4. Mai 2021

Mynona@150. Eine kleine Erinnerung an Salomo Friedländer





Gealtert fühlte sich Professor Faust;
Die Wissenschaft ließ ihn so unbefriedigt.
Er schließt, in einem seltsam kom'schen Zwielicht,
Mit Satan einen Pakt (jawohl, da schaust!).

Wird wieder jung (daß dich der Affe laust!),
Treibt's mit 'nem Backfisch (Hand vom Nähen schwielicht),
Und saust nach Griechenland (ist das ein Vieh nicht?).
Sie stirbt als Kindesmörderin (mir graust!).

Zurückgekehrt, wagt er sich an den Thron;
Der Teufel hilft, er wird des Staats Erretter.
Endet als Fürst mit eignem Schloß am Meer -
Natürlich graptscht der Satan jetzt voll Hohn
Nach seiner Seele. Doch ('s wird immer netter!)
Der Hölle jagt sie ab das Engelsheer.

- Mynona (aus: "Hundert Bonbons. Sonette," 1918)

Wenn John Collier, auf dessen 120. Geburtstag gestern an dieser Stelle verwiesen wurde, im deutschen Sprachbereich (und mittlerweile wohl auch im englischen), zu den unbekannten Autoren zu rechnen ist, dann ist Salomo Friedländer, der heute vor genau 150 Jahren, am 4. Mai 1871 im heute polnischen Gollantsch geboren wurde und der seine literarischen Werke unter dem Nom de plume "Mynona" veröffentlichte, zu den völlig Vergessenen. Manche Leser von Kurt Tucholsky werden sich vielleicht noch an diesen Namen im Zusammenhang mit Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neuues" erinnern, als "Mynona" die Veröffentlichung des Antikriegsromans zum Anlaß für eine scharfe Polemik nahm und "Tucho" ebenso scharf zurückschoß. Viellicht ist dem einen oder anderen Kenner der "Roaring Twenties" noch die "Tarzaniade" ein vage erinnerter Titel, mit der Mynona die Popularität, der Edgar Rice Burroughs' Dschungelheld Mitte der zwanziger Jahre auch in Deutschland erlebtge, kommentierte. Aber ansonsten zählt er zu den unzähligen Verschollenen der Literaturgeschichte. Überraschend ist das nicht. "Mynona" gehörte zu den Parodisten, zu den Verfassern von Grotesken - und solche verzerrenden Echowerfer ereilt die "Furie des Verschwindens" eher als die Originale, denen ihr Echo galt. Auch Robert Neumann, Friedländers Zeit- und Zunftgenossse und vielleicht der brillanteste Stimmenimitator der deutschedn Literatur, ist heute weitgehend vergessen, ebenso Franz Blei, dessen "Literarisches Bestiarium" gut zeigt, WARUM das Haltbarkeitsdatum solcher Echos knapp bemessen ist: viele zeitgenössische Bestseller und Modeautoren sind ihrerseits genauso vergessen, und wirkliche Klassiker, die es geschafft haben, von Generation zu Generation weiter gelesen und gekannt zu werden, stehen oberhalb jeder Parodie.

