesen“ – daß aber Gordimers Herkunft aus Südafrika im Zeichen der damals in herrschenden Apartheid den Ausschlag beim Kriterium „Frau plus Afrika“ vor Lessings Heimat Rhodesien (ein längst abgetaner Fall) gegeben hätte. Ebenso im Fall von Wisława Szymborska 1996, deren Gedichte zur Zeit der Verleihung jedem außer Slawisten wie Karl Dedecius bei uns völlig unbekannt waren. Wenn es in den 1980er und 90er Jahren einen polnischen Lyriker gegeben hat, den man als Anwärter auf den Nobelpreis ohne Umschweife genannt hätte, wäre das mit Sicherheit Zbigniew Herbert gewesen. Nur: zu dieser Zeit war Herberts letzter Gedichtband, der in Übersetzungen auf Deutsch, Englisch und Französisch vorlag, „Raport z oblężonego Miasta i inne wiersze“ (1983 auf polnisch in Paris gedruckt), dessen Titelgedicht, „Bericht aus einer belagerten Stadt“ jeden Leser unmittelbar an die Bilder des belagerten und beschossenen Sarajewo – vielleicht erinnern Sie an die Bilder der niedergeschossenen Passanten aus der „Sniper’s Alley“? - gemahnen mußten und die jahrelange beschämende Untätigkeit des Westens, dieser Barbarei zügig ein Ende zu setzen.
[C] bin zu alt um Waffen zu tragen zu kämpfen wie die andern
man bestimmte mir gnadenhalber den niederen Part des Chronisten
ich notiere - wer weiß für wen - die Ereignisse der Belagerung
genau soll ich sein doch ich weiß nicht wann der Überfall anfing
vor zweihundert Jahren Dezember September vielleicht ganz früh
alle kranken wir hier am Schwinden des Zeitgefühls
geblieben ist nur der Ort und die Anhänglichkeit an den Ort
noch besitzen wir Tempelruinen Phantome von Gärten und Häusern
verlieren wir die Ruinen bleibt nichts zurück
ich schreibe wie ichs vermag im Rhythmus endloser Wochen
Montag: die Lager sind leer zur Umlaufeinheit wurde die Ratte
Dienstag: der Bürgermeister ermordet die Täter sind unbekannt
Mittwoch: Waffenstillstandsgespräche der Feind interniert die Gesandten
man weiß nicht wo sie geblieben sind kennt den Ort ihrer Hinrichtung nicht
Donnerstag: Antrag der Pfeffersäcke bedingungslos zu kapitulieren
nach stürmischer Volksversammlung mehrheitlich abgelehnt
Freitag: Beginn der Pest Samstag: der unbeugsame Verteidiger N.N. beging Selbstmord
Sonntag: kein Wasser wir haben den Sturm auf das Osttor - genannt das Tor der Allianz - abgewehrt
ich weiß das klingt monoton keinen vermag's zu bewegen
...
die Belagerung dauert lange die Feinde lösen einander ab
nichts verbindet sie außer dem Trachten nach unserem Untergang
Goten Tartaren Schweden rotten des Kaisers das Heer der Verklärung des Herrn
ich weiß das klingt monoton keinen vermag's zu bewegen
...
die Belagerung dauert lange die Feinde lösen einander ab
nichts verbindet sie außer dem Trachten nach unserem Untergang
Goten Tartaren Schweden Rotten des Kaisers das Heer der Verklärung des Herrn
wer kann sie zählen
Standarten wechseln die Farben wie die Wälder am Horizont
zart vogelgelb im Frühling dann grün und rot bis zur Schwärze des Winters
so kann ich am Abend von Fakten entlastet denken
an einige Dinge zum Beispiel an unsere
Verbündeten hinter dem Meer ich weiß ihr Mitleid mit uns ist ehrlich
sie schicken Säcke Mehl Säcke voll Zuversicht Fette und guten Rat
und wissen gar nicht daß ihre Väter uns verraten haben
die Unsrigen waren Alliierte zur Zeit der zweiten Apokalypse
die Söhne sind schuldlos verdienen Dank also danken wir ihnen
eine Belagerung lang wie die Ewigkeit haben sie nicht erlebt
die vom Unglück Berührten sind immer allein
die Verteidiger des Dalai-Lama die Kurden das Bergvolk Afghanistans
jetzt da ich dies hier schreibe haben die Freunde des Kompromisses
ein wenig Übergewicht gegenüber den Unentwegten
das übliche Schwanken der Stimmung das Schicksal ist noch in der Schwebe
die Friedhöfe wachsen die Zahl der Verteidiger schrumpft
doch der Widerstand hält und wird bis zum Ende währen
und wenn die Stadt fällt und ein einziger überlebt
wird er die Stadt in sich auf dem Pfad der Verbannung tragen
er wird die Stadt sein
wir schauen ins Antlitz des Hungers ins Antlitz des Feuers des Todes
und ins ärgste Gesicht von allen - in das des Verrats
und nur unsere Träume sind nicht gedemütigt worden
(***Gong***)
[A] Aber um auf unser eigentliches Thema zurückzukommen: Sie gedenken also, hier und jetzt ein paar Namen für die anstehende Verleihung in den Ring zu werfen? Und das, obwohl Sie ja ganz richtig erwähnt haben, daß niemand die Kandidaten der letzten Jahre „auf dem Schirm“ gehabt hat?
[B] Genau das. Ich brauche natürlich nicht zu betonen, daß dies ein völlig freischwebendes Lesen im sprichwörtlichen Kaffeesatz ist – das Kaffeehaus als Brutstätte der Literatur ist auch so eine Institution, die der „Furie des Verschwindens,“ um es mit Enzensberger zu sagen, zum Opfer gefallen ist – bei der die Trefferwahrscheinlichkeit gegen Null tendiert. Ein Spiel eben. Vorauszuschicken wäre, daß der Nobelpreis bekanntlich nur an Lebende verliehen werden kann. Erik Axel Karlfeldt, dessen Name ja vorhin schon fiel, bildet hier die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigt. Die Statuten verbieten dies nicht ausdrücklich, und die offizielle Begründung lautete vor 94 Jahren, daß die Nominierung – durch den Erzbischof von Uppsala ja immerhin vor seinem Tod, ein halbes Jahr vor der Preisvergabe, erfolgt sei. Das zweite ist, daß, wie Sie gerade sagten, die „üblichen Verdächtigen“ ziemlich chancenlos scheinen. Für so manche, wie die in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder genannten John Updike und Philip Roth, trifft beides zu. Insofern dürfte es auch Haruki Murakami, ebenfalls seit Jahrzehnten ein Dauerabonnent, auch in diesem Jahr nicht treffen. Und ein Gleiches gilt für die immer wieder genannten Ungarn Péter Nádas und László Krasznahorkai. Nicht, daß ihre Wahl jetzt überraschend käme oder unverdient wäre. Aber so sehen nun einmal meine Kriterien aus.
[A] Salman Rushdie? Joyce Carol Oates? Margaret Atwood?
[B] In Rushdies Fall dürfte sich das Komitee eher in eine Nebelwolke des Bedenkentragens hüllen. Preisen Sie ein, daß in diesem Fall Rushdie, aus Sicht eines Großteils der Medien und der Öffentlichkeit, für ein einziges Werk ausgezeichnet würde, dessen Veröffentlichung vor 36 Jahren ja für einige Verstimmung – höflich formuliert – in bestimmten Teilen der Welt gesorgt hat. Nachdem Rushdie erst vor drei Jahren den Mordversuch auf offener Bühne im amerikanischen Bundesstaat überlebt hat, dürfte die Neigung, hier „schlafende Hunde zu wecken,“ begrenzt sein. Die offene Solidarität nach der Fatwa Khomeinis 1989 fand statt, bevor als an sämtlichen Straßenecken des Westens aussah wie in Daressalam. Glauben Sie, daß heute noch eine Zeitung den Mut hätte, die berüchtigten Karikaturen des Propheten aus der „Jyllands-Posten“ abzudrucken, und damit tobende Aufstände vor der eigenen Haustür zu riskieren? Wenn Sie in den letzten Monaten die „tatkräftige Unterstützung“ der rechtgeleiteten Mengen für die „Sache der Palästinenser“ auf den Straßen Berlins und andernorts verfolgt haben, dürfte die Antwort klar sein.
