10. Dezember 2022

Eine wirkliche Mondrakete - "Beagle an Bord"





(Artemis 1; 8. Dezember 2022)

I.

Eines dieser Raumschiffe ist die Orion … Begleiten wir die Orion und ihre Besatzung bei ihrem Patrouillendienst am Rande der Unendlichkeit.

In knapp 21 Stunden, um 18 Uhr 39 Mitteleuropäischer Zeit, wird nach gut 26 Tagen der erste Flug eines Raumschiffs beim erneuten Ausflug zum Erdtrabanten sein Ende finden, wenn Artemis 1 in der Nähe der Insel Guadalupe, rund 250 Kilometer westlich der amerikanischen Pazifikküste niedergeht. Technisch gesehen steht natürlich noch die Bergung der Kapsel an, der Transport zum Schiff, der Rücktransport zur Heimatbasis und die Auswertung der beim Flug gewonnenen Daten. Aber das fällt unter „Nachbereitung.“ Jetzt, wo ich diese Zeilen tippe, befindet sich das Raumschiff, am 24. Tag und 14 Stunden seiner Mission nach dem Start von Cape Canaveral, noch 110.500 Meilen von der Erde entfernt und bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von 3400 Meilen pro Stunde auf sie zu. In den letzten drei Tagen hat sich diese Geschwindigkeit beständig von gut 900 Meilen pro Stunde erhöht, unter dem Einfluß der Erdgravitation.





Am Dienstag habe ich das „Intro“ der „phantastischen Abenteuer des Raumschiffs Orion“ auf „noch ohne Besatzung“ variiert. Technisch gesehen stimmt das, da erst bei der nächsten Mission, derzeit auf die erste Hälfte des Jahres 2024 terminiert, vier Menschen erneut den Erdbegleiter umrunden sollen. Aber in effigie ist diesmal schon der „weltberühmte Astronaut“ an Bord, der als Namensgeber der Mondfähre von Apollo 10 im Juni diese Reise absolvierte – und in den zahllosen Zeitungen der USA, die den Tagesstrip der „Peanuts“ abdruckten, in sieben Folgen vom 8. Bis zum 15. März 1969. (Bemerkenswert daran war, daß Snoopy während seines Mondflugs die Lederkappe und die Fliegerbrille trug, die sein Markenzeichen für solche Phantasietrips gewesen waren, seit er am 25. Oktober 1965 als Fliegeras des Ersten Weltkriegs seinen ersten Luftkampf mit dem „Roten Baron“ ausgefochten hatte.)



("Peanuts", 12. März 1969)

Daß Snoopy eine solche Rolle als Maskottchen der NASA zugekommen war, verdankte sich einer kleinen Public-Relations-Initiative, die im Nachgang des Unglücks von „Apollo 1“, als im Januar 1967 bei einem Test der Raumkapsel auf der Startrampe die reine Sauerstoffatmosphäre im Raumschiff durch einen elektrischen Kurzschluß entzündet wurde und die drei Astronauten Edward White, Virgil Grissom und Roger Chaffee innerhalb einer halben Minute in dem Inferno ums Leben kamen. Um ein sichtbares, symbolisches Zeichen zu setzen, daß bei der NASA die Sicherheit jetzt oberste Priorität habe, bat die Leitung der Luft- und Raumfahrtbehörde den geistigen Vater der „Peanuts“, Charles M. Schulz, um die Erlaubnis, den kleinen Beagle als „Sicherheitsmaskottchen“ für solche Zwecke verwenden zu dürfen. Gleichzeitig stiftete sie den „Silver Snoopy Award“, eine Ehrennadel, mit der seit 1968 Personen ausgezeichnet werden, die sich besondere Verdineste im diesem (recht großzügig gefaßten) Bereich erworben haben. Mehr als 15.000 dieser Anstecknadeln sind in den letzten 54 Jahren vergeben worden.





("Peanuts", 12. und 13. März 1969)

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Die Entscheidung des Astronautenkorps im Februar 1969, das Kommandomodul und der Lunare Exkursion-Modul (vulgo die „Mondfähre“) nach Charlie Brown und Snoopy zu benennen – Apollo 9 diente bekanntlich zur ersten Erdprobung des Umsteige- und Kopplungsmanöver in der Erdumlaufbahn – war bei der Einsatzleitung nicht unumstritten; man befürchtete, es könnte nicht seriös genug wirken. Und nicht zuletzt haben die meisten Vorhaben des Jungen mit dem runden Kopf („that round-headed boy“), wie ihn Snoopy zu nennen pflegte, eine fatale Tendenz zum Scheitern – egal, ob ihm Lucy den Baseball zum x-ten Mal vor dem Spielbein wegzieht oder ob sein Drachen dem gefräßigen „kite-eating tree“ zum Opfer fällt.



