12. Mai 2022

"Wie nett, Sie zu kennen, Herr Lear!"





"How pleasant to know Mr.Lear!"
Who has written such volumes of stuff!
Some think him ill-tempered and queer,
But a few think him pleasant enough.

His mind is concrete and fastidious,
His nose is remarkably big;
His visage is more or less hideous,
His beard it resembles a wig.

He has ears, and two eyes, and ten fingers,
Leastways if you reckon two thumbs;
Long ago he was one of the singers,
But now he is one of the dumbs.

He sits in a beautiful parlour,
With hundreds of books on the wall;
He drinks a great deal of Marsala,
But never gets tipsy at all.

He has many friends, lay men and clerical,
Old Foss is the name of his cat;
His body is perfectly spherical,
He weareth a runcible hat.

When he walks in waterproof white,
The children run after him so!
Calling out, "He's gone out in his night-
Gown, that crazy old Englishman, oh!"

He weeps by the side of the ocean,
He weeps on the top of the hill;
He purchases pancakes and lotion,
And chocolate shrimps from the mill.

He reads, but he cannot speak, Spanish,
He cannot abide ginger beer:
Ere the days of his pilgrimage vanish,
How pleasant to know Mr. Lear!



“Wie nett, Sie zu kennen, Herr Lear!“
Der hat seltsame Bücher geschrieben.
Zumeist gilt er als Grantler und wirr,
Doch für ein paar ist er harmlos geblieben.

Sein Verstand ist scharf und präzise.
Seine Nase ist bemerkenswert groß.
Seine Visage ist eine recht miese.
Sein Bart ist ein Urwald aus Moos.

Er hat Ohren, zwei Augen, und der Finger Stück zehn
(Jedenfalls wenn man die Daumen mitzählt).
Vorzeiten konnt‘ er noch als Sänger durchgehn,
Doch jetzt ist er mit Stummheit gequält.

Er sitzt in einem feinen Saal, da
Stehen hunderte Bücher in Reih’n.
Er süffelt fortwährend Marsala
Ohne jemals beschickert zu sein.

Zu Freunden zählt er Laien und Geistliche.
Und „Old Foss,“ so heißt seine Katze.
Seine Gestalt ist eine kugelrund-feistliche
Mit einem runzlichten Hut auf der Glatze.

Will er den Regenmantel ausführen
Rennt die Kinderschar hinter ihm her,
„Da geht er im Nachthemd spazieren,
Der spinnerte Engländer, der!“

Er weint an des Ozeans Gestade
Er weint auf des Bergs lichten Höhn.
Er kauft Pfannkuchen ein und Pomade
Und Schokoladenkrabben beim Müller erstehn.

Er liest Spanisch, doch kann’s nicht parlieren.
Er erträgt keinesfalls Dunkelbier.
Eh‘ sich seine irdischen Spuren verlieren:
Wie schön, Sie zu kennen, Herr Lear!

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Nachdem an dieser Stelle vor kurzem anlässlich des „Twitterplags“ schon einer Klassiker der englischen „Nonsense Poetry,“ nämlich Lewis Carroll, zum Anlaß einer Hommage genommen wurde, möchte ich diesmal seinem Kollegen Edward Lear (1812-1888) und einem seiner bekanntesten Gedichte Reverenz erweisen. Lear, in Holloway in Norden London als 21. (!) Kind seiner zur Mittelklasse zählenden Eltern geboren, war zu seinen Lebzeiten eher als Maler bekannt, den es wie so viele seiner Landsleute an die wärmeren Regionen rund um das Mittelmeer zog, und für die 42 handkolorierten Steindrucke der Papageienarten aus der Haltung seiner ersten Mäzens Edward Smith Stanley, dem späteren 13. Earl of Derby, die 1832 sein erstes Werk bildeten und die ihm eine Stelle als Zeichenlehrer bei der jungen Königin Victoria einbrachten.