[A] Und die beiden anderen Namen?
[B] Tja, wie soll ich sagen? Sowohl Oates als auch Atwood haben sich in den letzten 20 Jahren – im Fall von Oates auch schon wesentlich länger – auf Tätigkeitsfelder kapriziert, die man gemeinhin als Genreliteratur bezeichnet – und die in Sachen „literarischer Satisfaktionsfähigkeit“ gemeinhin einen Todeskuß darstellen. Bei Atwood ist das die Science Fiction, ab „Oryx and Crake“ von 2003. „The Handmaid’s Tale“ aus dem Jahr 1985 konnte noch als unbedenklich durchgehen, als Dystopie, als Warnung vor den Gefahren eines primitiv-fanatischen Christentums, gestrickt auf den Schnittmusterfolge von George Orwell. Natürlich hat sie versucht, sich vor der Einordnung als „Genreautorin“ zu drücken: „Ich schreibe keine Science Fiction, ich schreibe spekulative Literatur. Science Fiction: das bedeutet Monster und Raumschiffe, spekulative Literatur beschäftigt mit dem, was tatsächlich eintreten könnte. ‚Oryx and Crake‘ gehört zur spekulativen Literatur. Es kommt dort keine intergalaktische Raumfahrt vor, keine Teleportation, keine Marsmenschen“ und hat in einem Interview die SF als „quatschende Tintenfische im Weltraum“ abgetan – was ihr passionierte Parteigänger des Genres bis heute tief verübeln.
[A] Doris Lessing scheint der Tauchgang in diese ‚Untiefen‘ in den fünf Bänden der Shikasta-Trilogie aber nicht geschadet zu haben.
[B] Das lag wahrscheinlich schlicht daran, daß niemand sich durch diese endlosen unfokussierten Letternwüsten gequält hat und dieses Kuddelmuddel von Dimensionspringen und dynastischem Heckmeck noch als „phantasmagorische Allegorie“ abgelegt werden konnte – nach dem Vorbild ihres ersten Stücks dieser Machart, „Briefing for a Descent into Hell“ aus dem Jahr 1971. Zudem stand diesen Alterssünden das „Goldene Notizbuch“ von 1962 gegenüber, das es ja in den sechziger Jahren zu einer Art Bibel der Frauenbewegung gebracht hat. Und bei Joyce Carol bleibt bei der Durchsicht ihres nun wirklich gruslig umfangreichen Oeuvres – seit 1963 hat sie es auf 58 Romane gebracht, und bis heute auf weit über 800 Kurzgeschichten, gesammelt in stattlichen 47 Bänden – daß sie sich spätestens seit der Publikation der Sammlung „Night-Side“ von 1977 hauptsächlich neben den verquälten Psycho- und Familiendramen in der amerikanischen Mittelschicht, mit denen sie ihren Ruf begründet hat, auf Texte beschränkt hat, die zwischen den Genres „Horror“ und „Krimi“ angesiedelt sind, mit zahllosen Veröffentlichungen in den einschlägigen Genremagazinen wie „Alfred Hitchcock’s Mystery Magazine“ oder „Ellery Queen’s.“
[A] Wie ich Sie kenne, haben Sie aber sicher nicht nur Ablehnungsbescheide anzubieten, sondern einen kleinen Strauß mit Namen von Kandidaten, den Sie auffächern könnten.
[B] Ja – und nein. Drei Namen hätte ich, die es bei mir in die Endauswahl geschafft haben, und es handelt sich nicht um die „üblichen Verdächtigen.“ Eigentlich sind es sogar vier. Aber bei den ersten drei muß ich gleich den Rotstift ansetzen, aus Gründen, von denen ich einige bereits genannt habe.
[A] Um eins noch vorab zu klären: Sie haben vorhin die nationale Komponente erwähnt. Es gibt ja nun eine ganze Reihe russischer Preisträger, die meisten davon, wie gemäß der Geschichte des Landes seit der bolschewistischen Machtergreifung nicht anders zu erwarten, aus den Reihen der Dissidenten oder Emigranten …
[B] Ja, die Stellvertreterfunktion. Mit der Auszeichnung von Iwan Bunin sollte 1933 die gesamte „weiße Emigration“ geehrt werden.
[A] … und mit Swetlana Alexijewitsch ist vor zehn Jahren dann auch die weißrussische Literatur „bedacht worden.“
[B] Ich hatte eher den Eindruck, daß in diesem Fall das Augenmerk auf dem Metier lag: auf der Beschreibung von Korruption, politischem Machtmißbrauch, kurz: der Reportage, dem Journalismus, wie er einmal gemeint war. Und ein Land wie Lukaschenkas Korruptistan, ausgelaugt und ohne Aussicht auf eine bessere Zukunft, ein Wurmvorsatz von Putins Gnaden, bietet sich hier natürlich an.
[A] Also eher „stellvertretend“ für die Carl Bernsteins, Bob Woodwards – Stichwort „Watergate“ - und Studs Terkels dieser Welt?
[B] Da Alexijewitschs bekanntestes Buch ja die Schilderung der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl aus der Sicht von zahllosen Zeitzeugen ist, könnten Sie auch John Herseys „Hiroshima“ von 1946 nennen können. Das Buch prägt die Sicht der Welt auf den Atombombenabwurf über Japan ja bis heute. In den USA gibt es dafür solche Reportagen den Pulitzerpreis – aber naturgemäß beschränkt sich das auf US-amerikanische Belange, oder solche, die sie direkt tangieren. Ob eine solche „weltweite Nobilitierung,“ die ja mit dem Nobelpreis, wie schwach auch immer, verbunden ist, oder zumindest einmal war, bezweifle ich. Das Fach – „Genre“ klingt denn doch zu abschätzig – ist zu eng an die ganz speziellen Skandale gebunden, an die lokalen Verhältnisse.
[A] Worauf ich hinauswollte: da die Ukraine nun einmal seit jetzt mehr als drei Jahren im Fokus der Weltöffentlichkeit steht – glauben Sie, daß das Stockholmer Komitee sich dieses Jahr für einen Autor aus der Ukraine entscheiden könnte? Auch auf die Gefahr hin, daß einer solchen Wahl ein leichter Hautgout von Opportunität, „kostenfreier Solidaritätsbekundung“ anhaften würde? Beim ESC vor drei Jahren, als dieses ukrainische Rap-Stück die meisten Punkte erhielt, hatten ja nicht wenige Kommentatoren diesen Eindruck. Nicht, daß die beiden Preise jetzt auf Augenhöhe setzen möchte. Aber trotzdem …
[B] Sie werden lachen. Aber als ersten Namen auf meiner Liste hatte ich tatsächlich eine Lyrikerin aus der Ukraine: Lina Kostenko. Wenn es so etwas wie Gerechtigkeit im „Bestiarium der modernen Literatur“ geben sollte, dann würde ihr der Preis zustehen. Nicht nur wegen der Qualität ihrer Gedichte – auch weil sie für den Kampf gegen die staatliche, in diesem Fall die sowjetische Zensur steht – 16 Jahre lang, von 1961, als sie ihren dritten Gedichtband herausbrachte, bis 1977, hatte sie Publikationsverbot – sondern auch, weil sie so etwas wie die „Stimme der Ukraine“ ist. Und nicht zuletzt, wir es schon erwähnt, weil mit dem Nobelpreis nur Lebende ausgezeichnet werden können.
