7. August 2021

Wahlkampfauftakt



Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.



Heute, am Samstag, den 7. August, ist in Deutschland – jedenfalls in dem mikroskopischen Ausschnitt, den ich selbst in Augenschein nehmen konnte, nämlich Münster - der Bundestagswahlkampf 2021 in seine heiße Phase eingetreten – die sich dadurch auszeichnet, daß die antretenden Parteien an Lampenpfählen und Plakatwänden mit dem Aushängen der Konterfeis ihrer Kandidaten begonnen haben – hier bei uns zunächst nur die Grünen; dann in erheblich geringerem Maß, die Genossen mit den zukunftsfroh stimmenden Gesichtern der Großen Vorsitzenden Esken und dem Wunderkind Kevin Kühnert, von dem unsereins fast geglaubt hätte, er sei auf einer Expedition zum Andromedanebel verschollen. (Erste Abschweifung: da es ja 1. einen gehörigen Sturm im Wasserglas um die akademischen Meriten von Annalena „ich komm‘ aus dem Völkerrecht“ Baerbock gegeben hat und 2. die meistgefragte Wissensquelle Wikipedia im Ruch steht, über linke V.I.P.s nur Schmeichelhaftes zu verbreiten: die „allwissende Müllhalde teilt für den Genossen K. in dieser Hinsicht Folgendes mit: „Ein 2009 begonnenes Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin, in das er sich zuvor eingeklagt hatte, brach er ab und arbeitete anschließend dreieinhalb Jahre lang in einem Callcenter.“) Als Dritte im Bunde wurden Plakate der wahrscheinlich chancenlosen Kleinpartei VOLT gesichtet, deren Ausrichtung den meisten Lesern – und Wählern – völlig schleierhaft sein dürfte. Wenn man erfährt, daß sich die nationalen Ableger dieser Organisation in allen europäischen Ländern ein wortgleiches Programm zugelegt haben, daß sie sich „Progressismus“ und „globale Teilhabe“ auf die Fahnen geschrieben haben und sich als „pro-europäische Bürgerrechtsbewegung“ verstehen, beschleicht den skeptischen Beobachter der leise Verdacht, hier könnte es sich um eine Tarnorganisation der EU-Zentrale in Brüssel handeln.

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Immerhin macht das Wahlplakat der Grünen wieder einmal deutlich, warum Satiriker im 21. Jahrhundert ein(e) aussterbende(r) Beruf(ung) ist: die Wirklichkeit und ihr Zerrbild sind nicht voneinander zu unterscheiden. Schon der „Schulzzug“ der SPD im Wahlkampf 2017 hatte ja selbstparodistische Züge – als sei des den Genossen völlig gleichgültig, ob sie unentschlossene Wähler ansprechen und alte Stammwähler mit gewohnten Inhalten halten konnten, OB sie überhaupt für irgendwelche Inhalte einstanden oder nur für Klamauk der Güteklasse „die Polonaise / bis hinter Wuppertal…“ Aus Sicht der SPD hat sich das Kalkül, den Inhalt auf das Motto „Ruf‘ doch mal Martin!“ zu beschränken, durchaus bezahlt gemacht: die Partei mußte mit dem glanzlosen Nichtskönner Schulz nicht die Verantwortung im Kanzleramt übernehmen, blieb als Partner trotzdem in der Regierung und besetzt im Kabinett Merkel IV weiterhin die wichtigsten Ministerposten mit ihren Leuten.

Wer nun meint, beim Slogan „Rette die Autoindustrie. Wählt grün.“ könne es sich doch wirklich nur um eine plumpe Parodie handeln, der sei darauf verwiesen, daß sich heute der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in Form eines Interviews seines Hauptgeschäftsführers Joachim Lang in Form eines Interviews mit der Zeitung „Welt am Sonntag“ positioniert hat und darin sinngemäß für den Wahlkampf mehr Fokussierung auf Themen wie „Klimawandel und Corona“ eingefordert hat, „um den Standort Deutschland zu erhalten.“ Wörtlich heißt es dort: „Angesichts der gewaltigen Herausforderungen, vor die uns internationale Zusammenarbeit, Klimawandel, Digitalisierung und die Corona-Krise stellen, ist es höchste Zeit, wegzukommen von Nebensächlichkeiten.“ Und weiter: „Bei den Themen Energie und Klima deckten sich fast alle Forderungen des BDI auch mit dem Programm der Grünen, sieben von acht Punkten würden geteilt. Einen Unterschied gebe es bei der Mobilität, wo der BDI einen technologieoffenen Ansatz fordert, die Grünen wollen sich auf die Elektromobilität festlegen.“ Den Kleinen Zyniker, der hier stets mitschreibt, erinnern solche Sätze an die hellsichtige Prognose der kommunistischen Weltrevolutionäre vor einem Jahrhundert, den verhaßten Kapitalisten den Strick, an dem sie aufgehängt würden, gegen gute Devisen zu verkaufen. Alternativ zu solchen Glanzleistungen kognitiver Dissonanz fällt einem der Befund ein, den der SPIEGEL vor gut einer Woche für die Vorbereitungen auf zukünftige Überschwemmungen feilbot: „Elektroautos sind besser für Hochwasserkatastrophen gerüstet.“

