30. September 2021

Symbolbild, das einunddrölfzigste





Es ist an dieser Stelle – und innerhalb dieser Serie, zu der bislang noch kein Ende in Sicht ist – zu einem Gemeinplatz geworden. Aber die Gabe unserer Obrigkeit, für ihre Unfähigkeit in allen Dingen, die zu ihrem Kerngeschäft zählen, zumindest schlagende Symbole zu finden, erstaunt immer wieder. Nach dem Chaos, das die Verwaltung im „Bundeshauptslum“ (©Don Alphonso, das Alter Ego des „Welt“-Journalisten und Zeitgeist-Chronisten Rainer Meyer) am vergangenen Wochenende anzurichten wußte, war sich der hier stets mitschreibende Kleine Zyniker sicher: diesmal wird es ihnen verwehrt sein. Stundenlange Warteschlangen vor den Wahllokalen, zuwenige Wahlscheine, falsch belieferte Wahllokale … dafür findet sich nichts, das dieses systemische Versagen in ein, wie man heute sagt, griffiges Mem faßt. Weit gefehlt. Mit dem heute gemeldeten „vorläufigen amtlichen Endergebnis“ hat sich die Berliner Republik selbst übertroffen.

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Schon der Geniestreich, gleich vier verschiedene Bürgerentscheide zusammenzulegen – die Bundestagswahl, die Wahl zum Abgeordnetenhaus (also einer Landtagswahl entsprechend), zu den Bezirksverordnetenversammlungen und zudem noch zur Volksabstimmung zur Enteignung der Wohnbaugesellschaft Deutsche Wohnen – ohne zu berücksichtigen, daß dieser Wust an Lese- und Entscheidungsaufwand den Wahlvorgang verzögern könnte, hat etwas für sich. Aber dann auch am selben Tag einen Marathonlauf in der Innenstadt anzusetzen, für den Straßenzüge gesperrt und unpassierbar wurden: dafür braucht es schon eine Gabe. Das kann man nicht erlernen. Im Rest der Welt vermeidet das ein Blick auf den Stadtplan. (Gut: auch das tödliche Finale der Duisburger Love Parade 2010 verdankt sich diesem organisatorischen blinden Fleck; aber dabei handelte es sich ja gleichfalls um eine Berliner Erbschaft.)

Daß im Vorfeld zuwenig Wahlscheine ausgeliefert wurden, daß noch am Sonntagnachmittag versucht wurde, fehlende Wahlzettel auszudrucken: All das fügt sich in ein rundes, wenig erbauliches, aber erwartetes Bild. Daß im Bezirk Reinickendorf 1382 Wahlberechtigte insgesamt 2146 Stimmen abgeben konnten (gemäß dem „vorläufigen amtlichen Endergebnis“), mag man noch als Reminiszenz an die Verhältnisse im Osten der Stadt vor 1989 verbuchen. Aber vier Tage nach der Wahl ein solches „vorläufiges amtliches Endergebnis“ zu vermelden wie das oben abgebildete – das haben sich Erich & Erich und ihre Spießgesellen in den 40 Jahren ihres Wirkens denn doch nicht getraut. Der Kleine Zyniker fügt an: ihnen fehlte halt jene Chuzpe, sich öffentlich zur Karnevalsveranstaltung zu machen, die für unsere Berliner Republik seit dem Millenniumswechsel so kennzeichnend ist. (Auf das Tretroller fahrende Kabinett Schröder habe ich in einem vorigen Beitrag zu verwiesen.)

Immerhin ist die Landeswahlleiterin Petra Michaelis daraufhin gestern von ihrem Posten zurückgetreten. Daß die Wahlergebnisse „nur geschätzt“ statt korrekt ausgezählt wurden, gibt der Wendung von der „Wertschätzung des Wählers“ frei nach Karl Kraus immerhin einen Beigeschmack von Wahrheit. Eine nette Pointe zeigt sich auch in den zahlreichen neiderfüllten Meldungen in den sozialen Medien aus den USA vom Wochenanfang – hier mit Hinblick auf die aufgrund des Verdachts auf Wahlmanipulation angesetzten Nachauszählungen der Stimmen bei der Präsidentschaftswahl im November (die im Bundesstaat Arizona ist von sechs Tagen zu Ende gegangen). „In Deutschland,“ hieß es vielerorts auf Twitter, „gibt es Wählerverzeichnisse, die Wahl erfolgt nicht per Terminal, die Auszählung findet händisch statt – und das Wahlergebnis liegt noch am gleichen Tag korrekt vor.“ (Der Kleine Zyniker bemerkt an dieser Stelle, daß solche öffentlich getätigten Fürwitzigkeiten zu Zeiten der alten Götter auf dem Olymp für homerisches Gelächter sorgten und als sportliche Herausforderung angenommen wurden.)

U.E.

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