[A] Was ja der Grund ist, warum etwa Kafka oder Proust leer ausgegangen sind. Sie sind gestorben, bevor ihr Werk als Ganzes veröffentlicht wurde oder von den Mitgliedern des Komitees gewürdigt werden konnte.
[B] Rilke wäre an dieser Stelle auch noch zu nennen. Ein gutes Stichwort. Kostenko ist in diesem März 95 Jahre geworden. NOCH gibt es die Gelegenheit, sie zu ehren. Aber leider sehe ich keine Chance, daß das auch passieren wird. Den Grund haben Sie gerade genannt: die Kenntnisnahme durch das Preiskomitee. Darauf hat Arno Schmidt, um auf ihn zurückzukommen, ja schon vor fast 60 Jahren verwiesen.
[C] Man kann, ganz einfach, den nicht würdigen, den man nicht versteht ! Wenn ein Ausländer also liest : » Durch die Büsche winden Augen tauchen blaken sinken Flüstern plätschert Blüten gehren Winde schneller prellen schnellen Fäden schreckt in tiefe Nacht« - dann muß er, den ‹Webster› (oder wie das Ding auf Skandinavisch heißt) vor der Nase, ewig tüfteln, ehe er eine ungefähre Vorstellung von dem bekommt, was der Dichter solchermaßen hinzauberte. Dagegen Churchill ?! : übersetzt sich doch wunderbar einfach ; und Jeder kann an dem fabelhaft interessanten Stoff teilhaben … Oder, in Einfachdeutsch : was sich gut übersetzen läßt, kriegt’n Preis! (Und das ist eben auch der Grund, warum die Skandinavier so unproportionierlich hohen Anteil am Preise haben : *das* verstehen sie, die Herren schwedischen Verteiler !).
[A] Hier August Stramm als zweitklassigen Arno-Holz-Stimmenimitator in den Zeugenstand zu rufen, scheint mir etwas riskant. Nun gut: ich sehe Schmidt einmal nach, daß für ihn die Begegnung mit den exaltierteren Vertretern des Expressionismus mit ihrem „O Mensch!“-Pathos, und das zur Zeit der beginnenden offiziellen Blubo-Dumpfheit, DAS Initiationserlebnis war, das ihn geprägt hat. Aber in der Sache hat er wohl nicht ganz unrecht.
[B] Ukrainische Lyrik ist kaum in westliche Sprachen übertragen worden. Letztendlich liegt das daran, daß bis zur Unabhängigkeit 1991, oder jedenfalls bis zur Renaissance des Ukrainischen als Literatursprache in den frühen 1980er Jahren, auch für viele Slawisten – die in diesem Fall ja dazu neigten, die offizielle sowjetische, die russische Sicht zu übernehmen – das Ukrainische als eine Art Provinzdialekt galt, das sich zum Russischen verhielt wie das Plattdeutsche zum Hochdeutschen: eher etwas für Bauerntheater, nicht für anspruchsvolle Verse. Wenn in den letzten sagen wir 25, 30 Jahren ukrainische Lyrik übersetzt worden ist, wenn war das gewissermaßen „Beifang“ – etwa von Juri Andruchowytsch oder Serhij Schadan, die aber wegen ihrer Prosawerke übersetzt und rezipiert worden sind – und die zudem natürlich ganz das Idiom der Gegenwartslyrik verwenden: Kurzverse, reimlos, meist mit Verzicht auf ein strenges metrisches Schema. Von den Dichtern der ukrainischen Avantgarde der zwanziger und dreißiger Jahre, der „Ermordeten Renaissance,“ wie Mychajlo Bojtschuk, Mykola Chwylowyj, Walerjan Polischtschuk oder Bohdan Ihor-Antonytsch, dessen Gedichtband „Das grüne Evangelium“ in der modernen ukrainischen Literatur etwa die Stellung einnimmt, die A. E. Housmans „A Shropshire Lad“ im Englischen zukommt, gibt es praktisch keine Übertragungen in westliche Sprachen. Und das gilt auch für Kostenkos Gedichte, die sich an strenge Strophenform und Reim halten. Von ihr ist auf Deutsch vor vier Jahren, 2021, beim Wiener Kleinverlag Wieser, eine schmale Auswahl mit 60 Nachdichtungen von Alois Woldan erschienen (der maßgebliche Auswahlband aus ihrem Oeuvre, 2011 in Kyjiw erschienen, „Триста поезій,“ umfaßt, wie der Titel sagt, dreihundert Gedichte), ein paar verstreute Gedichte finden sich in Anthologien. In Englischen hat es 1990 eine Auswahlausgabe in der Übertragung von Lina Wasilywna und Michael M. Naydan beim auf akademische Nischentitel, fast völlig unbekannten Kleinverlag Scholarly Title gegeben („Wanderings of the Heart“), die völlig unbeachtet geblieben und seit Jahrzehnten vergriffen ist. Einzelne Gedichte findet man auf englischsprachigen Literaturseiten, die der ukrainischen Literatur gewidmet sind. Aber natürlich auch nur, wenn man gezielt nach ihnen sucht. Und ins Schwedische, soweit sich das feststellen läßt, ist bislang kein einziges Gedicht von ihr übertragen worden. Ich improvisiere mal:
(An dieser Stelle sollte eine ukrainische Rezitation des Gedichts eingeblendet werden, mit sofort zurückgenommener Lautstärke, die als akustischer Hintergrund die jetzt etwas moduliertere Stimme von [C] unterlegt.)
[C] Der Satan selbst ist es, der an der Pripjat schläft,
Dort am Flußufer – auf dem Sand –
Als Weidenstamm getarnt, hohl und verdorrt,
Wo sich der Fluß einst blau durch Wiesen wand.
Als schwarzes Totenlicht sieht er den Meiler ragen.
Die Dörfer liegen leer und wüst davor.
Die Wurzeln sind krumm in den Sand geschlagen.
Und hohl pfeift ihm der Wind ins Ohr.
Auf alle Häuser schrieb er seinen Fluch,
Stahl die Ikonen. Die Schutzmaske ging zu Bruch.
Jetzt ist er müde, sehnt er sich nach Schlaf.
Hier ist sein Reich, wo nur er herrschen darf.
Dies ist sein Reich – hier herrscht er ganz alleine
Der Meiler, rußschwarz, ist sein höllischer Thronraum.
Im Kreis der Raben träumt er seinen Todestraum
Vom ganzen Land – der ganzen Ukraine.
[A] „Al-lei-ne“ auf „U – kra – ine“ gereimt? Na, ich weiß nicht…
[B] Machen Sie sich nichts draus. Die ukrainische Lyrik hat von der russischen (soviel Beeinflussung darf man wohl noch zugeben) eine Vorliebe für den Halbreim übernommen. Apropos: Zeile 5 lautet im Original: „Stoyitʹ yomu atomna chorna svicha“: „Er steht vor einer atomaren“ – im Sinne von radioaktiven – „schwarzen Kerze.“ Bei Alois Woldan wird daraus: „Die Kerze des Reaktors wirft ein schwarzes Licht“ und gibt in der neunten Zeile ein im Original fehlendes „Astloch“ dazu, aus dem der Wind bläst, um im Versmaß zu bleiben. Und in Tatjana Wodianskajas englischer Prosa-Paraphrase lautet die Zeile: „and a black candle flickers for him in the atomic block“ – wo es korrekt „reactor block“ heißen müßte. Offensichtlich wird im Original auf den Reaktor als Grabkerze angespielt und die Tscherenkow-Strahlung des Kernbrennstoffs – die aber bekanntlich blau strahlt. Als der damalige Präsident Petro Poroschenko zum 30. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 2016 bei seinem öffentlichen Auftritt vor der Ruine des Blocks 4 mit seiner alten Schutzhülle aus Beton – die „neue Abdichtung“ wurde erst ein halbes Jahr später fertiggestellt – als Auftakt dieses Gedicht rezitierte, hat er bezeichnenderweise die Schlußstrophe fortgelassen.