(Silver Snoopy-Anstecknadel)

Vor zwei Tagen hat eine der vier Kameras, die an dem Enden der ausgefalteten Sonnenpaneele der Orion-Kapsel montiert sind und die das Raumschiff mit insgesamt 11 Kilowatt Strom beliefern (die 12 Segmente, die die Kameras, selbstverfreilich) jetzt ein Bild zur Bodenstation gefunkt, auf dem im rechten der vier Fenster, die der Besatzung einen Ausblick ins All ermöglichen, deutlich die Gestalt jenes „weltberühmten Astronauten“ zu erkennen ist. (Es handelt sich um die SAW Cam-1 rechts oben in der Aufrißdarstellung) Realiter dient die kleine Stofffigur wie zahllose ihrer Pendants bei früheren Raumflügen, dazu den Insassen und der Flugleitung anzuzeigen, wenn mach dem Brennschluß der Raketenmotoren die Beschleunigung endet und die Schwerelosigkeit eintritt. (Wie Zuschauer feststellen konnten, die vor 12 Tagen, am 29. November, dem Start der Shenzhou-15-Mannschaft zur chinesischen Raumstation Tiangong mitverfolgt haben, gibt es bei den Taikonauten diesen Brauch nicht. Dort behilft man sich mit den Stiften, auf denen die Raumfahrer während des Starts die Einträge in ihre Kladden vornehmen.)



Entre nous: bin ich der einzige, der sich beim Anblick dieses farbfrohen Interieurs frappant an das Innere eines anderen Fahrzeugs für Ausflüge in Bereiche, „die nicht von dieser Welt sind“ erinnert fühlt? Nämlich an das „Yellow Submarine“, das im Juli 1968 mit seinen vier Passagieren John, Paul, George und Ringo (ebenfalls nur in effigie!) seine Reise nach Pepperland antrat. Und da wir schon bei „gesprochenen Einleitungen“ sind: laut dem Auftakt des von Heinz Edelmann gestalteten Films liegt „Pepperland“ „80,000 Seemeilen“ von den uns bekannten Gestaden entfernt („once upon a time (or maybe twice), some 80,000 leagues beneath the sea, there lies a colourful land of music and laughter called Pepperland - a place where Sergeant Pepper's Lonely Hearts' Club Band is always playing your song“). Und diese Entfernung von achtzigtausend Seemeilen – das vierfache der Strecke, die Kapitän Nemos „Nautilus“ unter den Weltmeeren zurückgelegt hat – entspricht in Kilometern umgerechnet 386. 000 – und damit fast genau der durchschnittlichen Entfernung des Erdmonds mit 384.000 Kilometern.













Nun war das „gelbe Tauchseeboot“ (so die eher verunglückte Eindeutschung in der Übertragung des „Beatles Songbook,“ die 1969 im Axel Juncker Verlag herauskam) nicht der einzige Ausflug in die ästhetischen Bereiche des Psychedelik oder der Pop-Art in jenen Jahren. Besonders notorisch fand dies in der Comic-Fassung der Abenteuer von Perry Rhodan ihren Ausdruck, mit dem der Moewig-Verlag zwischen 1968 und 1975 eine neue, jugendliche Käuferschicht für den „Erben des Universums“ ansprechen wollte. Nachdem das Studio Giotti in Rom im Sommer 1970 die Gestaltung der vierwöchig erscheinenden Bildheftchen von den Kollegen des Eurostudio in Mailand übernommen hatte, gab es dort kein Entrinnen mehr vor Farbwirbeln, flächigen Konturen ohne Details und unzähligen Nackedeien. Daß man vielen dieser Strips (im doppelten Sinne…) ihre, nun, „Inspiration“ durch die ähnlich aufgemachten Abenteuer des „Submariners“ aus dem amerikanischen Verlag Marvel deutlich ansieht, sei nur am Rande vermerkt.







II.