Den Nachgeborenen ist er aber als der Verfasser zahlreicher Nonsens-Gedichte im Gedächtnis geblieben wie „The Dong with the Luminous Nose“ oder „The Owl and the Pussycat,“ die seitdem zum eisernen Bestandteil frühkindlicher Begegnungen mit der Macht des geschriebenen Wortes darstellen und die ab 1846, begleitet von schlicht anmutenden Strichzeichnungen in einer Reihe von Sammlungen erschienen. Lear war der erste, der – angefangen mit dem „Book of Nonsense“ von 1846 – sich jener Form bediente, die seither als „Limerick“ bekannt ist. 212 davon finden sich in seinen Büchern. Freilich gibt es noch einen kleinen Unterschied zum Fünfzeiler der späteren Ausprägung: Lear beginnt zwar nach dem Muster, „eine junge Person aus X“ zu wählen, aber in der Regel wird als Abschlußzeile nur der Anfangsvers wiederholt ohne Volte oder Pointe – und zudem verzichtet Lear, nicht überraschend, auf die oft schlüpfrige bis obszöne Natur dieser Pointe. Ein heutiger Limerick sollte etwa so aussehen (ich improvisiere mal kurz):

Ein junger Mann aus Salzgitter,
Geriet in ein Sommergewitter.
Sein Johannes dient seither
Ihm als Blitzableiter,
Und ES definiert sich als Zwitter.



Während es bei Lear noch unschuldig heißt:

There was an Old Person of Dean,
Who dined on one pea and one bean;
For he said,"More than that
would make me too fat,"
That cautious Old Person of Dean.



(Edward Lear, "Masada am Toten Meer," 1858)



("Die Pyramiden," 1842)

Lear, der sein gesamtes Erwachsenenleben am Mittelmeer, zumeist in Italien, aber auch auf Reisen durch Griechenland, Albanien, Ägypten und dem Heiligen Land verbrachte, schlug sein Domizil ab Anfang der 1870er in Sanremo an der italienischen Reviera, gute 20 Kilometer von der französischen Grenze entfernt, auf, zuerst in der „Villa Emily,“ die er sich 1871 bauen ließ und nach der Frau seiner Freundes Alfred, Lord Tennyson, benannte. Nachdem ihm ein Nachbar die Aussicht mit einem klotzigen Hotelbau versperrt hatte, verkaufte er das Haus und ließ nach den gleichen Bauplänen ein zweites direkt an Ufer errichten, als „Villa Tennyson.“ Als Grund für die Parallele gab Lear an, der beste und einzige Gefährte seiner späten Jahre, sein Kater Foss, solle sich dort sofort zuhause fühlen. Foss war 1873 als junges Kätzchen zum Chef seines Dosenöffners aufgestiegen, aber als er am 26. November 1887 starb, zwei Monate vor dem Hintritt seines Menschen, ließ Lear ihm einen Grabstein mit der Inschrift „Qui sotto sta sepolto il mio buon gatto Foss. Era in casa mia 30 anni e mori il 26 7est 1887 di eta 31 anni“ auf seine letzten Ruhestätte unter einem Feigenbaum im Garten setzen.



("Palermo, Italien")

Leider hat sich dieser Stein nicht erhalten. Nach Lears Tod wurde die Villa Tennyson verkauft, abgerissen und durch ein – richtig! – Hotel ersetzt, das heutige Royal Hotel. Die Villa Emily in der heutigen Via Hope wurde später zu einer Gästepension unter den Namen Villa Verde alla Foce; im April 1934 wurde sie von Dora Sophie Kellner erworben, die als Jüdin vor der Machtergreifung der Nazis aus Berlin geflohen war. Dora Kellner war die erste Ehefrau von Walter Benjamin, von dem sie 1930 geschieden worden war. Die dürftigen Verhältnisse der Emigration machten ein Zusammenraufen trotz des gründlich zerrütteten Verhältnisses unausweichlich, und so verbrachte Walter Benjamin zwischen November 1934 und Januar 1938 insgesamt fünf mehrwöchige Aufenthalte dort, während denen er zwei Kapitel seiner Erinnerungen „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert,“ seinen Essay über Kafka und Teile des „Passagen-Werks“ niederschrieb. (Der Kleine Zyniker, der wenig von Benjamins Schaffen als Essayist hält, verbucht das unter „Traditionswahrung mittels Genius loci.“) Zum Jahreswechsel 1937/38 gesellten sich noch Theodor Adorno und seine Frau und Richard Beer-Hofmann dazu.