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Auch in der Philosophie, die Friedländers "eigentliches" Metier ausmachte, hat er keine Spuren hinterlassen. Kommentare zu Kant und Schopenhauer hinterlassen, anders als die Werke der so Kommentierten, keine Spuren im Sand der Zeit, und eine merkwürdig-ezentrische Neigung, "natürliche Magie" als neue, zeitgenössischen Lebensauffassung zu propagieren, ohne daß klar würde, was damit gemeint sein mag (eine symbolistische Aufladung des Alltags? das Vertrauen auf Zufälle? das "Pinzip Hoffnung"?) lassen diesen Zweig seines Schaffens im Obkurantischen flackern. Friedländer, der sich selbst als eine "Mischung aus Kant und Charlie Chaplin" bezeichnete, findet sich auch hier in einer Gruppe von Geistesverwandten, die an den Rändern des deutschden Geisteslebens zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn des Dritten Reichs exzentrisch irrlichterten, bevor sie allesamt der Bannstrahl des Diktatur traf: Fritz Mauthner etwa, Fritz Mauthner, der Verfasser des "Philosophie des Als-Ob" (1924) oder Theodor Lessing mit seiner "Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen" von 1919 oder auch Ewald Gerhard Seeligers "Handbuch des Schwindels" (1922). Die Grenzen zwischen schrägem Feuilleton und exzentrischer (Lebens)Philosophie gehen in solchen Oeuvres nahtlos ineinander über. Immerhin: ein padägisches Unterfangen wie "Kant für Kinder: Fragelehrbuch zum sittlichen Unterricht" (1924) muß man sich angesichts der ethischen Rigorismus des Königsberger Meisterdenkers auch erst einmal einfallen lassen - vor allem, wenn man als nächstes einen "Katechismus der Magie" (1926) nachfolgen läßt. Solche Erscheinungen sind für die aus einem Jahrhundert Rückschau immer "spukhafter," irrealer wirkende Zwischenkriegszeit nicht nur im detuschen Sprachbereich geläufig: in den USA paßt etwa George Sylvester Viereck ganz gut in diese Kategorie; von den vor der Revolution geflohenen russischen Exilanten Nikolai Berdjajew.

Die erbitterten Feindschaften, die sich Mynona mit seiner scharfen Polemik zugezogen hatte, schlugen ihm im Pariser Exil, wo er 1946 verarmt und vereinsamt starb, zum Nachteil aus. Thomas Mann, den René Schickele 1939 um Hilfe ersucht hatte, lehnte brüsk jede Kontaktnahme ab: "Mynona mag ich nicht und wünsche ihn nicht bei mir zu sehen. Er hatte immer ein freches Thersites-Maul."

***

Womit gedenkt man aber eines Schriftstellers, einer Mischung aus Pausenclown im Café Dada und zerstreutem Professor, wenn nicht nur sein Name, sondern auch sein Werk gänzlich verschollen sind? Vielleicht mit einem kleinen Florilegium, einem Strauß aus seinen Opuscula - auch wenn es nur ein Spottstrauß zu Ginster, Disteln und Brennesseln ist.

* * *

"Also Herr Doktor van der Krendelen, ein Mann von hoher Statur, mit mächtigen Augen von sanfter Schärfe, und einem hellblonden exakten Spitzbart – hatte das Mittel gefunden: Luft, Luft.

"Ja es handelte sich um die Möglichkeit einer chemischen Reinigung der gesamten planetarischen Atmosphäre; und dadurch der Lungen; und dadurch des Blutes; und dadurch des Lebens.

"Van der Krendelen ging mit federnden Schritten in sein Versuchslaboratorium, einen haushohen Saal aus nietenlosem Metall, der luftleer gepumpt werden konnte und Oberlicht hatte. Das Versuchstier war der Doktor in eigener Person. Diesen Saal hatte v. d. K. vom Erdklima sorgsamst isoliert; er konnte ihm von sich aus jedes beliebige verleihen, die Luft im Saal war geographisch regulierbar geworden. Herr van der Krendelen nahm die heutige Wetterkarte zur Hand, studierte sie mit träumerischer Konzentration und entschied sich für Nizza; d. h. er stellte künstlich in seinem Saale das Klima von Nizza her (durch ein paar äußerst einfache Manipulationen). Und sodann seufzte er in dieser wonnigen Witterung sehr tief auf. Denn er grämte sich über diese Künstlichkeit seiner Versuche. Und doch! Und doch!