[A] Soviel also dazu. Und Ihre nächsten Kandidaten? Schießen Sie los - Ich bin ganz Ohr.
(***Gong***)
[B] Ad eins: John Banville.
[A] Ban…? Stimmt: den hatte ich tatsächlich nicht auf meiner Liste. Und wenn ich so darüber nachdenke, wäre er in der Tat, wie sagt man? - preiswürdig. Ein Solitär in der irischen Literatur, auf seine Art ein Nachfolger Nabokovs, mit allen literarischen Kniffen in Sachen unzuverlässige Erzähler und Perspektivenwechsel gewaschen und im Kern ein traditioneller Erzähler, mit Protagonisten, die beständig nach dem Kern, dem Wesen ihrer selbst suchen. Und vor allem ein hinreißender Stilist. Und mit seiner ersten Roman-Trilogie über Kopernikus, Kepler und Newton, hat er ja ein Thema, das um einiges über die, wie sagten Sie? - „verquälten Beziehungsdramen“ hinausreicht.
[B] Und im Mittelpunkt der zweiten Trilogie steht die Frage: was kann die Kunst überhaupt? Entwickelt ein Kunstwerk ein Eigenleben? Wie ist das Verhältnis von original zu Fälschung? Spielt das überhaupt eine Rolle? Und immer wieder das Aufblitzen, das Einschießen einer, ich will es einem „mythische Dimension“ nennen, alte Göttergestalten - aber nicht als „Wiederauflage eines alten Sagengeschehens,“ wie es etwa in der Deptfort-Trilogie des kanadischen Kollegen Robertson Davis der Fall ist. Und in der Tat ein großer Stilist, der, und das scheint mir das Kennzeichen dafür zu sein, dazu führt, das seine Texte einen unmittelbaren Sog entfalten und den Leser nicht mehr loslassen. Sie müssen nur die ersten Absätze von „The Sea“ aufschlagen, um das hautnah zu spüren.
Sie sind fort, die Götter, am Tag jener merkwürdigen Flut. Den ganzen Morgen lang war das Wasser der Bucht unter einem bleichen Himmel höher und höher gestiegen, höher als je zuvor. Die kleinen Wellen rollten über einen Sandstrand, den seit Jahren höchsten noch der Regen genetzt hatte und umspülten den Fuß der Dünen. Das verrostete Wrack des Frachtschiffs, der vor langer Zeit, länger, als wir uns erinnern konnten, am anderen Ende der Bucht auf Grund gelaufen war, glaubte sicher, er würde noch einmal flott gemacht. Nach diesem Tag bin ich nie mehr schwimmen gegangen. Die Seevögel schrien schrill und schossen herab, als wenn sie der Anblick dieser riesigen Schale voll Wasser, die wie eine Blase ausdehnte, aus einem bläulichen grau und heimtückisch schillernd, verstört. An jenem Tag wirkten sie gespenstisch weiß, diese Vögel. An der Strandlinie hinterließen die Wellen einen Brokatbesatz aus fleckigem gelben Schaum. Kein Segel störte die hochliegende Linie des Horizonts. Nach jenem Tag bin ich nie wieder schwimmen gegangen. Nein, nie wieder.
Mir war, als wäre gerade jemand über mein Grab gelaufen. Irgendjemand.
Das Haus heißt „Die Zedern,“ wie seit altersher. Links davon wächst immer noch eine zerrupfte Baumgruppe, in der sich ein strenger Teergeruch hält, mit schauerlich verhedderten Stämmen, gegenüber dem großen Bogenfenster auf der anderen Seite des ungepflegten Rasens, hinter dem einmal das Wohnzimmer lag – Miss Vavasour, als Vermieterin, spricht lieber von der Lounge. Die Haustür befindet auf der anderen Seite des Hauses; davor liegt ölgetränkter Kies, hinter einem Eisentor, das immer noch Spuren grüner Farbe trägt, obwohl der Rostfraß von den Streben nur noch ein filigranes Gewebe übriggelassen hat. Ich bin überrascht, wie wenig sich hier verändert hat in den mehr als fünfzig Jahren, seit ich das letzte Mal hier war. Überrascht und enttäuscht – ich würde sogar sagen: erschreckt. Ich weiß nicht genau, warum. Schließlich suche ich hier keine Veränderungen, ich bin ja hergekommen, um den Schutt der Vergangenheit aufzusuchen. Ich stelle mir die Frage, warum das Haus so gebaut worden ist: quer zur Straße, mit einer weißgekalkten, fensterlosen Seitenwand als Straßenfront. Vielleicht verlief die Straße früher einmal anders, bevor die Bahnlinie gebaut wurde, und führte direkt an der Haustür vorbei. Möglich. Miss V. hat es nicht so mit den Jahreszahlen, sie meint aber, daß hier um die letzte Jahrhundertwende, ich meine natürlich die vorletzte Jahrhundertwende, ich komme mit den Jahrtausenden allmählich durcheinander, ein kleines Landhaus gebaut worden ist, und dann wahllos weiter angebaut worden ist. Das würde auch den Eindruck des Durcheinanders erklären, den das Haus macht, mit kleinen Räumen, die an große grenzen, Fenster, die auf solide Wände hinausgehen, und niedrige Zimmerdecken im ganzen Haus. Die Kiefernholzböden verliehen dem Ganzen etwas von einem Schiffsinnern, genau wie mein Drehstuhl mit der Rückenlehne aus senkrechten Spindeln. Ich stelle mir einen alten Seebären vor, der am Ende seines Lebens wieder zur Landratte geworden ist und am Feuer vor sich hindöst, während der Wintersturm an den Fensterläden rüttelt. Ach, wenn ich er sein könnte. Oder er gewesen wäre.
[A] Es tut jetzt nichts zur Sache, aber soweit ich mich an meine Lektüre des Buchs erinnere, klang das doch leicht anders? Es ist schon ein paar Jahre her, aber…
[B] Da haben Sie recht. Ich spare mir in aller Regel die Lektüre von Texten, die ich im Original zur Hand nehmen kann und deren Sprache mich nicht wie einen Träger beim Turmbau zu Babel zurückläßt. Insofern kann ich die Qualität solcher Übertragungen nicht beurteilen. Für „The Sea“ habe ich eine Ausnahme gemacht – und muß sagen, daß die Übertragung von Christa Schuenke, die 2006 bei Kiepenheuer und Witsch in Köln herausgekommen ist, sagen es wir höflich: besser lektoriert sein könnte.
[A] Die Klage über schlechtes oder ganz fehlendes Lektorat, gerade in deutschen Verlagen, zieht sich aber wie ein roter Faden durch den Literaturbetrieb der letzten Jahrzehnte.
[B] Die elektronische Textverarbeitung scheint hier durchaus janusköpfig, zwiespältig, gewirkt zu haben. Zum einen ist es natürlich für Autoren ein immenser Vorteil, nach Belieben zu ändern, zu erweitern, umzustellen. Denken Sie daran, daß etwa Tolstoi „Krieg und Frieden“ seiner Frau diktiert hat – und zwar in fünf verschiedenen Fassungen.
