8. Juni 2022

Eine wirkliche Mondrakete: Hin und wieder zurück





I.

Gestern, am 6. Juni 2022, dem Pfingstmontag („einem Feiertag, von dem niemand weiß, wozu er gut ist,“ schreibt Norbert Hummelt in seiner gerade erschienen Tour d’horizon „1922: Wunderjahr der Worte“ über das Annus Mirabilis der modernen Literatur, zum gleichen Termin vor einem vollen Jahrhundert), hat am frühen Morgen nach Ortszeit auf dem KSC, dem Kennedy Space Center in Florida, das SLS, das Space Launch System, die Mondrakete des Artemis-Programms der NASA, zum zweiten Mal seinen Weg von dem VAB, der Montagehalle, (Englisch „Vehicle Assembly Building“) zum LC-39B, dem Launch Complex 39, der Startrampe zurückgelegt. Und wenn beim Leser der Eindruck entsteht, die amerikanische Raumfahrtbehörde NASA, die National Air and Aeronautics Administration, laboriere an einem AKüFi, einem Abkürzungsfimmel, der jedem Militär zur Ehre gereichen würde, liegt er damit vollkommen richtig. (Bezeichnenderweise gibt es im Englischen nicht nur den obsoleten Fachausdruck „Acromania“ für eine verschärfte Form von Geisteskrankheit, sondern auch das Pendant „Acronymania,“ gemäß der Definition in Webster’s Dictionary „fervent or excessive enthusiasm for the use of acronyms or initialisms,“ zuerst 1960 als Neubildung im „New Scientist“ verwendet – der Kleine Zyniker vermutet einen gewissen Zusammenhang mit der zwei Jahre zuvor erfolgten Gründung einer gewissen Raumfahrtbehörde – und 1999 in der angesehenen medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ von David Sharop als klinisches Krankheitsbild klassifiziert (Band 353, S. P1728).)





(Offizieller AkÜFI der NASA für den Anfangsbuchstaben "D")

Der Transport des Ensembles der 98 Meter hohen Rakete, dem Starttisch und dem Startturm, beides unter ML (für „Mobile Launcher“) zusammengefaßt, alles zusammen mit einem Gewicht von 9700 Tonnen zum 6,8 km entfernten Startkomplex, auf dem gewaltigen Transporter (CT-2, für „Crawler-Transporter 2“) begann eine Viertelstunde nach Mitternacht floridianer Ortszeit (EDT, für „Eastern Daylight Time“) und endete nach zehneinhalb Stunden um 10:47, also 16:47 MESZ (für „Mitteleuropäische Sommerzeit“). In gut zwei Wochen, am Sonntag, dem 19. Juni, soll nun der zweite Versuch einer Probebetankung (WDR, für „Wet Dress Rehearsal“) mit drei Millionen Litern flüssigem Sauerstoff und Wasserstoff erfolgen, um nach erfolgreicher Absolvierung des Countdowns (für den es sinnigerweise keine Abkürzung gibt) wieder zurück zum VAB gefahren zu werden, um dann – hoffentlich – im August endlich doch in die Erdumlaufbahn und von dort auf einen gut dreiwöchigen unbemannten Probeflug zum Erdtrabanten starten zu können. Der Grund für diese dritte Rangierfahrt liegt darin, daß die NASA die Feststoff-Rettungsrakete (LAS, für „Launch Abort System“), die die Orion-Kapsel im Notfall in Sicherheit bringen soll, nur für 20 Tage lang für einen Einsatz freigibt, bis die Tankfüllung erneuert werden muß. In gewisser Weise entspricht das Profil dieser unbemannten Mission, Artemis-1, den beiden Erstflügen aus dem Apollo-Mondflugprogramm vor einem halben Jahrhundert, die ziemlich in Vergessenheit geraten sind: Apollo 4 und Apollo 6, vom November 1967 und April 1968. Allerdings gelang es in Fall von Apollo 6 nicht, die Kapsel wie geplant auf den Kurs zum Mond zu bringen, weil die dritte Stufe der Saturn-V-Trägerrakete nicht zündete (außerdem hatten sich zwei der drei Triebwerke der zweiten Stufe viel zu früh abgeschaltet).

