Gründlich durchgecheckt,
steht sie da, und
wartet auf den Start.
Alles klar.
Experten streiten sich
um ein paar Daten.
Die Crew hat dann noch
ein paar Fragen, doch --
der Countdown läuft.
Peter Schilling, „Major Tom (Völlig losgelöst)“ (1982)
Beim Probelauf im Zug der Startvorbereitungen des SLS, der „Space Launch System,“ der Startrakete des Artemis-Mondflugprogramms der NASA, die im Lauf der nächsten Wochen oder Monate zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert wieder eine Raumkapsel auf den Weg zum Erdtrabanten starten soll, ist es heute, am Sonntag den 3. April 2022, zu einer ersten Verzögerung, einem ersten Aufschub gekommen. Der Countdown zu dem im Spezialistenjargon als „Wet Dress Rehearsal“ bezeichneten Probebetankung der Hauptstufe mit flüssigem Wasserstoff und Sauerstoff wurde gut zwei Stunden vor dem Beginn des Befüllungsvorgang wurde zunächst einmal angehalten und nach der Inspektion vor Ort durch ein Team von Technikern abgebrochen. Der Grund dafür war nach dem, was aus den schütteren Meldungen des NASA zu entnehmen war, ein ungenügender Druckaufbau im Pumpsystem des Starttisches, des „Mobile Launcher,“ auf dem die Rakete seit ihrem Transport zum Startkomplex 39B vor gut zwei Wochen steht. Für 23:30, auf Mitteleuropäische Sommerzeit umgerechnet, ist eine Pressekonferenz angekündigt, auf der die Entscheidung mitgeteilt wird, ob die NASA morgen, am 4. April einen zweiten Anlauf unternimmt oder erst die betroffenen Systemkomponenten einer genaueren Prüfung unterziehen will.
Diese “Generalprobe” verdankt ihren zunächst merkwürdig anmutenden Namen der Aufführungspraxis in Theatern und Orchestern, im Deutschen auf „Kostümprobe“ genannt, eben jenem „Dress Rehearsal“ entsprechend, in dem Schauspieler und Musiker die Aufführung in Kostüm und formalem Aufzug durchführen, nur in Abwesenheit des pp. Publikum..Das „wet“ tritt hinzu, weil hier die Betriebsflüssigkeiten ins Spiel kommen: der Flüssigwasserstoff und der Flüssigsauerstoff, die die Rakete dann beim Start auf die 12,8 Sekundenkilometer beschleunigen, die zur Erreichung einer stabilen Erdumlaufbahn benötigt werden. (Es handelt sich also nicht um ein Analogon zum „Wet T-Shirt-Contest“ – oder doch nur insofern, als das hier für die Jury „der entscheidende Part“ deutlich sichtbar wird.) Über den für Laien sonderbaren Spezialjargon gerade der amerikanischen Raumfahrtbehörde haben sich schon zu Zeiten des ersten Mondlandeprogramms vor einem halben Jahrhundert diverse Spötter lustig gemacht. Die Raumfahrtzeuge erreichen nicht die Umlaufbahn, sondern „erzielen Ortibaleintritt“ („achieve orbital insertion“), Raumfahrer unternehmen keinen „Weltraumspaziergang,“ sondern „extravehikuläre Aktivitäten,“ die Mondlandefähre war „lunares Exkursionsmodul“ („Lunar Excursion Module“; der polnische SF-Autor Stanisław LEM hat sich über diese Buchstabengleichheit in späteren Jahren des Öfteren mokiert); eine Stufe erreicht nicht „Brennschluß,“ sondern MECO, Main Engine Cutoff. Auch der Space Shuttle war in der offiziellen Nomenklatur das STS, das „Space Transportation System."
Beim Wet Dress Rehearsal des SLS werden die Tanks der beiden Raketenstufen mit insgesamt 733.000 Gallonen verflüssigtem Gas befüllt (also mit umgerechnet 3,33 Millionen Litern), von denen der flüssige Wasserstoff 537.000 Gallonen (2,6 Millionen Liter) umfaßt; der Rest betrifft den LOX (für „Liquid Oxygen“). Gleichzeitig wird dabei ein kompletter Countdown der Startvorbereitungen durchgeführt: mit Hochfahren der Bordsysteme; dem Abarbeiten der Funktionstests und der Überprüfung der Datenrückmeldungen. Erst 10 Sekunden vor der Zündung der Haupttriebwerke, wird dieser Vorgang abgebrochen; freilich wird der insgesamt sieben Stunden andauernde Vorgang einige Male für kurze Zeit unterbrochen, um die rückgemeldeten Daten mit denen aus den vorausberechneten und simulierten Probeläufen abzugleichen. Zwei Minuten vor dem Start übernehmen die Bordcomputer die komplette Steuerung der internen Abläufe; fünf Minuten vor „Zero“ werden die Zuleitungen, die bis dahin den Füllstand der Treibstofftanks korrigiert haben. Jeder, der einmal die Übertragung eines Raketenstarts verfolgt hat, ist mit den weißen Schwaden vertraut, die der verdunstende Treibstoff erzeugt, der aus den Druckventilen entlang des Raketenrumpfs entweicht. Bei dieser Generalprobe wird getestet, ob das Zusammenspiel der Komponenten wie geplant abläuft; wie die Leitungen und Pumpsysteme auf die Temperaturen von weit unter minus 100 Grad Celsius reagieren, auf die sie vor dem Start herabgekühlt werden, damit sie nicht brechen, wenn Hunderte von Tonnen Flüssigkeit mit einer Temperatur von minus 183 Grad (Sauerstoff) bzw. minus 253 Grad (Wasserstoff) durch sie schießen. Auch die Einfüllstutzen der Brennkammern werden so herabgekühlt, um das Metall nicht zu zerreißen. Vor allem dient der Vorgang dazu, um zu sehen, wie das gesamte System auf die Veränderung des Gewichtsbelastung reagiert, bekanntlich besteht eine Rakete in unbetanktem Zustand zu neun Zehnteln aus leerem Raum.