"Van der Krendelen konnte nicht anders. Wehe dem, dessen Gewissenhaftigkeit älter ist als sein Wissen! Hat nicht auch Darwin . . . aber lassen wir den Darwin. Das Bessere ist der Feind des Guten. Wenn Herr Dr. v. d. K. die Erde klimatisch revolutionierte – und wahrlich, das tat ihr not! –, so mußte er den bestehenden Zustand und mit ihm alle diesem angepaßten Lebewesen abschaffen: und das brachte er nicht über sein altmodisches Herz! Schon seine engere Familie, sein Papa, seine Mama, seine Amme Klelia, seine Schwester Margrith brauchten geradezu die schlechte und rechte Gesundheit; eine bessere würde Gift für sie werden. Daß nun so viele Leute – von anderen Organismen zu schweigen – auch nach oben, nach günstigeren Bedingungen hin so sehr begrenzt waren, das deprimierte Herrn v. d. K.s Gewissen derartig, daß er schon manchmal daran gedacht hatte, das Laboratorium luftleer zu machen, um sich der Mühe des Weiteratmens zu überheben. Du mein! wie wunderlich sind doch die Hemmungen gerade der erstaunlichsten Förderer des Menschengeschlechts! Und wie mancher Pythagoras ist vor seiner Wahrheit desertiert, bloß weil er zu viel Mitleid mit der Hekatombe Ochsen hatte, die dafür geopfert werden mußte."

(aus: "Von der Wollust über Brücken zu gehen," 1913)

* * *

"Neues Kinderspielzeug"

«Aber nun laßt mir diese Kinderstube,
meine eigne Höhle,
wo heute alle Kinderei zu Hause ist.»
(«Also sprach Zarathustra.»)

Das ganze, das ganze Leben sollen unsre lieben Kleinen kennen lernen! Man wende nicht ein, daß sie ja noch für so Vieles keinen Sinn hätten. Fürchtet ihr Euch denn, ihren nur schlummernden Sinn für Alles – für Alles – zu wecken? Oh pfui! wollt ihr Feiglinge heranzüchten?

Ganz falsch und verhängnisvoll schädlich ist es, die Kinderlein für unvollständig zu halten. Sie sind so vollständig wie wir Erwachsene: sie sind nur in jeder Hinsicht enger, kleiner, feiner, schwächer; aber nichts Menschliches ist ihnen fremd und sei ihnen fremd!

Beachtet es wohl! Das Erziehungs-Prinzip, wonach man die Kinder möglichst lange vom echten, vollen, runden Leben abhält, ist absurd. Nicht durch Fernhaltung erziehe man, sondern mitten im Element des so ängstlich Gescheuten sollen die Kinder schon spielerisch schwimmen und fliegen und so das Furchtbare oder Ekelhafte oder Böse oder Gemeine und Kranke überwinden und beherrschen lernen.

Oh! Gerade in dieser so kostbaren Periode der Unschuld und Arglosigkeit werden sich alle jene Dinge, welche später schon gefährlich, verführerisch und gleichsam schuldig verstanden werden, mit der reinsten Kindlichkeit so innig durchtränken, daß schließlich, wenn, Generationen lang, die Kindlein auf Alles – aber auch auf Alles in der Welt vorbereitet werden, das ganze Leben von Unschuld duften wird. Sei es mir doch gestattet, in diesem Sinne einige Vorschläge zu machen. Sie betreffen das Kinderspielzeug.

