23. Mai 2021

André Maurois – „Der Krieg gegen den Mond“ (1927)





(Fragment einer Weltgeschichte, erschienen im Verlag der Universität C-mb-e, 1992)
Kapitel XVIII.

Die globale Lage im Jahr 1962
Bis zum Jahr 1962 waren die letzten Spuren der Zerstörungen, die der Weltkrieg von 1947 hinterlassen hatte, beseitigt worden. New York, London, Paris, Berlin und sogar Peking waren wiederaufgebaut worden. Die Geburtenrate war so stark angestiegen, daß die Weltbevölkerung – trotz der mehr als 30 Millionen Todesopfer, die der Krieg von 1947 gefordert hatte – zur Zeit der weltweiten Volkszählung von 1961 das Vorkriegsniveau wieder erreicht hatte. Die Wirtschafts- und die Finanzkrise gingen zu Ende, und das Interesse an Sport und Kultur nahm wieder zu. Jeder Haushalt besaß jetzt ein Funkkino. Die Ballonolympiade von 1962 zwischen den Teams aus Tokio und Oxford lockte mehr als drei Millionen Zuschauer aus allen Teilen der Welt nach Moskau und war der Anlaß einer weltumspannenden Willkommensfeier.



Die Diktatoren der öffentlichen Meinung

Man muß gerechterweise einräumen, daß diese rasche Erholung, dieses unerwartet schnelle Verheilen der materiellen und moralischen Wunden, die der Krieg hinterlassen hatte, zum größten Teil das Werk jener fünf Männer war, die in jenen Jahren allgemein nur „die Diktatoren der öffentlichen Meinung“ genannt wurde. Seit 1930 waren die Politologen zu der Einsicht gelangt, daß in jeder Demokratie – in der die Politik von der öffentlichen Meinung bestimmt wird – die Macht zum größten Teil von denen ausgeübt wird, die die öffentliche Meinung beherrschen – also den Zeitungsverlegern. In allen Ländern zeigte sich, daß die größten Industriekapitäne und Finanziers darum bemüht waren, wichtige Zeitungen zu erwerben, und daß sie damit im Lauf der Zeit Erfolg gehabt hatten. Sie hatten sorgfältig darauf geachtet, daß die äußeren Formen der Demokratie erhalten geblieben waren. Die Bürger wählten weiterhin Abgeordnete in die Parlamente, und diese ihrerseits wählten Minister und Präsidenten - aber die Minister, Präsidenten und Abgeordneten behielten ihre Posten nur so lange, wie sie sich an die Vorgaben der Herren der öffentlichen Meinung hielten, und sie verhielten sich dementsprechend.

Diese verschleierte Tyrannei hätte gefährlich werden können, wenn die neuen Herren der Welt ihre Macht skrupellos ausgeübt hätten. Wie sich zeigte, war dies aber ein Glücksfall für die Welt gewesen. Im Jahr 1940 war die letzte unabhängige französische Zeitung von Grafen Alain de Rouvray für seinen Konzern „Les Journaux Français Réunis“ aufgekauft worden. Die Rouvrays waren eine Dynastie von Stahlmagnaten aus Lothringen, die die strenge puritanische Tradition dieser Gegen verkörperten. Alain de Rouvray besaß den Ruf, ein unermüdlicher Arbeiter und fast eine Art Heiliger zu sein. Im Louvre hängt sein Jugendbildnis, das von Jacques-Emile Blanche stammt und ihn im Alter von zwanzig Jahren zeigt. Das schmale Gesicht ist das eines strengen Asketen und erinnert in mehr als nur einer Hinsicht an Maurice Barrès. In England befand sich die British Newspapers Ltd. Seit 1942 im Besitz von Lord Frank Douglas, einem jungen Mann, der unter seinem umgänglichen Auftreten einen scharfen Verstand und in Eton geschulte Rechtschaffenheit verbarg. Mit seiner wilden blonden Mähne und seinen klaren blauen Augen wirkte Lord Frank eher wie ein Dichter als ein Mann der Tat. Der Herr über die amerikanische Presse war der alte Joseph C. Smack, ein etwas sonderbarer Mann, fast erblindet, der abgeschieden auf seinem Landsitz lebte, umgeben von einem Heer von Stenographen. Smack war für die schonungslose Respektlosigkeit seiner Radiogramme berüchtigt, genoß aber die Achtung der Weltöffentlichkeit. Der deutsche Zeitungsmagnat, Dr. Macht, und sein japanischer Kollege, Baron Tokungawa, stellten die anderen bedeutenden Mitglieder des Weltdirektoriums dar.

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Von 1943 an wurde es unter diesen fünf Männern üblich, einmal pro Woche eine Fernkonferenz mittels Telephotophon abzuhalten. Zu jene Zeit war diese Erfindung noch recht neu, und der Preis für eine Sendevorrichtung lag noch bei mehreren Millionen Dollar. Die Öffentlichkeit war erstaunt, als sie erfuhr, daß die Diktatoren der öffentlichen Meinung ihre Konferenzen abhalten konnten, obwohl sie Tausende von Kilometern voneinander getrennt waren, und trotzdem der Inhalt ihrer Verhandlungen absolut geheim bleiben konnte, indem sie die benutzte Wellenlänge von der Welt-Hertz-Polizei streng überwachen ließ.

Man weiß nicht, wer zuerst den Ausdruck „Diktatoren der öffentlichen Meinung“ verwendete. Die ausgezeichnete Abhandlung von James Bookish (The Dictators of Public Opinion, Oxford, 1979) weist anhand von Korrespondenzen und Zeitungsmeldungen nach, daß der Ausdruck nach 1944 weltweit gebräuchlich war, obwohl er erst 1945 in amtlichen Dokumenten erscheint (Rede von Fabre-Luce in der Deputiertenkammer der französischen Nationalversammlung vom 4. Januar 1945.)



