11. August 2022

Zeitmarke. Vor 50 Jahren: Stippvisite aus dem All





Unter den letzten Texten, die der Gründers dieses Netztagebuchs, Zettel, nur gut zehn Tage vor seinem plötzlichen, völlig unerwarteten Tod im Februar 2013 veröffentlicht hat, sind drei Wortmeldungen, die sich mit dem Thema des Meteoriteneinschlags in der südrussischen Stadt Tscheljabinsk befassen („Was ist eigentlich ein Meteorit? Ein Asteroid? Eine Sternschnuppe?“, „Die Fakten zum Meteoriteneinschlag im Ural“ und „Millionen von Asteroiden. Was kann man gegen diese Gefahr tun?“ – Zettels Raum vom 15 und 16. Februar 2013). An jenem 15. Februar explodierte um halb 10 Uhr morgens ein Meteorit in einer Höhe von gut 30 Kilometern, mit einem Durchmesser gut 20 Metern und einer geschätzten Masse von 12.000 Tonnen, nachdem er mit einer Geschwindigkeit von gut 70.000 Stundenkilometern in die Atmosphäre eingetreten war, mit einer Sprengkraft von 400 bis 500 Kilotonnen TNT, also etwa der 30fachen Energie, die 1945 beim Abwurf der ersten Atombombe auf Nagasaki freigesetzt worden war. Gut 7000 Gebäude wurden in einem Umkreis beschädigt; in den folgenden Tagen suchten in der Oblast Tscheljabinsk 1400 Menschen um ärztliche Hilfe nach; von denen gut 120 i stationär in den örtlichen Krankenhäusern behandelt werden mußten; die meisten hatten sich Schnittverletzungen durch geborstene Fensterscheiben zugezogen. Es war der bislang ernsteste und zerstörerischste Zusammenstoß mit einem solchen „kosmischen Vagabunden,“ der im Lauf der aufgezeichneten menschlichen Geschichte registriert worden ist. (* Es gibt eine mögliche Ausnahme, auf die ich am Ende dieses Beitrags kurz zu sprechen komme.) Andere spektakuläre Meteoreinschläge, etwa der bekannte von Tunguska im Juni 1908 oder der Sichote-Alin-Meteor vom Februar 1947, fielen in unbewohnten Gegenden, im östlichen und zentralen Bereich Sibiriens und richteten nur Waldschäden an – ebenso wie der Bolide, der im Februar 1896 über Madrid niederging und der das Stauen der Zeitgenossen erregte, weil die leuchtende Rauchspur, die er in der Atmosphäre hinterlassen hatte, noch stundenlang sichtbar blieb.

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Die Episode, an dem zuvor der Menschheit die tatsächliche Gefahr solcher Geschosse aus den Tiefen des Sonnensystems vor Augen geführt wurde, fand heute, vor einem halben Jahrhundert, am Donnerstag, dem 10. August 1972 statt.

Der Komet hatte die Größe eines kleinen Hauses, wog neuntausend Tonnen und bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von fünfzigtausend Stundenkilometern auf die Erde zu. Als er den Grand-Teton Nationalpark überflog, fotografierte ein aufmerksamer Tourist den weißglühenden Feuerball und seinen langen Schweif aus Dampf. Der Komet schnitt die Erdatmosphäre an, war aber schon wieder auf dem Weg hinaus ins All. Das Ganze hatte weniger als zwei Minuten gedauert.

Wenn es in den Jahrmillionen, die er bereits die Sonne umkreiste, nur eine winzige Veränderung seiner Umlaufbahn gegeben hätte, wäre er womöglich in einer unserer Großstädte niedergegangen - mit einer fünfmal stärkeren Sprengkraft als die der Bombe, die Hiroshima zerstört hat.

Diese Begegnung fand am 10. August 1972 statt.