Das Kinderspielzeug wird bisher von . . . Feiglingen erdacht. Gewiß gibt es z. B. auch hier Soldaten, Festungen, Kanonen, Wehr und Waffen, so daß es knallt, dampft, zischt, und prasselt, schreckliche Schlachten geliefert werden. Aber es fließt z. B. kein Blut, die Sache bleibt trocken. Man führe Blut ein (natürlich künstliches!!!), und sofort macht es auch den Kindchen mehr Spaß. Das ist kolossal leicht: man verfertige hohle Soldaten mit siebartigen Öffnungen. Purzeln sie um, so verspritzen sie rotgefärbtes Wasser. Um granatenartige Wirkungen zu erzielen, nehme man magneteiserne Soldatchen, deren Glieder sich, auf einen Anprall hin, loslösen; man repariert sie rasch. Verunglückende Flieger, Soldaten zum Explodieren und restlosen Verschwinden macht man aus Glas, nach Art der Bologneser Fläschchen. Sehr prächtig würde sich ein kleines Kreisel in der Form eines beliebten Feldherrn, z. B. Hindenburgs, ausnehmen: vom Kreisel radial gehen Sicheln aus. Man dreht es an und läßt es, aus einem Miniatur-Zeppelin, auf die Feinde hinab. Während es wirbelnd ihre Massen ringsum niedersichelt, läßt es die Melodie «Heil dir im Siegerkranz» oder «Deutschland, Deutschland über alles» ertönen. Patriotischer kann man die deutschen Kindlein gar nicht präparieren. – Das Massengrab darf in keinem Soldatenkästchen fehlen, so wenig wie ein gutes Musterungslokal, ein Lazarett mit gut imitierten Verwundeten, an denen die kleinen Ärzte Operationen, Amputationen u. dergl. vornehmen können. Wie soll denn später einmal der echte Feldzug zum Kinderspiel werden, wenn er es nicht, ob auch nur in kindischem Spiel, bereits einmal gewesen war? Ich ließ für meine Kleinen von ehrsamer Handwerkerhand einen Lazarettzug mit Leichnamen, Verwundeten, Ärzten, Schwestern, mitreisenden Witwen, Waisen und andern, schwarz gekleideten Trauerpüppchen anfertigen und erregte damit Jubel über Jubel. Auf diese Weise wird die spätere echte Trauer durch diese kindlichen frohen Eindrücke verklärt und gelindert. Und wie tiefsinnig! z. B. vor Gott ist unser Leidwesen klein, und wir Alten schließlich auch nur Kinderchen.

Füsilierung ist ein sehr hübsches Spiel; desgleichen sollte auch eine Menge Zivilbevölkerung in militärischem Spielzeug enthalten sein, mit lütten Barrikaden, ansonst man nicht «Revolution» spielen könnte. So leicht wird dann keine Mama plötzlich von der Sorge befallen werden: was schenke ich Helmut zu Weihnachten?

Überhaupt! Kinderspielzeug kann gar nicht realistisch genug ersonnen werden. Was macht sich mein Junge aus einer Kuh, die nicht gemolken werden kann. Ein Gummiballon-Euter, und die Sache klappt und macht enormen Spaß.

Und immer noch fragt Tante Paula und ringt, sich härmend, die Hände: soll ich die Kleinen aufklären? Aber Tante! Du sollst es. Du sollst dir zu diesem Zwecke eine Wöchnerin-Puppe besorgen. Grade weil die Kinder diese Eindrücke so unschuldig hinnehmen, sollen sie daran gewöhnt und dadurch gegen deren spätere Verfänglichkeit geschützt werden: Kinderspielzeug ist prophylaktisch. Es ist schade, daß mir hier eine verlogene Dezenz den Mund zuhält. Schamhaftigkeit ist gewiß sehr schön, aber ihre Verbindung mit der Feigheit, statt mit dem Mute, ist häßlich, ist Prüderie. Es gibt eine schamhafte und eine schamlose Entblößung des Leibes. Denn die wahre Scham bezieht sich ja gar nicht auf die Dinge, sondern auf die Gebärde, mit welcher sie diese Dinge zeigt: sie selber ist so sehr Schleier über allem Schlimmen, daß sie objektiv keine Schleier mehr braucht, sondern gerade sie sich ihrer Nacktheit nicht mehr schämt.

Auf den ersten Anhieb wird man ein Bordell als Kinderspielzeug voreilig verwerfen. Warum? Weil es im Leben vorkommt? Feigheit! – Es «sollte» nicht vorkommen?! Wohl! Schon recht. Schwächen Sie eben deswegen seine unheilvolle Wirksamkeit sofort im Unmündigen ab. Der Reiz der Sünde beruht auf Überraschung. Machen Sie die Kleinen zu Blasierten des Verbotenen. Ja, eröffnen Sie ihnen als Kinderspielzeug das gesamte Reich der Kriminalistik!