Der Krieg von 1947 und die Diktatoren der öffentlichen Meinung

Aus allen bislang öffentlich zugänglichen Quellen, besonders den Tagebüchern von Rouvray (Journal de Rouvray, hg. Michel Prévost, Paris 1992, 3 Bde.) und Lord Frank Douglas (Manly, Life and Letters of Lord Frank Douglas, London 1996, 22 Bde.), geht hervor, daß alle fünf „Diktatoren“ 1947 alles versucht haben, den Krieg abzuwenden. Rouvray schrieb in seinem Tagebuch unter dem Datum vom 20. Juni 1947: „Bin außer mir, daß wir mit aller unsere scheinbaren Macht gegen die Selbsttäuschung der Völker nichts ausrichten können.“ In Lord Douglas‘ Tagebuch heißt es: „A World-War for Albania! The whole thing is too stupid for words … The crowd is stupid even though the individual be divine.”

Am Vorabend der Kriegserklärung veröffentlichten die Zeitungen der Welt einen Aufruf an die Vernunft, den Smack verfaßt hatte. Aber die öffentliche Meinung kehrte sich diesmal gegen ihre Herren und rebellierte gegen die Presse. In mehreren Großstädten wurden die Redaktionen gestürmt und verwüstet. Die Auflage der zum Krieg anfeuernden Blätter, die im Verborgenen gedruckt worden waren, schoß in die Höhe, und nachdem erst einmal der Krieg erklärt worden war, mußte alles andere dem Wohl der eigenen Nation geopfert werden.

Das Direktorium wurde nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Peking im Jahr 1951 neu gegründet. In Deutschland war Dr. Kraft auf Dr. Macht gefolgt; die anderen vier Direktoren lebten noch. Das Protokoll der ersten Sitzung per Telephotophon findet sich in Weltarchiv von Genf. Diese Sitzung widmete sich der Analyse der Kriegsursachen und der Diskussion über die Möglichkeiten, zukünftige Kriege zu verhindern. Die fünf Männer einigten sich erneut auf die Erziehung der öffentlichen Meinung in diesen Punkt: keinen Artikel zu veröffentlichen, der geeignet war, Haß oder auch nur Mißtrauen zwischen den Staaten zu schüren, und falls es – was ja nicht auszuschließen war – zu Zwischenfällen zwischen einzelnen Nationen kommen sollte, eine Untersuchung durch Berichterstatter unabhängiger Staaten einzusetzen, deren Ergebnisse nur in den Zeitungen der „World Newspaper Association“ veröffentlicht werden sollte. Nach dem Ende der Sitzung sagte Rouvray zu seinem Sekretär Brun: „Ich bin davon überzeugt, daß sie es genauso ehrlich meinen wie ich selbst. Wenn es uns diesmal nicht gelingt, den Krieg zu erwürgen, gibt es keine Hoffnung für die Menschheit mehr.“ (Mémoires de Brun, II, S. 343)



Die Windkrise, Mai 1962

Einen Monat nach dem Wettkampf Tokio gegen Oxford, der solch ein schönes Beispiel für eine weltumspannende Eintracht abgegeben war, erfand Professor Ben Tabrit von der Universität Marrakesch den Windakkumulator. Heute ist diese Vorrichtung in der ganzen Welt so geläufig, daß sie nicht weiter beschrieben werden muß. Das Prinzip ist einfach genug: mit Hilfe eines Akkumulators, dessen Konstruktion sowohl einfach wie kostengünstig ausgelegt ist und auf der Zerlegung von Wasser in seine chemischen Elemente und der Verwendung von flüssigem Wasserstoff beruht, wurde es möglich, die Windenergie zu speichern und so eine Energiequelle zu erschließen, die unendlich kostengünstiger war als die Nutzung von Erdöl oder Kohle. Es dauerte einige Monate, bis die führenden Industriellen die Folgen erkannten, die sich langfristig aus dieser Entdeckung ergaben. Es war aber klar genug, daß Industrien, die dort angesiedelt waren, wo Kohlebergbau oder Wasserkraft genutzt wurde, in Länder verlegt mit starken, beständigen Winden verlegt werden würden, und daß Gegenden, die bisher unbewohnt waren, jetzt unverhofft von großen Wert waren. Es dauerte nicht lange, bis die Börse in Bagdad die Aktien des Windsyndikats der Wüste Gobi, der British Windmill Company und der Société Française des Vents Alizés notierte; und im Dezember 1962 entbrannte der Kampf um die besten Plätze zur Errichtung von Windakkumulatoren zu Land und auf dem Meer mit aller Macht.



Die Zwischenfälle von 1963

Im Jahr 1963 ereigneten sich mehrere schwere Zwischenfälle, von denen die Besetzung des Mont Ventoux und die Kaperung der schwimmenden Fabrik in Singapur die bekanntesten sind. Der Mont Ventoux, in den Provenzalischen Voralpen mit weit von Lyon gelegen, verdankt seine Namen dem stürmischen Winden, die fast ohne Unterlaß auf seinem Gipfel herrschen. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte ein französischer Gelehrter berechnet, daß man mit Windmühlen, die auf den Hängen errichtet errichtet würden, so viel elektrische Energie erzeugen könnten wie mit den Niagarafällen. Solch ein Standort mußte das Interesse der Großindustrie reizen. In Harwood Werk zum Thema, das seitdem zum Klassiker geworden ist (The Mont-Ventoux Episode, Boston 1988), kann man alles über die schier unglaublichen Streitigkeiten machlesen, die sich zu dieser Zeit zwischen Frankreich und Italien entspannen. Der Fall der schwimmenden Fabrik von Singapur erweis sich als noch ernsthafter. Ein Kaperschiff, das unter der Flagge des Russisch-Chinesischen Reichs fuhr, kappte die Schlepptaue, woraufhin die Kreuzer der Verneinten Kolonialgebiete, die der schwimmenden Insel Geleitschutz gaben, das Feuer eröffneten und den Angreifer versenkten. Daraufhin wurde umgehend eine Sondersitzung des Völkerbundrates einberufen.