(Und wie es der Zufall will, wird von Eva Weissweiler, die 2020 eine Doppelbiographie von Walter Benjamin und Dora Kellner unter dem Titel „Das Echo deiner Frage: Biographie einer Beziehung“ bei Hoffmann und Campe veröffentlicht hat, im August 2022 das Buch „Villa Verde oder Das Hotel in Sanremo: Das italienische Exil der Familie Benjamin“ bei btb, - geb., 220 S., 22.-€ - erscheinen. Als ich mit diesem Text heute nachmittag begonnen habe, hatte ich davon noch keine Ahnung. Großes Indianerehrenwort!)



("How Pleasant to Know Mr. Lear" erschien zuerst 1887 als Auftakt zu einer Neuauflage von "A Book of Nonsense." Meine Anverwandlung ist übrigens ohne jeden Seitenblick auf die vorigen Überfahrten ins Deutsche von H. C. Artmann und Hans Magnus Enzensberger erfolgt; und ja: ich bin mir bewußt, das „Ingwerbier“/Ginger Ale durchaus nicht das gleiche wie „Dunkelbier,“ Englisch „Dunkel“ oder „Dunkels“ darstellt, außer in seiner Ungenießbarkeit. Und wie Mr. Lear lese ich das Spanische recht kommode, spreche es aber nicht. Das Gleiche gilt übrigens auch für das Italienische und das Russische.)





* * *

Al Stewart, dessen bekantester Song (sehr passend zum Thema) "The Year of the Cat" aus dem Jahr 1976 ist, hat Mr. Lear und genau diesem Gedicht auf seinem 15. und vorletzten Album "A Beach Full of Shells" aus dem Jahr 2005 mit dem Titel "Mr. Lear" eine Hommage gesetzt.



How pleasant to know Mr. Lear
How pleasant to know at the end of the day he's near
With a portfolio that daily features diverse creatures

You open the book and it's true
The world is a lot more mysterious than we knew
Round every corner unusual things are prone to wander

When I was a young man I was oft-times at the zoo
To trace the visages and forms of parrots and cockatoos
It's over the hill now he goes

Pausing a while with the Pobble who has no toes
For your perusal, Victorian days are so unusual
Oh my aged Uncle Arly, sitting on a heap of barley
On his nose his faithful cricket
In his hat a railway ticket
But his shoes were far too tight

How pleasant to know Mr. Lear
In Egypt, the first day of spring
You're painting a watercolor, hoping the light will bring

Guided by pens and inks, the pyramids and palms and sphinx
When I was an old man, I had a cat named Foss
Now he's gone I wander on
With this unbearable sense of loss

How pleasant to know Mr. Lear
How pleasant to know at the end of the day he's near
And if you should find him
His world is dancing close behind him

Aber moment einmal: "Das Jahr des... Drachen," des Hasen, des Tigers, des Hundes, des Drachen, der Ratte... das ist doch? Richtig: das ist der chinesische Zodiak, der ostasiatische Tierkreis, in dessen Zeichen jeweils ein ganzes Jahr steht. Aber es kommt doch darin gar keine Katze vor? Ihr am nächsten kommt der Tiger, der als Jahresregent mit dem zugeordneten Element Wasser das laufende Jahr 2022 regiert.

Die Lösung ist schlicht. In Vietnam ist der Hase im Jahreskreis durch die Katze ersetzt worden. Und Al Stewart schrieb sein Stück Anfang 1976, vor dem Neujahrfest, noch im Jahr der Katze. Und das nächste "Jahr der Katze" beginnt am 22. Januar 2023 nach westlicher Rechnung, ebenfalls mit dem Wasser als Element.



U.E.

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