Welche begeisternde Idee! Eine entzückende kleine Morgue mit allem Drum und Drin; eine Anatomie; ein Mütterheim mit Hebammen: von Vater keine Spur. Wundervoll gelingende kleine Bombenattentate mit entzweigehenden, leicht heilbaren Prinzen. Warenhäuser mit automatisch funktionierenden Brandstiftungen, Einbrüchen, Diebstählen. Auf vielerlei Weise ermordbare Opfer und die zu ihnen gehörigen Mörderpuppen mit allen einschlägigen Instrumenten.

Denken Sie an entzückende kleine Leichenwagen und Särgchen, an Puppenfriedhöfe und Krematorien mit drolligen Gräberchen und Urnen, Leichensteinen mit auswechselbaren Inschriften, Pastören und anderen Puppen.

Warum sollte das Kind nicht sein kleines Museum haben? es lernt den Wert von Bildern, Plastiken usw. vorahnen – es kann gar nicht genug vorahnen!!! Es soll nicht unwissend gehalten werden, erlebe Alles.

Warum versagt man ihm seinen zierlichen Reichstag? Weswegen fehlt ihm eine federleicht einbalsamierbare Monarchenleiche? Meine Kinder lachten neulich Tränen über eine der niedlichen Sozialistenversammlungen bei Streik und weinenden Müttern, auf welche jenes Kreisel losgelassen wurde. Ich wurde inne, von welcher sieghaften Höhe hinab alles Menschliche zu erblicken und zu betreiben, sie sich einübten. Glauben Sie denn, diese Vogelperspektive schwäche alsdann die Tatkraft? Unsinn! Lähmt sie denn die Energie der Adler und anderer Immelmänner (Immelmann klingt ja an Himmelmann an)?

Sogar Seuchen und Hungersnöte sind für Kinderchen darstellbar. Dick und mager werden könnende Hunger-Gummipuppen streng ergötzlich! Geschwür-Puppen furchtbar komisch. Guillotine und Galgen möchten wenigstens meine Kleinen nicht mehr missen. Ein Asyl für Obdachlose – das Appetitlichste, das man sich denken kann. Ob man (vermittelst Stinkbomben) die kleinen Rotunden und die unterirdischen Bedürfnis-Anstalten auch für die lieben Näschen überzeugend machen solle? wage ich nicht zu entscheiden. Dagegen bin ich bestimmt für Paradies mit Sündenfall; für kleine Kirchen (allen jüdischen Kindern Synagögchen), resp. Moscheen u. a.

Eisenbahn-Spielzeug, ohne die Möglichkeit, Eisenbahn-Katastrophen darzustellen, macht nur das halbe Vergnügen. Sollen aus Kindern einmal ganze Kerle werden, so darf man ihnen nichts Menschliches verbergen. Ihre Unschuld sorgt schon unwillkürlich für alle nötigen Schranken: und später, wenn diese Schranken sich allmählich erweitern, trifft das Neue auf vorbereitete Gemüter. Daß die Kleinchen über Alles lachen, auch über die Kehrseiten des Lebens, das ist geradezu die herrliche Ausdehnung der strahlenden Heiterkeit auch über alles sonst so schnöde von ihr Verlassene und nur dadurch so Triste. Das ist der Humor, welchem künftige Geschlechter, so erzogen, nichts mehr vorenthalten werden!

Ich versage mir nicht, an etwas weihevolles zu rühren: Kein Kinderzimmer mehr ohne nagelbare Denkmäler!

(in: Die weissen Blätter, 5:1, Juni 1918)

* * *

"Der Rüssel des fetten Herrn Mühlmann"

Im Zimmer war es schön kühl, die Verwandten hockten zusammen und sprachen über Mühlmann. Er blüht, er gedeiht, sagte Tante Moni, er läßt sich nichts abgehen - was soll daraus werden? Mühlmann kam eben rein, er sagte: ich gebe euch nicht die Hand, ihr gönnt mir mein Leben nicht, und gönnen wäre auch noch zu wenig. Der Tane Moni ihre Worte habe ich gehört, mir ist ganz übel davon. Die Moni setzte sich stumm hiner seinen Rücken. Wenn man einen fetten Menchen gekränkt hat, ist es gar nicht unpraktisch, hinter ihn zu gehen, denn er hat kolossal langsame Umdrehungsmöglichkeiten.