Die Zeitungen der W.N.A. bemühten sich, die öffentliche Meinung zu beruhigen, aber leider waren stärkere Kräfte gegen sie am Werk. Die Arbeitermassen begriffen, daß diese technische Revolution schwere Folgen für sie bedeuten würde. Die Bergarbeiter wußten, daß sie in fünf Jahren – höchstens in zehn – nicht mehr gebraucht würden. Die Gewerkschaften übten Druck auf ihre jeweiligen Regierungen aus, sich die besten Windgebiete zu sichern. Die Sitzung in Genf im Juni 1963 verlief stürmisch, und es war nur dem Geschick des Fürsten von Monaco, der den Vorsitz innehatte, wäre diese Versammlung, die doch den Frieden sichern sollte, wahrscheinlich zum Schauplatz zahlreicher Kriegserklärungen geworden. Dank des aufgleichenden Einflusses von Prinz Rainbert verließen die Delegierten die Schweiz, ohne daß es zu nicht mehr gutzumachenden Entscheidungen gekommen war, aber alle Experten auf dem Gebiet der Internationalen Psychologie warnten ihre Regierungen, daß ein Weltkrieg unvermeidbar sei. Smack wies seine Zeitungen an, folgende Schlagzeile in größtmöglicher Schrift zu bringen:

RUSSIAN-CHINESE EMPIRE REJECTS FRANCO-GERMAN OFFER



Das Einschreiten von Lord Frank Douglas

Auf dem Rückflug aus Genf landete Lord Frank Douglas in Paris, um sich mit Rouvray zu betraten. Der genaue Wortlaut dieser Unterhaltung, die nicht nur so folgenreich für die Erde, sondern das gesamte Sonnensystem sein sollte, ist uns nicht bekannt. Das Wesentliche ist von Brun aufgezeichnet worden (Mémoires de Brun, III, S. 159), aber sein Bericht stellt keine wortgetreue Mitschrift dar. Der Verfasser selbst gibt zu, daß er ihn erst mehrere Stunden danach aus dem Gedächtnis niedergeschrieben hat. Um einen Eindruck von dem Tonfall, der dort herrschte, zu bekommen, sollte man neben dem genauen, aber ziemlich farblosen Bericht des jungen Sekretärs auch das Tagebuch von Lord Frank zu Rate ziehen, das sich durch den scharfen aber zynischen Verstand seines Verfassers auszeichnet.

Die beiden Männer tauschten sich zunächst über ihre allgemeine Einschätzung der Lage aus. Beide hielten sie für äußerst ernst. Rouvray hatte keine Hoffnung mehr. Vor dem Krieg von 1947 hatte er fest auf die Mittel vertraut, an deren Erschaffung er beteiligt gewesen war; aber angesichts dieser Katastrophe, die er vorausgesehen und nicht hatte verhindern können, war er niedergeschlagen und voller Zweifel. Um Brun wörtlich zu zitieren:

„Es gibt eine Sache auf der Welt,“ sagte M. de Rouvray, „vor die Menschen mehr Angst haben als vor Massakern, ja sogar vor dem Tod – und das ist die Angst vor der Langeweile ... Das Zeitalter der Vernunft und der weltweiten Eintracht, das unser Werk ist, langweilt sie ... Unsere Zeitungen drucken die Wahrheit, man kann sich auf das verlassen, was in ihnen steht, aber sie reißen die Leser nicht ehr mit. Sogar Smack gibt zu, daß seine Titelseiten das Lesen nicht mehr lohnen … Wir haben uns mit Kunst und Kultur geholfen, und das hat einige Zeit funktioniert. Verbrechen und Sport haben uns jetzt zwanzig Jahre über Wasser gehalten, aber sehen Sie sich nur die Statistiken an! Die Polizei arbeitet jetzt so effektiv, daß es kaum noch Verbrechen gibt. Die Welt ist alles überdrüssig – sogar die Boxweltmeisterschaften. Die letzten Ballonolympiaden haben es nur noch auf eine Million Zuschauer gebracht … Wir haben die Massen gebildet, wir haben ihnen beigebracht, die Gesetze zu achten, der anderen Seite Beifall zu zollen. Es gibt nichts mehr, das sie hassen können. Und, mein lieber Douglas, so bedauerlich es ist: Haß ist das einzige, was die Menschheit einen kann. … Es wird immer gesagt, daß Frankreich früher aus einzelnen Provinzen bestand und sich schließlich schließlich zu einem einzigen Land vereinigte, und dann gefragt, warum es sich mit den einzelnen Nationen anders verhalten sollte. Meine Antwort darauf lautet: Die französischen Provinzen haben sich *gegen* die Nachbarländer zusammengeschlossen, Aber gegen welchen Feind könnte die ganze Welt zusammenstehen? Kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit irgendwelchen Banalitäten, lieber Freund. Schlagen Sie nicht vor: die Armut muß bekämpft werden, oder: die Krankheiten. Nein. Es sind die allgemeinen Vorstellungen, die Phantasien, die hier kranken, und an denen man ansetzen muß. Wir brauchen einen Feind, der sichtbar ist. Nur gibt es leider keinen.“