So beginnt der vorletzte Roman, den Arthur C. Clarke, Autor von „2001: Odyssee im Weltraum“ in „Eigenregie,“ also ohne Assistenz einer Ko-Autors, verfaßt hat: „The Hammer of God“ aus dem Jahr 1993 (der letzte und 21. war dann vier Jahre später der vierte Band der „Odyssee“-Reihe: „3001: The Final Odyssey“) – in dem es um den Versuch der irdischen Raumfahrtnationen geht, Anfang des 22. Jahrhunderts einen solchen drohenden Einschlag abzuwenden – das Thema des dritten Beitrags von Zettel. Schon 20 Jahre vorher hatte Clarke das Thema zum Aufhänger eines anderen Romans gemacht: „Rendezvous with Rama,“ im Juni 1973 erschienen, dessen „Space Guard,“ die in der Lage ist, ein Rendezvous mit einem unerwartet ins Sonnensystem einfliegenden Himmelkörper durchzuführen, zur Bekämpfung dieses Bedrohung gegründet worden ist. Es gehört zu den netten Zufällen der Geschichte der Science Fiction, daß der Grand-Teton-Meteor zu spät über den nordamerikanischen Himmel zog, um noch in den Text eingebaut zu werden; in Clarkes Roman finden sich gleich am Eingang die Meteoriten von 1908 und 1947 genannt und der – fiktionale – Einschlag eines Asteroiden, der im Jahr 2077 die norditalienischen Städte Padua und Verona auslöscht. Daß dieser Einschlag im Buch ausgerechnet am 11. September stattfindet, der seit dem Clarke-Jahr 2001 die Trennlinie zwischen dem 20. und den 21 Jahrhundert durch „Einschläge aus heiterem Himmel“ markiert, gehört zu jener Symbolik, die sich kein Autor erlauben dürfte, wohl aber die sogenannte „Wirklichkeit.“

Der Grand-Teton-Meteor war, wie von Clarke erwähnt, auch der erste, dessen Passage durch die oberen Schichten der Stratosphäre in gut 50 km Höhe von einem ausmerksamen Strandgast auf Super-8-Film festgehalten wurde, von Linda Baker im Grand Teton National Park, deren Kamera in jenem Moment zufällig lief und die die weiße Rauchspur 26 Sekunden lang auf 461 Einzelbildern festbannte – sicherlich einer der berühmtesten Amateurfilme neben Abraham Zapruders Aufnahme des Attentats auf Präsident John F. Kennedy im November 1963. (Der gespenstische Zufall hat es gefügt, daß auch diese Sequenz eine Länge von genau 26 Sekunden aufweist, mit 486 Einzelbildern.) Seitdem sind dank der Überwachung des Nachthimmels durch automatische Panoramakameras und durch das Aufkommen von Überwachungskameras zahlreiche solcher Aufnahmen hinzugekommen – wenngleich auch keine solch spektakulären. Mediale Aufmerksamkeit erregte etwa die Feuerkugel, deren Bahn am 9. Dezember in der grönländischen Hauptstadt Nuuk von der Überwachungskamera eines Parkplatzes gefilmt wurde und die im folgenden Sommer Anlaß für eine dänische Suchexpedition auf die Eisdecke im Süden der Insel war; die Suche erwies sich als ergebnislos. (Auch hier erfolgte übrigens ein literarisches Echo: in Michael Marraks drittem Roman, „Imagon,“ 2002 in „H.P.Lovecrafts Bibliothek des Schreckens“ erschienen, endet die Suche nach diesem Besucher aus den Tiefen des Alls, wie man sich denken kann, in einer Begegnung der unangenehmen Art. In Wladimir Sorokins Roman-Trilogie „Bro,“ „Ljod: Das Eis“ und „23.000,“ im russischen Original zwischen 2002 und 2006 erschienen, übernimmt der Tunguska-Meteorit, der in diesem Erzählkosmos nicht explodiert, sondern ausgerageben worden ist, diese dämonische Rolle.)

Nach den Auswertungen der Flugbahn des „Great Daylight Fireball of 1972,“ die der tschechische Astronom Zdeněk Ceplecha 1994 anhand der Bilder von Linda Bakers Film vorgenommen hat, hat der Bolide ein gutes Drittel seine Masse bei seiner heißen Passage eingebüßt und ihn auf einen Durchmesser reduziert, der irgendwo zwischen 2 und 10 Metern liegt. Nach Ceplecha Berechnungen ist es möglich, daß die neue Umlaufbahn eine Resonanz zur Erdbahn von 25 Jahren aufweist, so daß eine „verschwindend kleine, aber nicht bei Null liegende Wahrscheinlichkeit“ besteht, das es im August 1997 und am 10. August 2022 zu weiteren nahen Passen kommen könnte. Cpelchas Berechnungen sind im 283. Band der Zeitschrift „Astronomy and Astrophysics“ veröffentlicht worden.