[A] Mit jeweils gut zweitausend Seiten…
[B] Zum anderen führt es zu Flüchtigkeiten. Das schnelle Scrollen durch die Seiten zerstört das Gefühl für den Sprachfluß, für die Feinheiten, die Satzanschlüsse. Von der Zeichensetzung will ich gar nicht erst anfangen. Vor allem scheint nicht wenigen Übersetzern das Gespür für die Idiomatik der eigenen Sprache abhanden zu kommen. Nehmen Sie als Beispiel den Anfang von „The Sea.“ Im Original heißt es da:
They departed, the gods, on the day of the strange tide. All morning under a milky sky the waters in the bay had swelled and swelled, the small waves creeping over parched sand that for years had known no wetting save for rain and lapping the very bases of the dunes. The rusted hulk of the freighter that had run aground at the far end of the bay longer ago than any of us could remember must have thought it was being granted a relaunch. I would not swim again, after that day.
Bei Frau Schuenke wird daraus:
Sie sind gegangen, die Götter, am Tag dieser eigentümlichen Flut. Den ganzen Morgen, unterm milchigen Himmel, war das Wasser der Bucht immer weiter angeschwollen, zu unerhörter Höhe, und die kleinen Wellen krochen über den ausgedörrten Sand, der seit Jahren nicht mehr durchnässt worden war, außer vom Regen, bis an die Dünen krochen sie und leckten ihnen die Füße. Der rostige Koloss des Frachters, der vor langer Zeit, länger, als wir alle uns zurückerinnern konnten, am anderen Ende der Bucht gestrandet war, glaubte wohl gar, es wäre ihm vergönnt, noch einmal auszulaufen. Ich sollte nie mehr schwimmen gehen nach diesem Tag.
[A] Ja leck‘ mir die Füße… Pardon my French. Das kommt heraus, wenn jemand stumpf den ersten Eintrag im Wörterbuch nimmt. Und sich dann auch bei hulk, also dem naheliegenden Wrack oder Rumpf, für den Koloss, entscheidet.
[B] Aus dem „spindle-backed swivel chair,” also einem Drehstuhl mit mehreren senkrechten Holzspindeln oder -streben, wird bei ihr eine „fragile Rückenlehne.“ Das Kiefernholz des Fußbodens beläßt sie als „Pitchpineböden,“ die Anbauten wurden an das „Bauernhaus“ – was ein „farmhouse“ wäre, kein „cottage“ - „drangepappt,“ und der alte Seemann „mutiert“ bei ihr zur Landratte.
[A] Hoffen wir, daß die Übersetzungen ins Schwedische besser gelungen sind.
[B] Oh, ich glaube, dort liest man ganz kommode Englisch. Es liegen auch nur zwei Romane Banville auf Schwedisch vor: „Havet,“ eben „The Sea,“ aus dem Jahr 2008, und „Motivet,“der erste Band der vorhin erwähnten zweiten Trilogie, „The Book of Evidence“ von 1989.
[A] Das erklärt aber noch nicht, warum Sie sich so sicher sind, daß der Nobelpreis nicht an Banville gehen wird. Wobei: Gab es da nicht vor ein paar Jahren einen Vorfall in diesem Zusammenhang?
[B] Allerdings. 2019, genauer: am 10. Oktober 2019, also dem Tag, an dem die Vergabe der Nobelpreise für Literatur für das Jahr 2018 und 2019 bekannt gegeben werden sollte …
[A] Zwei auf einen Streich! Erinnern Sie mich doch kurz, weshalb es dazu kam.
[B] Nun, 2018 hat es einen ziemlichen Skandal in den Reihen der Königlichen Akademie gegeben. Im April ist Jean-Claude Arnault, Fotograf, Theaterregisseur und verheiratet mit dem Akademiemitglied Katarina Frostenson, des sexuellen Mißbrauchs in 18 Fällen angeklagt worden. Im Lauf eines späteren Prozesses ist er wegen Vergewaltigung zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. In Bezug auf die Akademie wog schwerer, daß Arnault die Namen von Preisträgern vorzeitig an die Presse gegeben und zur Wettmanipulation eingesetzt haben soll. Diese Informationen konnte er aber nur von seiner Frau bekommen haben. Daraufhin haben drei der Akademiemitglieder Frostenson zum Verzicht auf ihren Sitz aufgefordert. Nun sah das bisherige Reglement keinen Rücktritt oder eine Abwahl vor; wie in vielen solchen Institutionen, etwa der Academie Française, hat jedes Mitglied das Amt für den Rest des Lebens inne. Frostenson hat sich geweigert, woraufhin die drei Ankläger öffentlich ihre Weigerung erklärt haben, weiter an den Sitzungen der Akademie teilzunehmen. Damit war die Akademie nicht mehr beschlußfähig. Und bis zur Änderung der Satzung – und um Gras über die Sache wachsen zu lassen – ist entschieden worden, für das Jahr 2018 keinen Preis zu vergeben und die Wahl im folgenden Jahr nachzuholen. Enfin, an genau jenem Tag erhielt Banville einen Anruf von jemandem, der sich als Mats Malm, ständiger Sekretär der schwedischen Akademie vorstellte und verkündete, die Wahl sei auf ihn, Banville, gefallen. Und ob er lieber der Preisträger des Jahres 2018 oder 2019 sein wolle? Banville hat seine Tochter angerufen, die die Ankündigung im Fernsehen verfolgt hatte und mitteilen konnte, daß sein Name nicht gefallen sei. Und durch einen Clip auf YouTube konnte Banville schnell feststellen, daß der wahre Mats Malm eine ganz andere Stimmlage hatte als sein Anrufer – und ein wesentlich besseres Englisch sprach. Banville vermutet, daß der Streich nicht ihm selbst gegolten hat, sondern dazu gedacht war, die Akademie durch ein Dementi dumm dastehen zu lassen, wenn die irischen Medien dieser Ente aufgesessen wären.
[A] Schön und gut, aber das dürfte die „Herren schwedischen Verteiler“ ja kaum davon abhalten, ihn trotzdem auszuzeichnen.
[B] Das nicht, aber meine Gründe habe ich schon im Zusammenhang mit Joyce Carol Oates genannt. In den letzten Jahren hat Banville den Großteil seiner kreativen Energie an das Verfassen von Kriminalromanen gewendet. Die ersten sieben Bände der „Quirke“-Serie sind zwischen 2006 und 2015 noch unter dem Pseudonym Benjamin Black erschienen; die letzten drei, „April in Spain“ (2021), „The Lock-Up“ (2023) und „The Drowned“ (2024) unter Banvilles eigenem Namen. Die Fälle spielen im nördlichen Irland in den dunklen und engen fünfziger Jahren; Banville hat in Interviews erklärt, daß er sich hier bedrückenden Erinnerungen aus seiner Zeit als aufwachsender Teenager von der Seele geschrieben hat: ein verstockter, geistig zutiefst unfreier Katholizismus, benehmende Bigotterie, übergriffige Priester und ein soziales Milieu, daß immer noch vom Kontrast zwischen den „Great Houses“ des früheren Landadels und der blutarmen Bevölkerung geprägt ist. Es ist kein Milieu, in dem man, entschuldigen Sie, tot über dem Zaun hängen möchte. Aber es sind, unterm Strich, eben doch nur Lokalkrimis, ohne höheren Anspruch, besser geschrieben als das Gros dieses Genres und immer noch stilistisch glänzend. Aber eben nicht mehr als das. Und in Stockholm, fürchte ich, wird man keinen Krimi-Autor aufwerten wollen, ungeachtet seiner bisherigen Meriten.
(***Gong***)
[A] Und Ihr zweiter Name? Den Sie ja auch gleich zu streichen gedenken?
[B] Ad zwei: Elena Ferrante.