Well,“ sagte Lord Frank, „in unserem Land sind wir fast in der gleichen Lage. Als ich vorhin über Burgund geflogen bin, mußte ich an die Kriege zwischen den Königen von Frankreich und den Herzogen von Burgund denken, und ich sagte zu mir selbst: ‚Am Ende haben sie sich doch vereinigt, aber sie haben sich GEGEN einen gemeinsamen Feind vereinigt. Aber gegen welchen gemeinsamen Feind könnten die Völker der Welt zusammenstehen?‘ Aber im Unterschied zu Ihnen habe ich eine Antwort auf diese Frage.“

„Es gibt keine Antwort darauf,“ sagte Monsieur de Rouvray. „Gegen wen sollen wir uns zusammenschließen?“

„Wie wäre es denn mit dem Mond?“ sagte der Engländer leise.

Monsieur de Rovuray zuckte die Achseln. „Sie sind ein Witzbold, aber mir ist zur Zeit nicht nach Scherzen. In ein paar Wochen, vielleicht schon in wenigen Tagen, wird hier vielleicht eine Bomberflotte hoch über dieser Stadt, die jetzt noch so friedlich daliegt, ihr Zerstörungswerk verrichten, losgeschickt von einem Generalsstab in Bagdad oder Kanton. Diese herrlichen Häuser werden dann nur noch Trümmerhaufen von Beton und Menschenleichen sein ... und wir werden wieder 1947 schreiben.“

„Ich mache keine Witze, Rouvray, my dear fellow. Mir ist es völlig ernst damit. Hören Sie gut zu. Sie kennen doch unsere Leser. Sie wissen wie ich, wie leicht man sie alles glauben lassen kann. Sie haben doch gesehen, wie sie durch Medikamente geheilt wurden, die keinerlei Wirkung hatten – außer daß für sie eindrücklich geworben wurde. … Daß Bücher in riesigen Mengen verkauft wurden und überall Gesprächsstoff waren, von denen sie kein Wort verstanden haben, das ihnen Bilder gefallen haben, einzig aus dem Grund, weil sie Verleger und Kunsthändler mit geschickten Pressekampagnen dazu gebracht haben, alles hinzunehmen. Wieso sollten sie anderen Kampagnen, die wir führen, mehr Widerstand entgegen setzen? Wir kennen uns auf diesem Gebiet doch bestens aus – und wir haben das mächtigste Werkzeug dafür zur Verfügung.“

„Mir ist nicht klar, worauf Sie hinauswollen,“ sagte Rouvray. „Welchen Pressekampagne wollen Sie denn lancieren?“

Look here,“ sagte Douglas, „Sie haben selber gesehen, was 1947 passiert ist, genau wie ich, und Sie haben auch gelesen, wie es 1914 abgelaufen ist. Beide Male lief es in allen Ländern auf die gleiche Weise ab. Erst wurde der Haß auf den Feind geschürt und dann mit Berichten über Verbrechen und Greueltaten wachgehalten, die sich auf beiden Seiten kaum unterschieden. Die Skepsis, der Zweifel, verschwand völlig, der gesunde Menschenverstand wurde zum Verbrechen erklärt, der feste Glaube an die Berichte wurde zur Bürgerpflicht. Die unglaublichsten Geschichten wurden augenblicklich von einer öffentlichen Meinung geteilt, die wahnsinnig geworden war. Das Volk war so aufgehetzt, daß sie alles über ihre Feinde zu glauben bereit war. Stimmen Sie mir da zu?“

„Absolut,“ sagte Rouvray. „Aber ich sehe nicht, wie uns das in unserer jetzigen Lage helfen soll.“

„Warten Sie,“ sagte der Engländer. „Nehmen Sie einmal an, wir könnten so eine aufgeheizte Stimmung erzeugen, in der alles geglaubt wird. Stellen Sie sich vor, es würde uns gelingen, alle Länder der Welt so gegen einen Feind aufzubringen, den es überhaupt nicht gibt – oder der uns zumindest niemals gefährlich werden könnte. Glauben Sie nicht, daß wir dann in der Lage wären – und diesmal ohne Risiko – in all diesen Ländern einen Kriegswahn zu erzeugen, der sie einen würde? Denken Sie nicht, daß wir es so schaffen könnten, endlich eine Einigung der gesamten Welt zu erzielen?“

„Zweifellos,“ sagte der andere Zeitungsmagnat, leicht gereizt, „aber ich wiederhole mich: gegen wen?“

„Ich sehe da keinerlei Problem. Es kommt überhaupt nicht darauf an, gegen wen wir zusammenhalten, denn die wichtigste Eigenschaft des Feinds besteht darin, daß es ihn eben nicht gibt. Gegen die Bewohner des Monds – der des Mars – oder der Venus – das ist mir gleichgültig. Schauen sie, Rouvray: nehmen wir mal an, morgen früh berichten wir unseren Lesern auf der ganzen Welt, daß irgendwo ein Dorf durch mächtige, unbekannte Strahlen vernichtet worden wäre, von denen niemand weiß, woher sie stammen. Würden sie das glauben?“

„Sie würden es glauben. Aber wenn es eine Untersuchung des Vorfalls geben sollte…“