Was die Abwehr einer solchen Bedrohung betrifft, die Clarkes futuristischer „Space Guard“ obliegt und die Zettel in seinem Beitrag vom 16. Februar 2013 erörtert hat, so sind bislang keiner neuen Konzepte ersonnen worden, seit das Thema Mitte der 1970er Jahr sowohl in den Diskussionen für mögliche zukünftige Raumfahrtmissionen auftauchte und zum Aufhänger einiger Romane wurde. Ein kurzer Digest von Clarkes Text unter dem gleichen Titel, „The Hammer of God,“ ist am 15. Oktober 1992 im TIME Magazine abgedruckt worden. Allerdings war dies nicht, wie der Autor bedauernd feststellte, nicht der erste erzählende, fiktionale Text gewesen, den das Magazin gebracht hat; die Ehre war einige Jahre zuvor einem gewissen Alexander Solschenizyn vorbehalten gewesen. Clarke Kommentar: „I suppose you can’t get everything.“ Der gesamte Text der kleinen, gute 10 Buchseiten umfassenden Erzählung, kann übrigens hier auf Englisch nachgelesen werden.

Immerhin hat die Raumfahrtbehörde China im April dieses Jahres angekündigt, daß sie, beginnend mit dem Jahr 2026, eine tatsächliche Sondenmission mit dieser Zielsetzung durchführen will. Anfang Juli hat Lun Lehao, Direktor des Teams, daß für die Konstruktion der Startraketen vom Typ „Langer Marsch“ (Chengzhang) zuständig ist, in einem öffentlichen Vortrag weitere Details dazu bekannt gegeben. Demnach soll die Sonde zum kleinen Astroiden 2020 PN1 aufbrechen, der im August 2020 entdeckt worden ist und einen Durchmesser gut 40 Metern aufweist. Am Ziel soll die Mutterssonde zwei Komponenten aussetzen: zum einen eine Landesonde, die Material entnehmen soll – und zum anderen einen „Impaktor,“ der mit großer Geschwindigkeit auf dessen Oberfläche einschlagen soll – wobei eine eventuell auftretende Veränderung der Umlaufbahn durch die Beobachtung mit Teleskopen und in Radarbereich nachverfolgt werden soll. Diese chinesische Mission schließt damit eng an die vergleichbare Mission DART der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA an, dem Double Asteroid Redirection Test, die seit dem 24. November 2021 unterwegs zum Asteroiden Dimorphos ist. Dabei handelt es sich um die kleinere Hälfte eines Doppel-Asteroiden, gewissermaßen den Mond des Asteroiden Didymos. Während Didymos einen Durchmesser von 780 Metern aufweist, mißt sein 2003 entdeckter Trabant nur rund 160 Meter. Zwischen dem 26. September und 1. Oktober 2022, in gut 6 bis 7 Wochen also, soll die 500 kg schwere DART-Sonde, nach dem Aussetzen mehrere Kleinsatelliten („Cubesats“) zur Missionsbeobachtung, mit einer Geschwindigkeit von 6,6 Kilometern pro Sekunde, auf dessen Oberfläche einschlagen. Auch hier ist es das Ziel der kosmischen Tontaubenschießens, festzustellen, ob sich durch den Impakt eine Änderung der Umlaufbahn ergibt – und es sich möglicherweise lohnt, diesen Ansatz weiter zu verfolgen, um im Fall eines tatsächlich drohenden irdischen Einschlags praktische Maßnahmen dagegen treffen zu können. Zettel hat in seinem Beitrag darauf hingewiesen, daß bei einer solchen „kinetischen“ Sprengung die Gefahr besteht, daß zahlreiche Brocken – auf derselben Flugbahn – daraus resultieren könnten, die dann statt eines Einschlags Dutzende oder Hunderte zur Folge haben könnten. Allerdings würde die freigesetzte Energie für jedes einzelne Trümmerstück dadurch erheblich reduziert.