[A] Immerhin eine wirklich viel gelesene Autorin. Und auch von der Kritik mit Lob überschüttet. Und ich meine mich zu erinnern, daß ihr Name in Italien auch wiederholt mit Hinblick auf den Nobelpreis oder den Premio Strega genannt worden ist. Das wäre dann aber ausschließlich für die vier Bände der „Neapolitanischen Saga“ gedacht, oder? Die die Autorin ja nicht gerne so genannt sieht.
[B] Das gilt aber nur für die deutschen Übersetzungen. Im Original gilt ja der Titel des ersten Teils, „L’amica geniale,“ als Obertitel des gesamten Zyklus.
[A] Ich nehme an, das fällt für Sie nicht unter „verquälte Familiendramen“?
[B] Die Betonung liegt auf dem Adjektiv. Wenn die parallele Entwicklung zweier so naher Familien vor dem Panorama der vergangenen sechzig Jahre so intensiv geschildert – evoziert – wird, mit einer Breite des Personals, die an Balzac erinnert, dann entwickelt das eine völlig andere Qualität. „Anna Karenina,“ „Madame Bovary“ oder „Effi Briest“ haben ja das Urthema des bürgerlichen Realismus der Gründerzeit zum Thema, sind aber weit mehr als bloße Ehebruchsgeschichten. Und hier wird neben die Wechselwirkung zwischen den beiden Jugendfreundinnen, auseinandergerissen durch Familie und Karriere, eben die Zeitgeschichte, von der beklemmenden Enge der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Terror der Brigate Rosse, geradezu körperlich spürbar.
[A] Und die Konstellation kommt ja auch in anderen Romanen der Moderne, die es auf Klassikerstatus gebracht haben, vor, etwa in Junichiro Tanizakis „Die Schwester Makioka.“ Oder die vier Bände von Louis Couperus‘ „De boeken der kleine zielen.“
[B] Bei Tanizaki umfaßt der Handlungszeitraum allerdings nur ein halbes Jahrzehnt, von 1936 bis 1941. Und den Umständen von Zeit und Entstehungsort entsprechend – vom Ausbruch des offenen Kriegs Japans in China bis kurz vor Pearl Harbour – bleibt der Zeithintergrund im Buch VÖLLIG ausgeblendet; was nicht zuletzt der japanischen Zensur geschuldet war. Um zum Thema zurückzukommen: es ist ja auch durchaus vorkommen, daß ein Autor den Preis für ein ganz bestimmtes Werk erhalten hat.
[A] Thomas Mann, für die „Buddenbrooks.“ Was er ja ziemlich verschnupft kommentiert hat.
[B] Ach, der Preis war ihm schon recht, nur die Begründung hat ihn geärgert …
[C] … förnämligast för hans stora roman Buddenbrooks, vilken under årens lopp vunnit alltmer stadgat erkännande som ett av den samtida litteraturens klassiska verk …
[B] … während er den „Zauberberg“ für ein wenig gewichtiger hielt. Der Grund war aber schlicht, daß Fredrik Böök, schwedischer Literaturpapst jener Jahre und seit 1922 Akademiemitglied, das Buch diverse Male verrissen hat. Nein, ich dachte eher an John Galsworthy und seine „Forsythe Saga.“
[A] Na: wenn ich es so überlege, fallen einem da verblüffende Parallelen auf. Galsworthys Familiensaga spielt zwar in etwas arrivierteren Kreisen als bei Ferrante, deren Hauptfiguren ihrer Herkunft aus dem Kleine-Leute-Milieu und dem tiefen Süden des Landes trotz aller Bemühungen nie loswerden. Bei Galsworthy sind das schon die zweite und dritte Generation des neureichen Geldadels. Aber ansonsten: der Zeitrahmen umfaßt ebenfalls 40 Jahre – in diesem Fall von 1880 bis in die frühen Zwanzigerjahre über drei Generationen, die drei Bände mit den beiden Interludien umfassen – Moment, ich zähle gerade mal die englischen Erstausgaben durch – insgesamt 1150 Seiten; die vier Bände von Ferrante bringen es auf zusammen 1691 Seiten, ebenfalls nach den italienischen Erstauflagen. Und das Zerrissensein zwischen Tradition und Herkunft einerseits und den Freiheiten, die die neuen Zeiten bieten, und die sich als dürftig erweisen und an denen die Beziehungen und Ehen reihenweise zerbrechen, sind ja in beiden Fällen Dreh- und Angelpunkt.
[B] Man könnte mit Fug und Recht sagen, daß die Neapolitanische Saga die Forsythe-Saga des 21. Jahrhunderts darstellt.
[A] Und ihr Zweifel an der Vergabe gründet sich jetzt worauf?
[B] Ferrante hat ja von Anfang an ihre Anonymität, ihre wahre Identität, zum Kernpunkt ihrer Karriere als Schriftstellerin gemacht: Bücher brauchen keine Autoren, wenn sie erst einmal in der Welt sind. Wer genau dahinter steckt, der Name, das Gesicht: all das lenkt nur von den texten selbst ab und tut nichts zur Sache. Was natürlich die Klatschpresse, besonders nach dem Erfolg ihrer Bücher, nur angestachelt hat.
[A] Anders als andere „große Namenlose“ der Literatur hat sie ja die eigene Person nicht wirklich versteckt, verhüllt, in die Schleier des Geheimnisses gehüllt - ich denke da etwa an Thomas Pynchon oder B. Traven – sie hat ja in Interviews, per Email geführt, immer offen Auskunft gegeben – nur eben zur genauen Identität nicht.
[B] Da wir vorhin die Genreliteratur gestreift haben: im Bereich der Science Fiction haben ja etwa Greg Egan oder Cordwainer Smith nahezu eine Karriere daraus gemacht. Oder James Tiptree Jr.
[A] Oder in Sachen Kriminalromane bei uns ein gewisser „-ky“ in den siebziger Jahren.
[B] Das war aber wohl vor allem dem Umstand geschuldet, daß diese Bücher so ziemlich die einzig lesbaren Originalbeiträge in der Reihe der Thriller bei Rororo darstellten.
[A] „… a faint cold fear thrills through my veins …”
[B] Zeitgenossen, die nicht so bejahrt sind wie Sie, wird das wenig sagen. Nun: die Anonymität an-sich dürfte kein Hindernis für eine Preisvergabe darstellen. In solchen Fällen schickt man der literarischen Agenten oder Verleger aufs Podium, der die Urkunde entgegennimmt und die Dankadresse verliest. Nein, es ist etwas anders: die von den genannten Schnüfflern Verbellten haben zwar immer, und glaubhaft, dementiert, daß es sich bei ihnen um „Elena Ferrante“ – Akademikerin, in Neapel geboren – handelt. Zunächst war ja der Verdacht auf Fabrizia Ramondina gefallen. Die ist allerdings 2008 gestorben.
[A] Und die Neapolitanische Saga ist wann herausgekommen?
[B] 2011 bis 2014. Aber seit 2016 steht der Verdacht im Raum, daß es sich bei „E.F.“ um einen nom de plume von Marcella Marmo handeln, Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Neapel. Das stützt sich auf Details der Beschreibungen etwa des Stadtbilds von Pisa im zweiten Band der „Saga,“ der zum Teil in Pisa spielt, die einen Aufenthalt vor 1966 nahelegen. Marmo und Ferrantes Verleger haben abgewinkt. Nun: Marcella Marmo ist im Januar 2022 ebenfalls verstorben – und die letzte Publikation von Elena Ferrante fällt in das Jahr davor: „I Margini e il Detatto.“ Da handelt es sich allerdings um drei Gastvorlesungen an der Universität von Bologna aus dem Jahr 2011.
[A] Gastvorlesungen?