„Aber, my dear fellow, was macht es denn, wenn eine solche Untersuchung erfolgt, oder ob ihre Ergebnisse veröffentlicht werden? Wir kontrollieren doch alle Informationsquellen – und damit die öffentliche Macht. Wir dürfen nur nicht so unvorsichtig sein und einen Ort wählen, der leicht zugänglich ist. Wir sollten keine der großen Straßen in London oder einen Platz in Paris nehmen. Nehmen wir mal an, wir entscheiden uns für ein Dorf in Turkestan oder Alaska. Wie wollte man das nachprüfen?“

„Sie haben recht. Man würde uns das glauben. Und dann?“

„Dann passiert das gleiche in China, und tags darauf in Australien. Die Schlagzeilen werden natürlich immer größer: GEHEIMNISVOLLE FEINDE! WER GREIFT DIE ERDE AN? Er herrscht allgemeine Aufregung. Die Windkrise wird auf Seite 2 verbannt. Verstehen Sie?“

„Allmählich wird es interessant.“

„Nach einer Woche davon bringen wir Interviews mit Wissenschaftlern. Ich kenne einige Leute in England, die uns diese kleine Gefälligkeit tun würden, wenn ihnen klar wird, daß es die einzige Möglichkeit ist, die Welt zu retten. Sie kennen solche Leute in Frankreich, Kraft kennt sie in Deutschland. Die Wissenschaftler sind sich einig, daß aus der Richtung, aus der die Strahlen gekommen sind, ein gemeinsamer Ursprungsort erschlossen werden kann – und daß es sich dabei um den Mond handelt – oder den Mars, wenn ihnen das lieber ist.“

„Nein,“ sagte Rouvray, „mir gefällt der Mond besser.“

„Ach ja?“ sagte Douglas überrascht. „Wenn ich so darüber nachdenke, würde ich den Mars vorziehen. Uns ist immer gesagt worden, daß der Mond unbewohnt ist.“

„Ich weiß,“ sagte Rouvray. „Aber ich bin sicher, daß sie es uns glauben werden. Zumindest darauf können wir uns verlassen.“

„Gut,“ sagte Lord Frank. „Also kommen diese geheimnisvollen Angriffe vom Mond. Anschließend beginnt unsere Pressekampagne gegen die Mondbewohner, und wenn nach drei Monaten nicht jedes Kind auf der Erde fest davon überzeugt ist, daß jeder Bewohner des Monds ein Ungeheuer ist, und daß es die erste Pflicht jedes Erdlings ist, den Mond zu hassen und zu vernichten, feuere ich alle meine Redakteure. Aber in der Hinsicht mache ich mir keine Sorgen. Sie verstehen ihr Geschäft.“

Ich hatte während dieses Gesprächs (schreibt Brun) meinen Chef genau beobachtet. Zuerst schien er etwas verstimmt zu sein. Ihm mißfiel das, was er für bloßen Zynismus hielt: angesichts der drohenden Tragödie noch Scherze zu reißen, aber nach und nach gewann es ihm mehr ab, und am Ende las ich Zustimmung aus seiner Miene. Als Douglas geendet hatte, stand er auf und schüttelte ihm die Hand.

„Sie können auf mich zählen. Das Ganze ist verrückt, aber vielleicht ist es die einzige Möglichkeit, den Krieg zu verhindern.“

Er gab mir die Anweisung, den Rat der Fünf zu einer Konferenz per Telephotophon einzuberufen und die Hertz-Polizei zu benachrichtigen. (Brun, III, 160, 164)



Die Kampagne gegen den Mond

Auch heute noch, nach all den Fortschritte, die seitdem auf dem Gebiet der angewandten Psychologie erzielt worden sind, fällt es schwer, beim Wiederlesen der Berichte über die Pressekampagne der W.N.A. gegen den Mond von 1963 nicht die Zielsicherheit der von ihr angewandten Methoden und ihren Einfallsreichtum zu bewundern. Die Kampagne folgte im großen und ganzen dem Plan, den Rouvray und Douglas während ihrer Unterredung entworfen hatten. Er umfaßte drei Stufen:
1. Die Erzeugung des Glaubens an die Existenz dieser geheimnisvollen, bedrohlichen Phänomene mittels Furcht.
2. Die Zuschreibung dieser Phänomene an eine unbekannte Macht und die Suche nach dieser Macht.
3. Die Bestimmung des Feindes und der anschließende „große Feldzug gegen den Mond.“
(Sh. André Dubois, La Campagne Anti-Lunaire, Paris 1982.)

Die Auswirkungen waren bemerkenswert. Einen Monat nach dem Beginn der Kampagne, waren alle Völker der Welt von einem unbändigen Zorn auf den Mond ergriffen worden. Die Zeitungen der W.N.A. hatten auf die Titelkopf den Slogan

DIE ERDE ZUERST!

setzen können, ohne daß es zu Einwänden gekommen war.

Der Streit um die Windgebiete war wie durch Zauberkraft beigelegt worden, da es sich bei der ganzen Angelegenheit nur das Werk von konkurrierenden Finanzmagnaten gehandelt hatte, die versucht haten, für ihre eigenen Interessen die Unterstützung ihrer Regierung zu gewinnen. Alarmiert durch einen weltweiten Patriotismus, dem ihr Vorgehen als ein Verbrechen galt, entdeckten sie, daß nichts einfacher war, ein weltumspannendes Windkonsortium zu gründen, dem die Windmill Company und der United Mountaintop-Konzern beitreten würden und di Verwaltung des Mont Ventoux durch ein internationale Kommission sicherstellen würde. Die Generalstäbe – die im Juli noch Kriegspläne gegeneinander entworfen hatten – kümmerten sich nur noch um Zusammenarbeit und der Ausarbeitung einer gemeinsamen Verteidigung. Eine chinesische Militärdelegation war unter dem Jubel der Bevölkerung in Berlin empfangen worden und von einer Menge unter dem Absingen des neuen „Haßhymne auf den Mond“ Unter den Linden entlang eskortiert worden. In Japan hatten einige Männer Hara-kiri begangen, um die ungerächte Beschmutzung der Erde der Welt zu sühnen. In London nahm die Kriegspsychose eine seltsame Form an: in den Varietés, auf den Straßen und daheim sangen Männer, Frauen und Kinder denselben Modeschlager: „Oh, stop tickling me, Man in the Moon / stop tickling, stop, ah! Stop!