Wo ist Tante Moni? fragte Mühlmann. Die Verwandten schwiegen, die Tangte Moni atmete kaum. Hunold Mühlmann kramte auf seinem Schreibtisch. Ich enterbe euch, grollte er grämlich. Da kam die Tante Moni langsam um ihn rum: Hunold, laß mit dir reden. Ich meine es überhaupt nur, du wirst zu dick, es muß etwas geschehen. Geh nach Karlsbad, sei gescheit! Andre zu enterben, weil sie uns dick finden, hat noch nie Segen gebracht. Sage selbst, Hunold, ich habe eben hinter dir gesessen, und du spürtest das nicht einmal. Der dicke Mensch hat ein zu großen Hinten, hinter seinem Rücken muß man beim besten Willen mehr reden als sonst. Sei nicht so übelnehmerisch! Du lebst nur vorn. Tu nicht so dicke wie du bist! - Weine nicht gleich, antwortete Hunold. Er war halt zu dick, um sich rasch ändern zu können, er mußte gut bleiben - oder dünn werden. Er küßte der Moni die Hand, umarmte alle und verschwand. - Als er wieder aus Karlsbad kam, war sein Fett abgeschmolzen, aber auch seine Güte, die sich niemals hätte krankärgern lassen. Er sagte der ollen Moni gehörig die Wahrheit, und die andern kriegten auch Dinge zu hören, die sie sehr peinlich berührten. Was blieb übrig? Die Moni berief wieder einen Familientag, aber ohne Hunold. Nun hielt sie da einen solennen Spreech, der wieder auf ne Mastkur bei Hunolden hinauslief: Direktor Pohle (von den Wasserwerken) meckerte verächtlich: Primitiv! Assoziation von Dicke mit Gutmütigkeit. Quatsch! Aber der Mann wurde überschrien. Man setzte dem Onkel zu, man bestach seine Wirtschafterin, man päppelte Mühlman bald wieder fett. Und was war das Ende?

Mühlmann wog drei Zentner und wollte sich für sein Leben gern ärgern, konnte aber nicht, es gehört eben dazu ne gewisse Beweglichkeit. Aber freuen konnte er sich deswegen auch nicht gleich, er setzte allem, was ihn betraf, nichts entgegen als sein gleichmütiges Gewicht. Und das war das durchschlagendeste Argument. Ein schwerer dicker Elefant hat wenigstens seinen zierlich schlängelbaren Rüssel. Mühlmann hatte überhaupt nichts dergleichen. Er wirkte auf alle Erlebnisse wie ein Briefbeschwerer. Oh nein! Die Dicken sind nicht gutmütig, sie sind nur schwer, das genügt. Es mußte auch der Tante Moni genügen. Onkel, sagte sie, was wird denn nun? Hast du testiert? Fühlst du dich wohl? Willst du Liebigs Fleischextrakt? - Ja, Kuchen! Der Onkel wog drei Zentner statt aller Antwort. Sie wollten ihn entmündigen lassen.

Ja, der Herr sieht doch ganz famos aus, urteilte der Sachverstand. Man kann Gott weiß wieviel wiegen und doch recht zurechnungsfähig sein . - Schließlich testierte der altgewordene Herr, seine feiste Patschhand ruhte schwer auf dem Papier. Es war so schönes Wetter, die Verwandten hatten sich alle eingefunden, Tante Moni übernahm die Regie: Dalli, Hunold, drängte sie, sie wollte ihm schon die Hand führen. Da stand Hunold auf, daß die Dielen zitterten, und diie Wandihr stokcte. Ein heiliges Licht ging über seine schwermassigen edlen Züge, und er sprach folgendes Gedicht:

Testieren soll der dickste Mann
Von Rechtes wegen können.
Wenn er sich nicht mehr rühren kann,
Muß er es anndern gönnen.
Die Zähre, die er flennt, tropft schwer
Wie'n Kilogramm zu Boden;
Der dicke Mann fühlt sich so leer
Als wie nach tausend Toden.
Er leiert trotz Gewichte
Zuletzt noch dies Gedichte
Und aus ist die Geschichte.