Betankt wird das SLS aus zwei neuangefertigten Vorratstanks mit einem Fassungsvermögen von 1,25 Millionen Gallonen, die im Juli 2021 fertiggestellt worden sind und 47 Prozent mehr Volumen umfassen als die ursprünglich für die Apollo- und Shuttle-Missionen gebauten Tanks mit 850.000 Gallonen Fassungsvermögen. Dennoch reicht auch dieses Fassungsvermögen nicht aus, um das SLS zweimal hintereinander vollständig zu betanken; die Auffüllung muß erst über Tanks erfolgen, die zur Versorgung von Raketen dienen, die vom benachbarten Startkomplex 37 abheben sollen und die als Reservetanks eingeplant sind. Das ist der Grund, warum zwischen zwei solchen Läufen mindestens ein Tag vergeht. Zur Zeit des Shuttle-Programms war es möglich, bei solchen Verzögerungen noch vorhandene Flüssiggase in die Tanks zurückzupumpen; im Zuge der Minimierung des „Systemkomplexität“ hat man darauf verzichtet.
(Die beiden neuen L2-Tanks neben dem Launch Complex 39B)
Die NASA hält sich im Fall der SLS mit der Öffentlichkeitsarbeit bemerkenswert zurück: Außer den schütteren Sachstandsmitteilungen wissen auch die akkreditierten Pressevertreter nicht mehr als das über die sozialen Medien wie etwa den Twitter-Account der Raumfahrtbehörde oder das „schwarze Brett“ des „Artemis-Blogs“ zugeschaltete Publikum. Ganz anders in den Hochzeiten des vorigen bemannten Raumfahrtprogramms, dem Shuttle: auf den Zeitplänen wurden penibel die Tests von hunderten des Untersysteme mitsamt den Zeitpunkten der Funktionsüberprüfung gelistet (und während ich gerade diese Zeilen tippe, beginnt auf der „Live“-Seite der NASA eine gruselige „Fahrstuhl-Warteschleifenmusik“ als Vorankündigung der Ankündigung über den weiteren Verlauf zu dudeln). Dem Flurfunk zufolge („wie aus gewöhnlich gut informierten Kreisen..“) ist das dem Umstand geschuldet, daß man nach den bisher fünf Jahren Zeitverzögerung sich nicht noch „unnötige Blößen“ geben will.
Eine kleine Fußnote, weil das untenstehende Bild, das in meinem ersten Beitrag zum Thema vorkam (mit der Unterschrift „nach getaner Arbeit“) vielleicht für Irritationen sorgen könnte: beim „Mobile Launcher“ handelt es sich nicht um den Transporter, den „Super Crawler,“ der das SLS mitsamt dem Starttisch von Vehicle Assembly Building zur Startrampe transportiert hat, sondern um die zwei Geschosse hohe Plattform mit einem Gewicht von gut 7000 Tonnen, auf der das System montiert worden ist und auf der auch der 108 Meter hohe Startturm montiert worden ist. Der Crawler ist vor dem Einfahren ins VAB abgesenkt und unter den Starttisch plaziert worden und hat das gesamte Ensemble („das Gesamtkunstwerk,“ läßt sich der Kleine Zyniker vernehmen) die 6,8 Kilometer weit transportiert.
(PS. Peter Schillings „Major Tom,“ im November 1982 ziemlich am Ende der lange vergessenen „Neuen Deutschen Welle“ zur Nr. 1 der deutschen Hitparade geworden, dem man die Verwandtschaft zu David Bowies „Space Oddity“ recht deutlich anmerkt - der Kleine Gentleman spricht lieber von einer "Hommage" - hat sich für den Künstler im Rückblick als Fluch des „One Hit Wonder“ erwiesen. Es ist sein einziger Hit geblieben und ist für die vergangenen Jahrzehnte zum einzigen Grund geworden, warum er noch in Seniorenkränzchen und Schützenzelten auftreten konnte. Eine solche Rache des Himmels an der NDW hätte sich selbst der Kleine Zyniker vor 40 Jahren nicht ausmalen können.)
PPS. Wie die NASA gerade in ihrer virtuellen Pressekonferenz mitgeteilt hat, können wir im Verlauf des morgigen Nachmittags mit einem weiteren Versuch für einen Probelauf rechnen. Die Bordsysteme bleiben hochgefahren; der kritische Punkt ist der den Neubetankung. Zum Technischen: bei der "Druckerzeugung" im Leitungssystem geht es darum, schon im Vorfeld der Betankung einen Überdruck in den Zuleitungen aufzubauen, so daß selbst für den Fall, daß unbemerkt Risse und Undichtigkeiten entstehen, nur Wasserstoff austreten, aber keine sauerstoffhaltige Außenluft eintreten kann, so daß das Risiko einer Knallgasbildung ausgeschlossen ist.
U.E.
© U.E. Für Kommentare bitte hier klicken.