Ausgelaufenes Benzin und Diesel aus Autowracks verseuchen in den Flutgebieten das Wasser. Mit E-Autos bestehen diese Probleme nicht – und Stromer bieten in Katastrophensituationen noch weitere Vorteile.


Die Frage, wie es im Fall einer Katastrophe wohl um die Rettungsmaßnahmen bestellt wäre, wenn alle Mobilität von der Verfügbarkeit eines zusammengebrochenen Stromnetzes abhängt, sollte man im Voraus nicht stellen. Es ist leider durchaus möglich, daß wir uns in Zukunft mit einem solchen Szenario ganz handfest konfrontiert sehen.

Bedenklich – und bezeichnend für den Niedergang der politischen Sphäre – scheint mir, daß der Blick auf den anstehenden Wahlgang in nun sieben Wochen in der Kristallkugel so gar nichts zeigt: kein Anzeichen für mögliche Konstellationen oder Ausgänge. Und vor allem: daß es mir weitgehend gleichgültig ist. Beim Schulzzugjux vor 4 Jahren war der Wahlsieg der SPD schon weit im Voraus recht kategorisch auszuschließen und es blieb nur noch die Frage, ob Frau Merkel an der Spitze der weiterbestehenden GroKo, einer Jamaika-Konstellation oder mit grünem Juniorpartner ihr systematisches Zerstörungswerk fortsetzen würde. Ob ab 2022 die Grünen Gelegenheit haben werden, die Axt an die verbliebenen Reste des Industriestandortes Deutschland zu legen, ob Schwarz-Rot, Schwarz- ganz Rot-Gelb sein werden, die sich mit der Pflicht konfrontiert sehen werden, die desaströsen Folgen von Frau Merkels Fehlentscheidungen der letzten 10 Jahren im letzten Moment aufzufangen – vom Blackout bis zum katastrophalen Niedergang der öffentlichen Sicherheit – oder ob es schon zu spät ist, um das Schlimmste noch zu verhindern - weil die Entwicklungen ein Eigenleben entwickelt haben, gleich einer Lawine, der sich niemand in den Weg stellen kann: nichts davon ist mehr in seinem Lauf vorauszusehen. Und ich merke – nicht erst seit den letzten Monaten, sondern seit gut zwei vollen Jahren, also noch vor dem Beginn der Corona-Krise, daß ich mich über solche dunklen Aussichten nicht einmal mehr aufregen kann. Zehn volle Jahre auf dem Weg ins Finis Germaniae, in die Lähmung dieses Staates, seiner Ordnung, seiner rechtsstaatlichen Verfaßtheit, seiner kritischen Medien, seiner pragmatischen Politik – das alles hat Spuren hinterlassen. Und ich nehme an, daß ich nicht der Einzige bin, den angesichts der ewig selben Pappnasen, der schrillen Travestien und dem surreal-infantilen Begleitchor der Medien mittlerweile die Anomie packt. Es könnte sein, daß dieser Wahlkampf, dieser Wahlgang, der der wichtigste in den nun mehr als 70 Jahren des Bestehens der deutschen Demokratie werden könnte, zugleich der unbeachteste, der mit der geringsten Wahlbeteiligung, der inhaltfreieste sein wird. Ein mattes Gezerre – nein, nicht einmal das: ein matt vorgetäuschtes Gezerre um drei Figuren, von denen die eine Mehrheit der Wähler keinen auf dem Kanzlerthron sehen möchte, die nur roboterhaft ihre leeren Phrasen von „Zukunftsfähigkeit,“ „mehr Europa,“ „Klima,“ und „Teilhabe“ in die Mikrophone plärren.

Mittlerweile halte ich es sogar für denkbar, daß ich mir in der Wahlnacht den Konsum jeglicher Medien-Outlets erspare (ich verfüge seit mehr als 20 Jahren weder über Radio noch Fernsehen), um von den immergleichen Lärm verschont zu werden. Und mir den Ausgang erst am nächsten Tag zumute. Oder erst eine Woche danach. Wenn überhaupt. (Wobei mir schon klar ist, daß er mir, auf die eine oder andere Weise bald zugetragen wird. Aber wenn ich sagen würde, daß ich auch nur der kleinste genuine Interesse daran habe, müßte ich lügen.)



U.E.

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