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Vor drei Wochen hat die NASA die Termine für die möglichen Startfenster bis zum Ende dieses Jahres bekanntgegeben, die zur Durchführung dieses Fluges zur Verfügung stehen. Die zu beachtenden Bedingungen geben dem Profil dafür etwas durchaus barock Anmutendes. So darf sich die Kapsel nicht länger als 90 Minuten im Schatten der Erde oder des Mondes bewegen; die Position des Erdbegleiters muß so liegen, daß die Kapsel beim Vorbeiflug in eine „verkehrt umlaufende“ weite Parabelbahn (DRO, für „distant retrograde orbit“) einschwenken kann, und der Punkt der Rückkehr nach Terra muß so gewählt sein, daß das erstmals gewählte Eintrittsverfahren die Kapsel bei Tageslicht im Stillen Ozean wassern läßt. Um die immense Geschwindigkeit in den oberen Schichten der Stratosphäre loszuwerden, wo die Dichte die Aufheizung durch die Reibung in den Grenzen hält, die die der Hitzeschild ausgelegt ist, wird statt des direkten Eintritts ein SE gewählt (für „Skip Entry“ - auch Skip Re-Entry genannt), bei dem die Kapsel in einem genügend flachen Winkel niedergeht, um wieder in die Höhe zu steigen und das Manöver mit verminderter Geschwindigkeit ein- oder mehrere Male zu wiederholen – nicht unähnlich einem Kiesel, der über einer Wasseroberfläche geschleudert wird. Damit entspricht diese Technik der Idee, die zuerst von Eugen Sänger für die „Wunderwaffe“ des „Silbervogels“ vorgesehen war, den er 1942 konzipierte, der als „Antipodenbomber“ in der Lage sein sollte, von Europa aus die Vereinigten Staaten zu bombardieren und zum Schluß nach einem Flug von bis zu 24.000 Kilometern im Pazifik zu landen, immer wieder durch die Atmosphäre in die Höhe geworfen. Ob eine aus 80 Kilometern Höhe ungesteuert abgeworfene einzelne 4 Tonnen schwere Bombe in New York die gewünschte kriegsentscheidende Wendung herbeigeführt hätte, bezweifelt der Kleine Zyniker ebenso die das RLM - für „Reichluftfahrtministerium“ - die das 900-Seiten-Konvolut der Geheimen Kommandosache Nr. 4268/LXXX5 umgehend in die Runde Ablage abwarf. Auch das Projekt des „Dyna-Soar“ (für „Dynamic Soaring“), das die USAF (für United States Air Force) zwischen 1960 und 1963 als Konkurrenzprojekt zu den Unternehmen Mercury und Gemini der NASA entwickelte, fußte auf diesem Prinzip. Die X-20, von Boeing als Nachfolgermodell des Raketenflugzeugs X-15 als „wirkliches Raumfahrzeug“ geplant wurde, wurde im Januar 1963 vom amerikanischen Kongreß aus dem Budget gestrichen – um sich die doppelten Kosten für die Entwicklung zweier konkurrierender System zu ersparen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß just zu dem Zeitpunkt, an dem die Erprobung und Freigabe eines neuen bemannten Raumflugsystems der NASA ansteht, der „Starliner“ – gebaut von eben: Boeing – seinen Erstflug zur ISS (für „International Space Station“) absolviert hat. Einer der sieben Piloten, die im April 1960 für das Dyna-Soar-Programm ausgesucht wurden, war übrigens Neil Armstrong.



(Schematik des "Skip Entry")





Nach dem jetzigen Fahrplan stehen für den kommenden Juli zwischen dem 26. Juli und dem 10. August 13 Starttermine zur Verfügung (mit Ausnahme des 1, 2. und 6. August), vom 23. 8 bis zum 6. 9. deren 12 und vom 20. 9. bis zum 4. 10. insgesamt 14. Falls die Rakete nach Abbruch eines Startversuchs noch (bzw. schon) vollbetankt ist, dürfen nur 3 Startversuche im Zeitraum von sieben tagen erfolgen; zwischen den ersten beiden müssen 48 Stunden liegen, und zwischen einem abgebrochenen zweiten und dem dritten müssen 72 Stunden vergehen.