Aber auch aus dem „wirklichen Leben“ – aus den tatsächlichen Ausflügen ins All – gibt es durchaus „Psychedelisches“ zu vermelden. Etwa die Photographien, die der amerikanische Astronaut Donald Pettit während seines Aufenthalts auf der Internationalen Raumstation ISS im Rahmen der „Expeditionen“ 30 und 31 zwischen Dezember 2011 und Juli 2012 aufgenommen hat, die die seitdem in Vergrößerungen, die mehrere Quadratmeter umfassen, auf zahlreichen Ausstellungen vor gestellt worden sind. Die kreisförmigen Spuren der Sterne entsprechen durchaus jenen, die bei stundenlangen Belichtungen vom Erdboden aus durch die scheinbare Rotation des Himmelsgewölbes um den Polarstern entstehen; die Ausrichtung der ISS zur unter ihr dahinziehenden Erdoberfläche bleibt während ihrer Umläufe gleich; dafür dauert aber „ein Tag“ nur 90 Minuten und wiederholt sich innerhalb von 24 Stunden 16 Mal.



(Blick aus der "Cupola", der Beobachtungskuppel der ISS. Langzeitbelichtung mit einem Fischaugen-Weitwinkelobjektiv)











Seit den späten 1960er Jahren hatte die NASA den Brauch eingeführt, Raumfahrer mit einem Musikstück während der Missionen aus dem Schlaf zu wecken. Mit dem Ende der Shuttleflüge hatte das 2011 vorerst ein Ende gefunden. Mit den ersten drei Erprobungsflügen der Crew-Dragon-Kapseln zur ISS ist diese Tradition wieder aufgenommen worden: im Mai 2020 gab es als Weckmelodie „Planet Caravan“ von Black Sabbath und für die Crew-Dragon Resilience-Mission im November 2020 Phil Collins‘ „In the Air Tonight.“ Es ist natürlich anzunehmen, daß das auch bei dem anstehenden Mondmissionen, diesmal mit de facto humanoider Besatzung, weiterhin der Fall sein wird. Für meine heutige Meldung habe ich mich für den Titel „Ticket to the Moon“ des Electric Light Orchestra entschieden, im Dezember 1981 auf dem zehnten Studioalbum von ELO, „Time“ erschienen. Im Rahmen der „Binnenerzählung“, die die einzelnen Songs des Konzeptalbums miteinander verbindet, bezieht sich die Sehnsucht nach den „guten alten Achtzigerjahren,“ als „alles noch so einfach war,“ auf das Schicksal der Hauptperson, die es aus ungeklärter Ursache aus dem Jahr 1981 in die Zukunftswelt des Jahres 2095 verschlagen hat. Aus einer Distanz von vier Jahrzehnten nimmt sich dies etwas prophetischer aus, als es damals gemeint gewesen sein wird.



Remember the good old 1980s
When things were so uncomplicated?
I wish I could go back there again
And everything could be the same:

I've got a ticket to the moon
I'll be leaving here any day soon
Yeah, I've got a ticket to the moon
But I'd rather see the sunrise in your eyes

Got a ticket to the moon
I'll be rising high above the earth so soon
And the tears I cry might turn into the rain
That gently falls upon your window
You'll never know…

Fly, fly through a troubled sky
Up to a new world shining bright…

Seltsamerweise ist dieses Stück bislang noch nie von einer Mannschaft als Weckmelodie gewählt worden. Apropos: zu den beiden Musikalben, die bei der ersten bemannten Mondlandung mitgenomen wurden (Neil Arnstrong hatte sie als Mitschnitt auf einer ganz frühen Tonbandkassette bei sich - vielleicht wird sich der eine oder andere Oldtimer noch an diese heute primitiv anmutende Form der Musikkonserve erinnern) gehört Harry Revels Album "Music Out of the Moon" aus dem Jahr 1947. Dabei handelte es sich um ganz frühe Formen elektronischer Musik, die für ein Theremin komponiert worden waren - jenem Instrument, das in den späten 1950er und 1960er Jahren in Filmsoundtracks für die Evozierung "spukhafter", "spaciger" Klänge zum Einsatz kam; zum ersten Mal auf dem Soundtrack für "Forbidden Planet" im Jahr 1956. Allerdings hat die Entwicklung der elektronischen Musik in den letzten 70 Jahren dazu geführt, daß sich bei dem heutigen Hörer dieser "weltraummäßige Verfremdungseffekt nicht mehr so recht einstellen will. (Bei der zweiten Aufnahme handekte es sich um Dvoraks Symphonie "Aus der Neuen Welt".)

Immerhin schließt das an die Tagebuchnotiz an, die Ernst Jünger am 30. Oktober 1983 in Wilflingen notiert:

Zu meiner Frage, ob auf dem Mond Musik möglich, entdecke ich in Nietzsches Notizen aus dem Jahr 1883 ein Analogon: "Das, was uns Wärme oder Licht oder Schall oder Wurf der Gestirne ist - andren Sinnen als den menschlichen mag es etwas Anderes sein."

Noch keine Fährte, doch eine Spur.


U.E.

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