(*) Ich habe eingangs von einer möglichen Ausnahme gesprochen, als ich den Einschlag von Tscheljabinsk als „einzigen Versicherungsfall“ charakterisiert habe (tatsächlich dürfte die Gefahr durch himmlische Geschosse von keiner Lebenversicherung gedeckt werden. (in Harry Mulischs Roman „De ontdekking van de hemel“ (deutscher Titel „Die Entdeckung des Himmels“)aus dem Jahr 1992 in gleichen Jahr wie Clarkes Erzählung erschienen, wird einer der beiden Protagonisten des Buches, Max Delius, Astronom seines Zeichens, durch göttliche Gewalt gezielt von einem Meteoriten erschlagen, der vor Jahrmillionen auf die Bahn gebracht worden ist, an der er sich gerade in dem Augenblick aufhält, als ihm seine Beobachtungen enthüllen, daß die Bahn der Gestirne durch göttlichen Willen gelenkt wird. Zwei Monate bevor sich DART an der Spitze eines Falcon 9 von Elon Musks Firma SpaceX von der Vandenberg Air Force Base an der kalifornischen Pazifikküste auf den Weg machte, gab das amerikanische Archäologenteam um Steve Collins von der Trinity Southwest University in Albuquerque im September 2021 bekannt, daß nach ihren Grabungsergebnissen die Stätte Tell el-Hammam, im Süden Jordaniens gelegen, vor gut 3600 Jahren durch den Einschlag eines Meteors zerstört worden sei. Collins und seine Mitforscher sind der Ansicht, daß hier die Grundlage für die biblische Erzählung des Untergangs von Sodom und Gomorrha zu finden ist. Ich will zugeben, daß die Bilder von den abgescherten Maueresten, den Ascheschichten und den mikroskopischen Dünnschliffen, auf denen Glaskügelchen zu sehen sind, die bei der Hitzeentstanden sein sollen, auf mich als Laien zunächst durchaus Eindruck gemacht haben. Allerdings will ich gleich hinzufügen, daß Collins‘ Thesen, vorsichtig gesagt, „nicht unumstritten “ sind. Dazu zählt, aß er an einer Universität lehrt, die darauf ausgerichtet ist, zu lehren, daß die Berichte der Bibel wortwörtlich zu nehmen sind und die archäologische Forschung die Aufgabe hat, Beweise für diese Haltung beizutragen. Zudem gibt es bislang keine Bestätigung dieser Befunde durch unabhängige Ausgräber. Und in vielen Punkten wurden in Kritiken angebliche Widersprüche zwischen den beschriebenen Fundlagen und der Dokumentation durch mit mitgelieferten Fotografien bemängelt. Mark Boslaugh warf dem Team in der Ausgabe des „Skeptical Inquirer“ vom Januar/Februar 2022 sogar vor, Fotografien per Photoshop bewußt verfälscht zu haben. Nun ist dergleichen im Wissenschaftsbetrieb durchaus üblich. Praktisch keine bahnbrechende Erkenntnis ist ohne jahrelange prinzipielle Einwände geblieben; selbst die Erklärung, das „Aussterben der Dinosaurier“ vor 65 Millionen Jahren durch einen Asteroideneinschlag, wie sie 1980 von Walter und Luis Alvarez nach der Entdeckung von immens erhöhten Iridium-Anteilen in den Sedimentschichten jener Epoche vorgeschlagen worden ist, war mehr als ein Dutzend Jahre heftig umstritten – bis mit dem Nachweis der Konturen des Chicxulub-Kraters unter der mexikanischen Halbinsel Yucatan jenes „Smoking Gun“ gefunden wurde, der die meisten ungläubigen Thomasse seither hat verstummen lassen. Ich will nicht abstreiten, daß Collins und Co. hier tatsächlich Anzeichen für ein solches himmlisches Strafgericht ausgegraben haben könnten – aber so, wie die Nachweise zurzeit vorliegen, halte ich mich in meinem Urteil dazu noch bedeckt.







U.E.

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