Apropos „abgebrochen“: Notwendig geworden ist die erneute Fahrt zur Startrampe, weil die drei Betankungsversuche bei der Durchführung eines Countdowns im April „auf halber Strecke“ abgebrochen werden mußten. Beim ersten Versuch am 3. April kam es zu einer Störung bei der Zuleitung von Stickstoff. Falls sich jemand fragt, was ausgerechnet dieses inerte Gas bei der Betankung einer Rakete mit Wasserstoff und Sauerstoff zu suchen hat, deren Knallgasreaktion für den Schub sorgt: die Druckleitungen für diese verflüssigten Gase werden davon umspült, damit beim es beim Auftreten von Leckagen nicht zu einer ungeplanten Reaktion mit dem Luftsauerstoff kommt. Am folgenden Tag kam es zu Problemen bei der Zuleitung von flüssigem Sauerstoff in der Haupttank der Startstufe sowie einem Ventil für die Zuleitung von flüssigem Helium in der zweiten Stufe. Und falls sich jemand fragt, was dieses nun ganz und gar reaktionsunfreudige Gas in einer solchen Apparatur zu suchen hat: die Zweitstufe enthält einen Kranz von 10 Tank mit Helium, mit dem der Inhalt der eigentlichen Treibstofftanks unter Druck gesetzt wird. Nach dem Brennschluß der Startstufe und der erfolgten Stufentrennung herrscht dort Schwerelosigkeit (μg, für „micro gravity“) und ohne einen solchen Druck wird der Inhalt nicht in die Zuleitungen in Richtung der Brennkammern der Triebwerke gedrückt. (Aus diesem Grund kann dieses Malheur nicht beim Start auftreten.) Beim dritten Betankungsversuch 10 Tage später, am 14. April, wurde auf eine Betankung der zweiten Stufe verzichtet, und auch ein neues Problem bei der Stickstoffeinleitung ließ sich beheben – allerdings gab es Anzeichen für ein Austreten von Wasserstoff – freilich nicht an der Rakete selbst, sondern an der Zuleitung im Startturm (TSMU, für „Tail Service Mast Umbilical“).



In der Folge entschied sich die Einsatzleitung, das gesamte Ensemble zurück ins VAB zu fahren, was am 26. April passierte. In den Wochen seitdem sind die Dichtungsringe der Wasserstoff-Zuleitung fester angezogen worden und das Heliumventil ausgetauscht worden; es stellte sich heraus, daß dessen Klappe durch ein kleines Fragment einer Gummidichtung blockiert worden war. Die Hoffnung, daß eine Wiederholung dieser Mißgeschicke beim erneuten Durchlauf unterbleibt, gründet sich bis zur Durchführung auf die alte Ingenieurshoffnung, daß „Gremlins“ und ähnliche technologisch versierte Plagegeister Wert auf Variation ihrer Sabotagen legen. Trost bietet der Rückblick – im Vorfeld des ersten Starts eines Space Shuttles (STS, für „Space Transportation System“) am 12. April 1981, dem 20. Jahrestag des ersten bemannten Raumflugs von Major Juri Gagarin, waren sogar vier „Rollouts“ nötig. Warum man bei der NASA in dieser Hinsicht empfindlich ist, macht der Blick in den Rückspiegel ebenfalls klar: Zeitzeugen des ersten Mondflugprogramms vor einem halben Jahrhundert erinnern sich deutlich an die Beinahe-Havarie von Apollo 13 im April 1970 (wer nur den Film von 1995 mit Tom Hanks in einer der Hauptrollen kennt: ja, das „beruht auf einer wahren Geschichte“), als die Explosion eines der beiden Sauerstofftanks im Versorgungsmodul der Raumkapsel die Energieversorgung, die Wasserversorgung und die Steuerungsmöglichkeit des Raumschiffs zerstörte. Selbst die drei Astronauten waren über das Ausmaß der Schäden entsetzt, als sie nach dem Erreichen der Erdbahn und der Abtrennung der Kapsel für die Landung die zerfetzte Hälfte des Moduls sahen. Der Satz „There’s a whole side of that spacecraft missing!” den Kommandant Jim Lovell um 11 Uhr 43 am 17. April 1970, drei Minuten vor dem Wiedereintritt in die Atmosphäre, funkte, ließ die Bodenstation das Schlimmste befürchten, bis die Kapsel dann an aus dem Kanal ionisierter Luft auftauchte, der bei landenden Raumfahrzeugen für ein gut drei Minuten langes Funkloch sorgt.