In den Vereinigten Staaten wurde vom Kongreß, ungeachtet des Protests zweier mondfreundlicher Senatoren, die Summe von 100 Millionen Dollar bewilligt für jeden Wissenschaftler, dem es gelingen sollte, eine Möglichkeit zu erfinden, eine Botschaft zur Oberfläche des Mondes zu senden, oder, statt einer Botschaft, eine wirksame Vergeltungswaffe.



Ben Tabrits Einstellung

Unter den Artikeln, die zu Beginn der Kampagne von der W.N.A. veröffentlicht wurden waren, zählte der Aufsatz von Ben Tabrit, dem Dekan der wissenschaftlichen Fakultät der Universität von Marrakesch und Erfinder des Windakkumulators, zu den bemerkenswertesten. Die meisten Wissenschaftler, die sich an der Kampagne beteiligten, zählten zu den persönlichen Freunden eines der fünf Direktoren. Da sie die verzweifelte Lage der Welt erkannt hatten, hatten sie eingewilligt – wenn auch nicht ohne Bedauern – an dieser gutgemeinten Täuschung mitzuwirken. Bei Ben Tabrit war dies hingegen nicht der Fall. Er war ein verschlossener Man, der ein zurückgezogenes Leben führte und nur selten sein Labor verließ, der aber trotzdem durch die Ausgefallenheit und Kraft seiner Ideen Erstaunen erregte, wenn er sich doch einmal zu Wort meldete.

In diesem besonderen Fall handelte es sich um eine Antwort auf einen Vorschlag, den Professor Baxter von der Universität Cambridge gemacht hatte. Baxter war der Ansicht gewesen, man sollte versuchen, die Mondbewohner umzustimmen, ehe man zum Angriff auf sie überginge. In seiner Antwort stellte Ben Tabrit folgende Frage: „Ist es möglich, daß auf der Oberfläche des Mondes Leben existiert? Nein – falls wir unter diesem Begriff Wesen verstehen, deren Körper wie die unseren aus Zellen bestehen, die atmen, Gewebe bilden und einen Stoffwechsel wie wir aufweisen. Aber warum sollten wir Leben auf eine einzige Organisationsform beschränken? Es ist durchaus denkbar, daß diese Wesen aus stabilisierten Bündeln aus Strahlungen bestehen, daß sie Zentren verfügen, die zu einer Willensbildung fähig sind, die wir aber nicht verstehen können und niemals verstehen werden, die aber, aus irgendwelchen unbekannten und niemals begreiflichen Gründen den Entschluß gefaßt haben, uns zu vernichten. Falls nun die Mondbewohner existieren (und die Ereignisse , die in den letzten Wochen auf der Erde beobachtet worden sind, legen den Schluß nahe, daß es sie gibt), muß es sich bei ihnen zwingend um Ungeheuer handeln, das heißt um Wesen, die sich uns so sehr unterscheiden, daß der Gedanke, mit ihnen in Verbindung zu treten und ihnen Friedensbotschaften zu senden, schlicht absurd ist. Zwischen Lebensformen, die sich seit Jahrmilliarden in völlig unterschiedlicher Richtung entwickelt haben, gibt es keine verbindenden Punkte, auf denen sich ein gemeinsamer Wortschatz entwickeln ließe. Fall die Mondbewohner existieren, befinden wir uns ihnen gegenüber in derselben Lage wie die Jäger der Steinzeit gegenüber dem Tiger. Sie haben nicht mit dem Tiger verhandelt. Sie haben ihn entweder getötet oder wurden von ihm getötet. Die Menschheit hat den Tiger nicht zivilisiert. Sie hat ihn ausgerottet.

„Nun wäre es erheblich leichter gewesen, eine Sprache zu schaffen, in der sich Menschen und Tiger verständigen können, als eine gemeinsame Weltansicht für die Menschen und die Mondbewohner. Der Tiger war immerhin ein Säugetier, viele seiner Körperfunktionen entsprachen den unseren. Wir könnten viele seiner Verhaltensweisen verstehen. Aber von den Mondbewohnern verstehen wir überhaupt nichts. Der Versuch, uns mit ihnen zu verständigen, gleicht einer Gleichung, die nur Unbekannte enthält. Der Versuch, sie zu bekämpfen, kann nur auf eins hinauslaufen – auf den Versuch, die Mondoberfläche so starker Strahlung auszusetzen, daß keine Verbindung, welcher Art auch immer, dies übersteht.“



Der Streit zwischen Rouvray und Douglas

Lord Frank Douglas hatte Ben Tabrits Artikel mit großem Vergnügen gelesen. Es erheiterte ihn, daß sein Einfall, der ihm selbst zuerst so absurd erschienen war, mittlerweile die klügsten Köpfe der Welt beschäftigte. Rouvray dagegen wurde seit einiger Zeit immer nervöser. Mehr als einmal hatte er bei Douglas und Smack über das Telephotophon angefragt, ob es nicht ratsam wäre, die Kampagne zu beenden (Journal de Brun, III, S. 210). Das gewünschte Ziel sei doch erreicht: die Gründung der World-Wide Wind Company war erfolgt. Wieso sollte man weitermachen?