[B] Ja. Vorgetragen von der Schauspielerin Manuela Madracchia. Und Ferrantes letzter Roman, „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen,“ ist Ende 2019 herausgekommen. Und aufgrund der Regel, nur Lebende zu bedenken, bezweifle ich, daß das Komitee ein solches Risiko eingehen wird. Es sei denn natürlich, das für diesen Fall Sondierungen, Tüchfühlungen im Vorfeld, klandestin, sub rosa erfolgt sind.
(***Gong***)
[A] Und damit zu Ihrem dritten und eigentlichen Kandidaten.
[B] Ich muß Sie warnen, daß meine Trefferquote beim Blick in die Kristallkugel nachweislich überaus bescheiden ausfällt. Ad drei: Jaume Cabré.
[A] Oha. Helfen Sie mir doch mal auf die Sprünge.
[B] (liest mechanisch ab) Geboren 1947 in Barcelona, schreibt auf Katalanisch, bislang 11 Romane seit 1978, der letzte, „Consumits pel foc“ - Vom Feuer verzehrt - ist 2021 nach einer Pause von zehn Jahren herausgekommen. Bekannteste Titel: „Die Stimmen des Flusses“ und „Das Schweigen des Sammlers.“ Beim ersten Titel vergeben Sie sich nichts, wenn Sie ihn kennen; von der deutschen Übersetzung von 2010 sind mehr als eine halbe Million Exemplare verkauft worden.
[A] Frau Wirtin hatt‘ auch einen Katalanen …
[B] Es wäre in der Tat nicht auf Kastilisch schreibende Autor aus der hispanophonischen Welt. Für den frankophonen Bereich, wo man ja so penibel auf das Primat des Französischen setzt, war das lustigerweise schon bei der vierten Verleihung Stand der Dinge: mit der Ehrung von Frédéric Mistral, der seine Werke auf Provenzalisch verfaßt hat. Anders als bei den südamerikanischen Autoren wie Neruda, García Márquez oder Vargas Llosa, die ja immer noch zu den vielgelesenen Autoren zählen (gut, bei Neruda bin ich mir in dieser Hinsicht nicht sicher, aber er h-a-t den Status eines „Klassikers der Moderne“) haben die Spanier mit ihren Kandidaten ja eher wenig Fortüne gehabt. Die Namen von Echegaray und Benavente habe ich ja schon in meinem Katalog der Verschollenen aufgezählt. Juan Ramón Jiménez dürfte, wenn überhaupt, heute nur noch als Verfasser von „Platero y yo“ ‚ein Begriff‘ sein. Eine charmante Sammlung von impressionistisch angehauchten Prosaskizzen, irgendwo zwischen „Drei Mann im Boot,“ „Der Wind in den Weiden“ und Daudets „Lettres de mon moulin“ oszillierend, sehr angenehm zwischen Tag und Traum durchzublättern, aber alles andere als ein literarisches Schwergewicht. Und der bislang letzte Preisträger Camilo José Cela sah sich zur Zeit der Verleihung 1989 scharfer Kritik ausgesetzt, wegen seiner Rolle als Leiter die Buchzensur zu Anfang des Franco-Regimes – ironischerweise fiel sein Roman „Der Bienenkorb“ 1950 selbst der Zensur zum Opfer und die Veröffentlichung in Buenos Aires machte den Autor für die nächsten fünf Jahre in Spanien zur literarischen Unperson -; vor allem aber, weil er in den dreißiger und vierziger Jahren für Francos Geheimdienst seine Autorenkollegen bespitzelt hat.
[A] Das Problem IM ist also nicht nur auf den ehemaligen Ostblock beschränkt.
[B] Nur daß es dort nach Bekanntwerden umgehend zur dauerhaften Verbannung aus dem literarischen Elysium führt. Apropos: „Das Schweigen des Sammlers“ ist der Roman, den Cela im Auge hatte, als er den „Bienenkorb“ schrieb: ein Panorama des Landes das in zahlreichen Stimmen kurz aufklingt, die einander schnell ablösen. Bei Cela ist das eine Woche Ende 1943, und die Hungersnot, die Spanien infolge der Isolation und die Umstände des Krieges damals durchlitt, spiegeln sich deutlich darin; das war der Grund, warum das Buch unter Kuratel fiel. Bei Cabré ist der Aufhänger der zunächst fast kolportagehaft anmutende Mord an einem Trödler wegen einer unvergleichlichen Violine aus dem 18. Jahrhundert …
[A] Eine Stradivari?
[B] Eine Strioni. Aber die Hintergründe, die die sich anschließende Untersuchung dem Sohn des Toten auf den folgenden 800 Seiten auftut, lassen nicht nur das ganze vergangene halbe Jahrtausend in Spanien aufscheinen, sondern auch die Tragödien der gesamten europäischen Geschichte. In den „Stimmen des Flusses“ verwendet der Autor eine ähnlich doppelbödige Zeitstruktur: dort geht es um einen Mord an einem Dorflehrer in einem abgelegenen Tal der Pyrenäen im Herbst 1944, zu einer Zeit, als der Maquis, der Widerstand gegen die franquistische Falange, dort immer noch aktiv ist, der völlig vergessen und beschwiegen wurde und über den 60 Jahre später eine Fotografin stolpert, die an einem Bildband über die arme aber pittoreske Gegend arbeitet. Der Versuch, wer auf welcher Seite stand, die Geschehnisse überhaupt erst wieder, wie konturenhaft auch immer, zu erfassen, sind das Thema des Buchs.
[A] Also das, worauf bei uns sagen wie Siegfried Lenz noch in den Sechzigern mit seiner „Deutschstunde“ hinauswollte?
[B] Ja – und nein. Die Ereignisse der Nazizeit bei uns waren ja, auch auf lokaler Ebene, nie ein „großes Geheimnis.“ In Spanien gilt die Zeit bis heute noch als großes Tabu, über das man besser das breitet, was Hermann Lübbe vor 40 Jahren das „kreative Beschweigen“ genannt hat ein Ausklammern, ein bewußt um des Miteinander-Auskommens der Nachgeborenen leer gehaltener blinder Fleck – weil beide Seiten gleichermaßen Schuld auf sich geladen haben. Im Buch erweisen sich alle Rollen, die die Täter von damals gespielt haben, als trügerisch. Der Terror des Majors etwa, den die Regierung entsandt hat, ist gelenkt von der Hand einer Gutbesitzerin, um sich an den Anarchisten der Falange zu rächen, die zu Beginn des Bürgerkriegs ein Massaker an angeblichen „Großgrundbesitzern, Priestern und ihren Unterstützern“ verübt haben.
[A] Verzetteln wir uns nicht zu sehr; es ist schon spät genug. Aber wenn ich mir Ihre Kandidaten so Revue passieren lasse, meine ich einen gemeinsamen Zug ausmachen zu können: man könnte sie alle drei „Vollbluterzähler“ nennen, die auf Zeitpanoramen, auf eine Einbettung in größere Zusammenhänge erpicht sind.
[B] Ja. Vielleicht ist es nur meine Obsession. Aber wenn Sie sich einmal die Preisträger der letzten Jahre ansehen: Ernoux, Jon Fosse, auch Han Kang, dann sehen Sie einen Hang zur Reduzierung, auf das Private, den engsten persönlichen Bereich, das auf die nächste Familie und den minimalen Bekanntenkreis - „Freunde“ mag man in diesen Fällen nicht sagen - reduzierte Psychodramen, Verstummen, Verbleichen, fast Auflösung. Nehmen Sie Kangs „Vegetarierin“: normale Hausfrau weigert sich von heute auf morgen, Fleisch zu essen, und wird nicht verstanden, stößt ihre Familie vor den Kopf, verstummt am Ende. In der Kritik lesen Sie dann: in einer immer noch so traditionellen Kultur wie der Koreanischen mit ihrem Konformismus ist das ein unerhörter Akt des Protests und der Selbstvergewisserung. Mag ja sein. Aber im-Grund hatten wir das alles schon vor 170 Jahren, bei Melvilles Bartleby. Wir sind hier auf halbem Weg zu Samuel Beckett.