Die spätere Untersuchung ergab, daß die Explosion auf ein klemmendes Ventil zurückzuführen war, daß dafür gesorgt hatte, daß sich der Tank nicht, wie es vorgesehen war, vollständig entleert hatte. Eines der Heizelemente, die den flüssigen Sauerstoff für kurze Zeit aufwärmen sollten, um die Bildung von Schichten mit unterschiedlicher Dichte zu verhindern , wies zudem eine beschädigte Isolation auf. Der Kurzschluß bei der Pumpaktion setzte dann die Teflon-Isolation in Brand. All das zusammen führte dann zur Katastrophe. Der Tank mit der Seriennummer 10024X-TA0008 war ursprünglich für die Mission Apollo 10 vorgesehen gewesen und dann durch einen modifizierten Tank ersetzt worden. Beim Ausbau war er aus der Halterung des Krans abgerutscht und gut einer Höhe von gut 5 Zentimeter auf den Boden der Montagehalle aufgeschlagen, wobei diese Schäden auftraten. Bei der letzten routinemäßigen Überprüfung vor dem Start, am 29, März wurde festgestellt, daß die „Entlüftung“ des Sauerstoffs im Tank nicht ordnungsgemäß vonstatten ging, und entscheid sich, die Heizelemente etwas länger laufen zu lassen, indem man sie 8 Stunden lang laufen ließ. Die Automatik im Tank war so ausgelegt, daß die Stromzufuhr abgeschaltet wurde, wenn die interne Temperatur 26 Grad Celsius (80 Grad Fahrenheit) überstieg. Die Dauererhitzung führte dazu, daß der Abschaltungsmechanismus „festbuk“ und somit unwirksam wurde; die Meßfühler waren nur darauf ausgelegt, Temperaturen mit zu 80 Grad Fahrenheit zu messen, so daß die extreme Aufheizung von mehr als 500 Grad (Celsius) nicht registriert wurden.



II.

Auf einem anderen Blatt steht, daß mich (als dem Kleinen Zyniker) der leise Verdacht plagt, an diesen technischen Unpäßlichkeiten (des SLS, wohlgemerkt) könnte frivolerweise dieses Netztagebuch eine gewisse Mitschuld tragen. Bei Gelegenheit des ersten Ausflugs zur Startrampe vor fast drei Monaten schrieb ich an dieser Stelle:

… es wird Ernst, es ist tatsächlich soweit. Nach Jahren der Verzögerung, des immer weiteren Aufschiebens und der neuen Terminsetzung wurde hier sozusagen mit Händen greifbar deutlich: das „Unternehmen Artemis“ ist in seine heiße Phase eingetreten. In einem oder zwei Monaten, spätestens im August – in wenigen Wochen also – wird tatsächlich vom „Weltraumbahnhof“ des Kennedy Space Center eine Rakete – und genau diese Rakete – in die Erdumlaufbahn abheben und von dort die „Orion“-Raumkapsel auf den Weg zum Erdtrabanten schicken.