„Dafür gibt es drei Gründe,“ antwortete Douglas. „Es läuft ausgezeichnet. Wenn wir jetzt plötzlich aufhören, besteht das Risiko, daß unsere ganze Kampagne an Glaubwürdigkeit einbüßt. Und außerdem war der Zank um die Windkraft nur das Ergebnis der allgemeinen Stimmung, einer latenten Feindlichkeit unter den Völkern, wie Sie das so schön ausgedrückt haben. Wir haben ihnen die Sorge um den Mond als Ablenkung hingehalten. Wir sollten vorsichtig damit sein, ihnen das wegzunehmen. Wovor haben Sie eigentlich Angst?“

„Es mag Ihnen komisch vorkommen,“ sagte Rouvray. „Aber ich habe Angst, daß der Mond tatsächlich bewohnt ist.“

Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie sich auf Lord Frank Gesichtszügen ein herzhaftes Lachen abzeichnete.

„Na bitte! Der bislang größte Erfolg an gewandter Psychologie! Sie haben es geschafft, sich selbst zu überlisten!“

„Lachen Sie nicht!“ sagte Rouvray. „Ich mache mir ernsthaft Sorgen. Ja, Sorgen. Haben Sie etwas anderes erwartet? Ich habe mir noch mal die Geschichte der Kriege von 1914 und 1947 durchgelesen. Haben Sie einmal an den ungeheueren technischen Fortschritt gedacht, den beide Kriege zur Folge gehabt haben, unter dem Druck des Hasses und den Zwang zu siegen? Denken Sie nur an den Stand der Flugtechnik im Jahr 1914 und dann im Jahr 1918. Denken Sie daran, was wir 1947 über die Nutzung der Kräfte des Atoms wußten und was 1951. Und nehmen Sie einmal an, daß heute…“

„Aber mein lieber Rouvray,“ sagte Lord Frank, „selbst wenn Ben Tabrit oder sonst jemand eine Erfindung macht – und ich kann mir nicht vorstellen, welches Wunder dazu nötig wäre – mit der man den Mond erforschen oder ihn erreichen könnte – was würde das schaden? Schließlich gibt es da oben kein Leben.“

„Können wir da sicher sein? Sie haben Ben Tabrits Artikel gelesen. Es gibt dort keine Bewohner in dem Sinn, den wir heute unter ‚Lebewesen‘ verstehen, aber könnte es nicht sein, daß er mit seiner Vermutung recht hat, daß es dort Energiesammlungen gibt, die auf ihre eigene Weise Individuen darstellen und handeln und denken und sich wehren können?“ (Brun, 212, 213)

Nach der Darstellung von Delines Life of Smack (Leipzig 1975) kam es zu diesem Zeitpunkt auch zu einem Austausch von Radiogrammen zwischen Rouvray und Smack. Aus Smacks Antwort geht hervor, daß ihn Rouvrays Argumente in keiner Weise beeindruckt hatten. Wir zitieren sie hier im Wortlaut, weil sie so charakteristisch für ihn ist: „Must go ahead and let B.T. go to the devil. Hope you are well and happy. Ditto Madame Smack.“

Bei der folgenden Sitzung des Fünferrats brachte Rouvray erneut seine Einwände vor und erhielt Widerspruch von Douglas, der leichtes Spiel hatte. Man war sich einig, daß sich die aufgepeitschten Emotionen gegen ein anderes Ziel richten würden, wenn der Haß auf die Mondbewohner ohne Vorankündigung wegfiele.



Ben Tabrits Erfindung

Der ganze Herbst des Jahres 1988 wurde von der Aufregung über die neuen Angriffe beherrscht, über die die Zeitungen in immer ausführlicheren Einzelheiten berichteten, und von den Aufmärschen, Versammlungen und Demonstrationen für die Weltvereinigung. Länder, die bis dahin auf Kriegsfuß miteinander gestanden hatten, tauschten Delegationen aus; in jeder Schule der Erde stand „Weltpatriotismus“ auf dem Unterricht. Das Bild eines Mondbewohners, den ein Karikaturist des „Punch“ kreiert hatte, wurde populär und war auf allen Mauern von Timbuktu bis Benares zu finden.

Im November 1963 bat Ben Tabrit, der seit einigen Monaten ganz im Geheimen in seinem Labor geforscht hatte, die WNA um die Bekanntgabe, daß er endlich das entdeckt hatte, wonach er gesucht hatte, nämlich:
a. einen Energiestrahl, der in der Lage war, jedes Molekül, auf das er traf, zu vernichten, sowie
b. eine Sendevorrichtung, deren Leistung hinreichte, diese Strahlen bis zur Mondoberfläche zu senden.