[A] „I would prefer not to, said Bartleby …”
[B] Genau. In ihrem letzten Roman, „Unmöglicher Abschied“ von 2021, hat sie, im Grunde, dasselbe Thema wie Cabré. In diesem Fall die Massaker, die die südkoreanischen Truppen von Präsident Syngman Rhee 1948 über einen Zeitraum von elf Monaten auf der Insel Jeju-Do an der dortigen Zivilbevölkerung angerichtet haben. Das ist in Südkorea bis heute noch genau solch ein Tabu wie die Greuel des Bürgerkriegs in Spanien. Aber bei ihr reduziert sich die Spiegelung in der Gegenwart auf ein Eingeschneitsein, die Schweigen der beiden Frauen: die Besucherin von Festland, ihre Freundin von der Insel. Andeutungen, Aussparungen, Zeitstillstand, Erstarrung. Und ich erhoffe mir einfach von der Wahl in diesem Jahr etwas mehr - darf ich das so sagen? – zur Abwechslung etwas mehr pralle Welthaltigkeit.
[A] Sie dürfen. Ein nettes Schlußplädoyer. Wir werden es ja sehen.
* * *
Anmerkungen:
„Bei Celan heißt es …“: Celans Gedicht „Talglicht“ gehört zu der Gruppe der 17 Gedichte, die im Februar 1948 in der letzten Ausgabe der von Otto Basil redigierten Monatszeitschrift „Plan“ veröffentlicht wurde und mit denen der Autor seinen Einstand in der deutschsprachigen Literaturszene gab. Celan berühmtestes Gedicht „Todesfuge,“ war am 2. Mai 1947 auf Rumänisch in der Übersetzung seines Freundes Petre Solomon als „Tangoul Mortii“ in der Bukarester Zeitschrift "Contemporanul" erschienen. Im September des gleichen Jahres wurden beide Gedichte in Celans erste Lyriksammlung „Der Sand aus den Uhren“ aufgenommen, der im Verlag A. Sexl in einer Auflage von 320 Exemplaren herauskam. Aufgrund zahlloser sinnentstellender Druckfehler und zwei „surrealistischen“ Kaltnadelradierungen von Edgar Jené wies Celan, der zu diesem Zeitpunkt bereits in Paris lebte, den Verleger an, die gesamte Auflage einstampfen zu lassen („Wie groß war mein Entsetzen, als ich es bekam. Das Buch erschien voller Druckfehler, mit zwei Illustrationen eines Freundes, der er nicht unterlassen konnte, mein Buch mit zwei Beweisen äußerster Geschmacklosigkeit zu versehen. Ich war gezwungen, telegraphisch zu veranlassen, das Buch aus dem Verkehr zu ziehen,“ schrieb Celan am 24. Oktober 1948 an Max Rychner. Laut Auskunft des Verlegers wurden insgesamt fünf Freiexemplare an Bibliotheken versendet und neun über den Buchhandel verkauft. Ein Exemplar, das vor drei Jahren in einer Auktion in Hamburg versteigert wurde, erzielte einen Preis von 20.000 Euro.
Steve Rasnic Tems Kurzgeschichte "Twember" ist zuerst in der März-April Ausgabe 2012 des britischen SF-Magazines "Interzone" erschienen und später in Tems Erählungssammlung "Figures Unseen: Selected Stories" (Valancourt Books, 2018) aufgenommen worden. Am leichtesten greifbar ist der Abdruck in der von Mike Ashley betreuten Anthologie "The Mammoth Book of Time Travel Stories" (Robinson, 2013).
„Stigma der Mittelmäßigkeit“: Arno Schmidts kleine Glosse zählt zu den zahllosen „Brotarbeiten,“ mit denen er seit Ende 1954 seine dürftigen Verlagserlöse aufbesserte – bis dahin war seine Haupteinnahmequelle das Übersetzen von US-amerikanischen Titeln für „Rowohlts-Rotations-Romane“ gewesen. Laut Anmerkung in der „Werkgruppe III: Essays und Aufsätze I“ der „Bargfelder Aufgabe“ im Suhrkamp Verlag (1995), der ich mein Zitat entnommen habe, ist der Text „vor dem 3. Juni 1956" entstanden; der Erstdruck erfolgte in der Hauszeitschrift des Zürcher Haffmanns Verlags, der nach Alice Schmidts Zerwürfnis mit dem Fischer Verlag die Rechte übernommen hatte, „Der Rabe,“ Nr. 9, vom März 1985.
„Bericht aus einer belagerten Stadt“: ich zitiere nach der Übertagung von Oskar Jan Tauschinski aus dem gleichbetitelten Gedichtband, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1985.
Lina Kostenkos Gedicht ist zuerst in dem Band „Сад нетанучих скульптур“ („Der Garten der unvergänglichen Statuen,“ 1987, mit Illustrationen von Iwan Ostafijitschuk) erschienen. Im Original lauten die vier Strophen:
На березі Прип’яті спить сатана,
прикинувся, клятий, сухою вербою.
На березі Прип’яті — березі — на —
ріки, що колись була голубою.
Стоїть йому атомна чорна свіча.
Лежать йому села в біді і розрусі.
Уп’явся в пісок пазурями корча,
свистить йому вітер в дуплястому вусі.
Він скрізь по хатах понаписував мат.
Ікони покрав. Загубив респіратор.
Тепер захотілось йому подрімать.
Оце його царство. Він тут імператор.
Той чорний реактор — і пекло, і трон.
Він спить на піску, підібгавши коліна.
І сниться йому в ореолі ворон
вже вся Україна, вже вся Україна...
Alois Woldans Nachdichtung lautet so:
Am Pripjat-Ufer schläft der Teufel,
getarnt in einer Weide hohlem Stamm,
am Ufer eines Flusses, der einst leise
und blau durch grüne Wiesen rann.
Die Kerze des Reaktors wirft ein schwarzes Licht.
Die Dörfer liegen arm und elend ihm zu Füßen,
dem, der mit Klauen sich im Sand verbissen.
Und aus dem Astloch pfeift der Wind ihm ins Gesicht.
Mit seinen Flüchen hat die Häuser er entehrt
gestohlen die Ikonen - den Atemschutz vermisst.
Jetzt sei ihm eine Pause nicht verwehrt,
in seinem Reich, wo er der Kaiser ist.
Der schwarze Meiler ist ihm Hölle, ist ihm Thron
Da schläft er auf dem Sand, die Pose wie gewohnt.
Im Traum sieht er ein Land, von Raben nur bewohnt,
in schwarzer Aureole - die ganze Ukraine.
Eine Rezitation des Gedichtes auf Ukrainisch ist hier zu hören:
Das Eingangsbild stammt von dem russischen Maler Konstantin Somow (1869-1939). Somow, der um die Jahrhundertwende zu einem gefragten Porträtmaler in der Petersburger Hautevolée wurde, verließ die junge Sowjetunion 1924, um die erste Ausstellung russischer Kunst nach der Oktoberrevolution in Paris zu kuratieren. Er kehrte nicht in seine Heimat zurück, sondern verbrachte den Rest seines Lebens im französischen Exil. Das Bild von 1934 befindet sich in einer Privatsammlung und trägt den Titel „Окно - дверь - пейзаж (Открытая дверь в сад)“ („Fenster – Tür – Landschaft (Die geöffnete Gartentür)".
U.E
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