Einigen Generationen von humanistisch erzogenen Schülern, die für die „Sagen des Klassischen Altertums“, die Gustav Schwab zwischen 1838 und 1840 in drei Bänden herausgab, zur unabdingbaren Jugendlektüre gehörten - oder im englischen Sprachraum deren Pendant „Bullfinch’s Mythology“ der amerikanischen Autors Thomas Bullfinch (1796-1867), die in seinem Todesjahr aus den drei Nacherzählungen der Sagen aus der Antike, Karls des Großen und seiner Paladine und der Tafelrunde um König Artus zusammengefaßt wurden – war es noch geläufig, daß solche unvorsichtig geäußerten Zuversichten für die Bewohner des Olymps stets eine, sagen wir „sportliche Herausforderung“ darstellten, die sie gerne annahmen. Und gerade Apollo wie auch seine Zwillingsschwester Artemis, in deren Namen das erste Mondlandeprogramm und seine anstehende Neuauflage stattfinden, haben sich in dieser Hinsicht als recht hellhörig erwiesen. So etwa bei der Konsequenz für den Satyr Marsias, der die Stirn hatte, Apollo (als Spiritus Rector der Künste) im musikalischen Wettbewerb herauszufordern. Marsyas‘ Flötenspiel brachte die Musen und die Nymphen auf dem Berg Nysa zum Tanzen, aber Apollos Leierspiel brachte sie zum Weinen. Als Strafe dafür, einen Unsterblichen herausgeordert zu haben, wurde Marsyas von Apollo lebendig gehäutet. Die Schilderung dieser Szene, die sich im sechsten Buch von Ovids „Metamorphosen“ (Zeilen 382 bis 400) findet, sollte man auch als abgebrühter Nachgeborener nur bei starker Nervenkonstitution und auf nüchternem Magen lesen. In solchen Szenen kommt – ganz anders als es Schwab und Bullfinch vermitteln - die dunkle, gnadenlose Rückseite der antiken Mythenwelt unverstellt zum Vorschein. Und Artemis und ihr Bruder waren es, an die sich ihre Mutter, die Titanin Leto wandte, nachdem Niobe, die Gattin des Amphion, des Königs von Theben, sich vor ihr damit gebrüstet hatte, sie habe ihrem Gatten 14 Kinder geboren, Leto aber nur deren zwei. Daraufhin erschossen Artemis und Apollo die Niobiden, die sieben Söhne und sieben Töchter, mit Giftpfeilen: Artemis die Töchter und Apollo die Söhne. Niobe, vor Schmerz über den Verlust wahnsinnig geworden, wurde von den Göttern in ihre kleinasiatische Heimat zurückgebracht und erstarrte dort an dem Gipfel des Bergs Sypilos, dem heutigen Spil Dağı in der türkischen Provinz Manisa, dem Herzland des antiken Lydien, zu einem Stein – der aber weiterhin unablässig Tränen vergoß. (Auch diese Geschichte findet sich im VI. Buch der „Metamorphosen,“ in den Zeilen 145 bis 310.)



(Jacques-Louis David, "Apollon et Diane attaquant Niobé et ses enfants," 1772. Falls sich jemand fragt, wie die römische Göttin Diana in diesen Mythos gelangt ist: Diana, ursprünglich im italienischen Latium als Göttin des Waldes verehrt, wurde schon bald nach der Eroberung durch die Römer in den lateinischen Götterkreis integriert und in der Folgezeit als Pendant zur griechischen Artemis gesehen, deren Rolle sie in den mythologischen Erzählungen oft übernahm – ohne jemals ganz mit ihr zu verschmelzen.)



(Niobes Fels auf dem Sypilos)

(Eine kleine pedantische Fußnote: Gustav Schwab hat nichts mit seinem nachgeborenen Namensvetter Klaus Schwab zu schaffen. Der einzige Sohn des schwäbischen Pfarrers, Christoph Theodor Schwab, erster Biograph Hölderlins und erster Herausgeber seiner Werke, hatte nur zwei Töchter, die das Erwachsenenalter erreichten, Sophie Henriette und Clementina Sophie, die ihrerseits kinderlos starben.)

Bei Thomas Bullfinch heißt es im 9. Kapitel seiner Nacherzählungen aus dem „Zeitalter der Fabeln,“ „The Age of Fable,“ die als separater Band zuerst 1855 veröffentlich worden sind:

Die Göttin war erzürnt. Auf dem Gipfel des Berges Cynthus, auf dem sie ihren Wohnsitz hatte, wandte sie sich an ihren Sohn und ihre Tochter: „Meine Kinder, ich, die ich stets so stolz auf euch gewesen bin und mich für die größte der Göttinnen außer Juno allein erachtet habe, zweifle jetzt daran, ob ich wirklich eine Göttin bin. Man wird mich nicht mehr verehren, wenn ihr mich nicht beschützt.“ In dieser Weise fuhr sie fort, aber Apollo unterbrach sie: „Sag‘ nichts mehr,“ sprach er: „Solches Reden hält die kommende Strafe nur auf.“ Auch Diana sprach so. Sie eilten durch die Lüfte, in Wolken verborgen und ließen sich auf den Türmen der Stadtmauer nieder. Vor ihnen breitete sich eine weite Ebene aus, auf der sich die Jugend der Stadt im Wettkampf übte. Dort waren die Söhne der Niobe unter ihnen, manche auf feurigen, reich gesattelten Pferden, manche Wagen lenkend. Ismenos, der Erstgeborene, der seine schäumenden Rosse zügelte, schrie auf: „Ah!“, als ihn ein Pfeil von oben traf, lief die Zügel fallen und fiel leblos zu Boden. Ein anderer, der das Klatschen der Bogensehne hörte, gab seinen Pferden die Peitsche, wie ein Fährmann, der sieht, wie der Sturm aufkommt und Kurs auf den Hafen setzt, und versuchte zu fliehen. Zwei weitere, beides jüngere Söhne, hatten sich auf dem Sandplatz im Ringkampf gemessen. Sie standen Brust an Brust, als sie ein Pfeil beide durchbohrte. Sie stießen gemeinsam einen Schrei aus, sahen sich in die Augen, und taten gemeinsam ihren letzten Atemzug. Alphenor, einer der älteren Brüder, der sie niederfallen sah, eilte hinzu, um ihnen zu helfen, und fiel bei dieser Bruderpflicht. Nur einer war noch geblieben, Ilioneus. Er hob seine Arme zum Himmel empor, um Hilfe im Gebet zu suchen. „Verschont mich, ihr Götter!“ rief er, an alle Götter gewandt, weil er nicht wußte, wen er anrufen mußte, und Apollo hätte ihn verschont, aber der Pfeil war schon von der Sehne gelöst, und es war zu spät.


Wollen wir hoffen, daß die Olympischen diesmal etwas gnädiger verfahren.

III.

Aber es gibt noch eine weitere, unerwartete Klammer zwischen den antiken Himmlischen und der technisch antizipierten Fahrt in die Bereiche jenseits des Irdischen. („‘In den Himmel kommen‘ muß ursprünglich geheißen haben: ‚unter die Gestirne versetzt zu werden‘,“ heißt es 1975 in Bild 51 von Arno Schmidts letztem fertiggestelltem Typoskriptband „Abend mit Goldrand,“ einen Gedanken aus den psychoanalytischen Studien von Karl Abraham aufnehmend.) Der Herausgeber, der die drei Bände von Bullfinchs Nacherzählungen in dessen Todesjahr 1867 zu einem Band bündelte und textlich überarbeitete, war Edward Everett Hale (1822-1909), dessen Kurzgeschichte „The Man Without a Country“ aus dem Jahr 1863 für viele US-amerikanische Schülergenerationen ein ungeliebtes Schrecknis darstellte, dem ansonsten nur die patriotischen Balladen von Henry Wadsworth Longfellow gleichkamen (im deutschen Sprachraum stellten Schillers Ballanden, besonders „Das Lied von der Glocke“ eine solche Heimsuchung dar). Hales brachial-patriotischer Text, dessen Protagonist sich noch zu Lebzeiten Napoleon Bonapartes, von seinem Vaterland enttäuscht, wünscht, nie wieder etwas davon zu hören, wird vom Richter, vor dem er im Gericht dies als rüden Fluch äußert, dazu verurteilt, den Rest seines Lebens als Matrose auf den Schiffen der Marine zu verbringen, ohne daß die Offiziere und Mannschaften ihm Nachrichten über die Entwicklung in seinem verlorenen Vaterland mitteilen oder es auch nur erwähnen. Nach seinem Tod stellt sich heraus, daß er seine winzige Kajüte in einen Schrein mit dem Sternenbanner und dem Konterfei Washingtons verwandelt hat. Hale schrieb seine Erzählung, um den nachlassenden Hurra-Patriotismus in den Nordstaaten wieder anzufachen, nachdem Abraham Lincolns Wahl seiner Generäle dafür gesorgt hatte, daß die Union auf dem Schlachtfeld fortwährend den Armeen der Konföderierten unterlegen gewesen waren. Das Ergebnis der anonymen Veröffentlichung in der Dezemberausgabe 1863 des „Atlantic Monthly“ hatte zur Folge, daß viele Leser den Leutnant Philip Nolan für einer historische Gestalt hielten.