Sein Schlagfluß rührte ihn und rührte alle Versammelten zu Tränen. Testieren hatte er gar nicht mehr können. Pohle (von den Wasserwerken) schwenkte seinen Zylinger mißmutig und knurrte mit dem Zahnstocher im Gebiß: ne apoplektische Konstitution soll eben nicht dichten. Da klagte die Tante Moni: Hätte ich ahnen können, daß ich meine mir jetzt selbst so widerwärtige Dringlichkeit in Hunold den Keim zur Dichtkunst legte!

Ja, sagte Doktor Robert Scheußlich, der Philolog: Die Folgen der Mastkuren sind immer Gedichte. Wo man was so Massives sieht, da ist immer'n bissel Wasser anbei. Und wer, meine liebe Moni, erbschleichen will, muß den Dreizentnerlegator im Ruhe lassen. Wo immer im Leben die Kunscht erblüht, ist sie die Wirkung aufgeregter träger Massen. Der Hunold - ich schreie - mußte Dichter oder dünner werden. Die Tante Moni schrieb sich das Gedicht auf und seufzte, und seufzte.Hunoolds Leiche saß vor dem Schreibtisch, sargsehnend, schwabbrig.

Ha! sagte plötzlich Pohle: Der schlängelbare Rüssel - das Gedicht!

Scheußlich nickte.

(in: Die Schaubühne, 25. Dezember 1918)

* * *

Apropos Gedichte: unter den eingangs zitierten "Hundert Bonbons" findet sich auch dieses:

In alte Schläuche taugt kein neuer Wein,
Der Dichter dichte, wie zum Beispiel Whitman;
Die Seele immer neu schafft ihre Rhythmen,
Wer heut' Sonette macht, ist nur ein Schwein.

Daher auch hüt' ich mich davor, allein
Ich bin darob beruhigt, denn ich glitt, wenn
Ich's auch wollte, nicht in diesen Ritt, denn
Grad zur Sonettform sag' ich immer: nein!

Ich hoppse, wie die Muskeln mir's diktieren,
Will nicht in fremde Form gezwungen sein
Und fühle mich ganz frei in meiner - meiner!

Pfui Teufel, sollt' ich je Sonette schmieren:
Ich will ich selbst in meinen Lungen sein
Und niemals atmen in Petrarka seiner.

(1918)

Und somit wären die "Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs" ("Sonette find ich sowas von besch***en, / so eng, rigide, irgendwie nicht gut .... daß wer den Mut // hat heute noch so'n dumpfen Sch**** zu bauen; / allein der Fakt, daß so ein Typ das tut, / kann mir in echt den ganzen Tag versauen..."), die Robert Gernhardt im Sommer 1979 in die Tiefdruckbeilage der ZEIT schmuggelte und die es mittlerweile in "den Conrady" geschafft haben und die mit dem Sonett in klassischer Verform auch noch den Betroffenheitsjargon der Alt-Achtundsechziger persiflieren, nicht ohne Vorläufer. Daß es zu den Schulaufgaben von Grundschülern zählen soll, Bordelle für Post- und Transitiv-Sexuelle zu entwerfen, spricht für Mynonas prophetische Sehergabe - von der "chemischen Reinigung der ganzen planetarischen Atmosphäre," die soeben offiziell zum höchsten deutschen Staatsziel erklärt worden ist, ganz zu schweigen. Und daß das Programm "Kant für Kinder" heute unter dem Namen Precht umgesetzt wird, zeugt einmal mehr vom subtilen Humor des Weltgeists.



U.E.

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