Aber nicht deswegen ist Hale heute (in sehr bescheidenem Maß) im Gedächtnis einiger Leserkreise geblieben. Als einziger Text aus seinem ansonsten völlig vergessenen Oeuvre findet sich heute noch die Erzählung „The Brick Moon“ gelegentlich erwähnt, die ebenfalls im „Atlantic Monthly“ in drei Fortsetzungen vom Oktober bis Dezember 1869 erschienen ist. Und in dieser Geschichte findet sich die allererste literarische Schilderung eines künstlichen Erdsatelliten überhaupt – eben jenes aus Backsteinen gefertigten Kunstmonds. Hales Text ist ein besonders schlagendes Beispiel für die sogenannte „Proto-SF,“ da es ihm so ziemlich an allen technischen Versatzstücken gebricht, um Bau, Versorgung und Start eines solchen Trabanten literarisch auszugestalten. Sein Kunstmond wird als 60 Meter durchmessende Kugel aus Backsteinen gemauert und mit Hilfe einer gewaltigen Zentrifuge in den Orbit geschleudert. Gedacht ist der Kunstmond als Navigationshilfe; der versehentlich zu früh erfolgte Start führt dazu, daß sich die Monteure, die unfreiwillig zu den ersten Raumfahrern werden, durch Improvisation am Leben erhalten müssen. Die Kommunikation erfolgt durch das Arrangieren überschüssiger Ziegel auf der Außenseite des Satelliten in Buchstabenform. (Asaph Hall, der 8 Jahre später, 1877 während der Opposition des Mars dessen beide Begleiter Deimos und Phobos entdeckte, verglich in einem Brief an Hall den kleineren der Marsmonde, Deimos explizit mit dessen Backsteinmond. Ein nettes Echo hat diese kleine Episode fast ein Jahrhundert später gefunden, als der sowjetische Astronom Jossif Schklowskij (1916-1985) 1959 aufgrund einer irrigen Dichteberechnung des zweiten, inneren Marsmond Phobos zu dem Schluß gelangte, hier handele es sich um eine Hohlkugel aus Metall, und mithin um einen künstlichen Satelliten der Marsbewohner.)

Aber wie es der Zufall will, überschneidet sich der Erscheinungstermin der Hale'schen Story genau mit jener anderen "ersten literarischen Weltraumfahrt" - mit Jules Verners Fortsetzung zu "De la terre à la lune", die 1865 mit dem Abfeuern der Kanone in Flirda geendet hatte, die Barbicane und seine beiden Begleiter vom Bostoner Gun Club auf den Weg zum Erdtrabenten schoß. In "Autour de la lune," zuerst als Fortsetzungsroman im Journal des Débats vom 4. November bis zum 8. Dezember 1869 gedruckt, haben wir es zwar nicht mit einem Satelliten im Orbit zu tun, aber mit einem wesentlich durchdachteren Fahrzeug für die Befahrung der Weltraumtiefen - auch wenn Vernes Startmethode um nichts weniger irreal wirkt als Hales. Erst die Entwicklung des Prinzips des Raketenantriebs gab den Autoren die Möglichkeit, ihre Helden mit einigermaßen glaubwürdigen Apparaten zur Erkundung des Kosmos aufbrechen zu lassen. Und wie es der Zufall will, fand exakt 100 Jahre nach diesem Vorabdruck die zweite Mondlandung des Apollo-Programms statt, zwischen dem 14. und dem 24. November 1969.

IV.

Aber vielleicht weiß ja das täglich grüßende Murmeltier besser Bescheid und behält auch dieses Mal recht:



Der Untertitel dieses Blogbeitrags verdankt sich der erzählerischen Erstveröffentlichung von J.R.R.Tolkien, "The Hobbit," dessen Subtitel lautet: or There and Bach Again. Seit einiger Zeit findet sich das als Charakterisierung von Texten, deren Helden nach langwieriger Kreisfahrt, geläutert oder nicht, wieder an den Ausgangspunkt ihrer Aventiure zurückkehren. Der bekannteste dieser Wanderer findet sich bekanntlich ebenfalls im Umfeld der Götter des Olymp: der Wanderer aus Ithaka, dem, mutatis mutandis, James Joyce vor genau 100 Jahren seinen uferlosen Roman gewidmet hat.

(PS. Der Kleine Pedant weiß natürlich, daß Dr. Sharop im „Lancet“ nicht den AKüFi als „klinisches Krankheitsbild“ beschrieben hat, sondern dort Klage über die einreißende Unsitte geführt hat, medizinische Fachartikel mit nicht ausgelösten Kürzeln anzureichern) und das Verständnis für nicht-Spezialisten deshalb unnötig zu erschweren.)





U.E.

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