Als der Fünferrat von diesem Schreiben in Kenntnis gesetzt wurde, machte Rouvray, von Panik erfaßt, den Vorschlag, Ben Tabrit nach Paris kommen zu lassen und ihn in die tatsächliche Lage der Dinge einzuweihen. Douglas und Dr. Kraft wandten sich mit Nachdruck dagegen. „Wir alle kennen Ben Tabrit. Er vertritt die Sache der Wissenschaft fanatisch. Wenn er erfährt, daß einige seiner Kollegen sich dazu hergegeben haben, gefälschte Forschungsergebnisse zu veröffentlichen – und sei es auch zu dem Zweck, die Menschheit zu retten – dann ist er fähig, einen Skandal in der Öffentlichkeit zu entfesseln. Und wenn er das tut, ist es nur eine Frage von Minuten, bis die WNA ihre gesamte Glaubwürdigkeit verliert – und unsere Autorität ist das Einzige, das zwischen dem Weltfrieden und einem Blutbad steht. Welches Risiko besteht denn, wenn wir Ben Tabrit einfach weitermachen lassen? Soll er doch die tote Materie des Monds mit seinen Strahlen beschießen, wenn es ihm Spaß macht! Er muß jetzt bei den Regierungen um die Mittel bitten, um seine Vorrichtung bauen zu können, und das wird die Öffentlichkeit erst einmal wieder ausgezeichnet ablenken.“

Das einzige Zugeständnis an Rouvray bestand in der Entscheidung, daß die Zeitungen der WNA nicht mehr so oft die Angriffe der Mondbewohner melden sollten. Vorerst einigte man sich darauf, sie im monatlichen Turnus stattfinden zu lassen – in unregelmäßigen Abständen, um sich glaubwürdiger wirken zu lassen – und nach den ersten Testerfolgen von Ben Tabrits Verfahren die gesamte Kampagne einzustellen. Dann könnte man erklären, daß die Mondbewohner – die ohne Zweifel durch die Strahlenwaffe des marokkanischen Wissenschaftlers in Panik versetzt worden waren – hätten ihre Angriffe eingestellt. Die Weltbevölkerung könnte die Siegesfreude auskosten, und angesichts dieses Siegestaumels würde es sicher leichtfallen, die Vereinung der Welt auf geraume Zeit fortzusetzen.

Am nächsten Tag verkündeten die Zeitungen Smacks in flammenden Schlagzeilen:

MOROCCAN SCIENTIST TO FIGHT THE MOON



Die Katastrophe vom Februar 1964

Es war nicht schwer gewesen, die Regierungen dazu zu bewegen, Ben Tabrit die nötigen Mittel für die Konstruktion seiner Vorrichtung zur Verfügung zu stellen, und Ende Januar hatte der berühmte Wissenschaftler alles Benötigte in Marrakesch beisammen. Der erste Versuch fand am 2. Februar statt. Er erwies sich als voller Erfolg. Mit Hilfe leistungsfähiger Teleskope gelang es, die Auswirkung des Energiestrahl auf die Mondoberfläche zu verfolgen. In Sekundenschnelle entstanden Krater von enormer Tiefe. Diese Angriffe erfolgten an drei weit auseinanderliegenden Punkten auf der flachsten Stelle, die sich auf der Mondoberfläche finden ließ, und am nächsten Morgen brachten die Zeitungen der WNA triumphierende Meldungen über das wahrscheinliche Ausmaß der Zerstörungen, mit vergrößerten Teleskopaufnahmen: „Zustand der Mondoberfläche vor dem ersten Angriff – Zustand der Mondoberfläche nach dem Einsatz der Strahlen.“

Wer hätte geahnt, daß wir sehr bald Anlaß haben würden, über die die gleiche Art zerstörerischer Angriff zu berichten – diesmal auf der Erde?

Der dritte, vierte und fünfte Februar vergingen in aller Ruhe. Am Morgen des 6. Februars, um fünf Uhr früh, ließ Dr. Kraft ans Telephotophon rufen (Brun, IV, S. 17). Rovray, noch halb im Schlaf, ging an den Apparat und konnte das Bild von Dr. Kraft auf dem Bildschirm nur verschwommen ausmachen.

„Mein lieber Freund,“ sagte Kraft, „ich muß Ihnen eine furchtbare Nachricht mitteilen. Heute Nacht ist Darmstadt völlig zerstört worden.“

„Ich verstehe Sie nur schlecht,“ sagte Rouvray.

„Ich rufe Sie von meinem Flugzeug aus an. Darmstadt ist heute nacht durch ein unerklärliches Ereignis vernichtet worden. Ich überfliege gerade die Ruinen. Meine Scheinwerfer zeigen an der Stelle, wo die Stadt gestanden hat, nichts mehr als nur glühendes, geschwärztes Gestein. Die Hitze ist so groß, daß man nicht tiefer als fünfhundert Meter hinuntergehen kann. Es kann leider kein Zweifel mehr bestehen. Hier handelt es sich um Vergeltungsmaßnahmen des Monds.“

„Furchtbar!“ sagte Rouvray. „Meine Befürchtungen bestanden also zu Recht, und die Mondbwohner …“

„Seien Sie vorsichtig, Rouvray!“ sagte Dr. Kraft. „So früh am Morgen kann ich für die Verschlüsselung unserer Verbindung nicht garantieren. Tun Sie mir den Gefallen und berufen Sie eine geheime Sitzung des Rats ein.“

„Paßt es Ihnen um Viertel nach acht?“ fragte Rouvray. (Brun, IV, S. 19, 20)



Der Kriegsrat vom 6. Februar

Nachdem die Ratssitzung eröffnet war, berichtete Dr. Kraft seinen Kollegen von der Katastrophe. Das Stadtzentrum war vollständig zerstört worden; in den Vororten war von vielen Häusern nur noch Asche geblieben. Andere schien unbeschädigt geblieben zu sein. Niemand konnte sagen, ob es noch Überlebende in den Ruinen gab, aber die Hoffnung darauf schien trügerisch. Denn die Verletzten mußten der gewaltigen Hitze, die die Flugzeuge an der Landung hinderte, zum Opfer gefallen sein. Aus den Dörfern in der Nähe von Darmstadt waren einige nähere Einzelheiten zu erfahren. Der Angriff der Mondbewohner mußte kurz nach Mitternacht erfolgt sein. Doe plötzliche Hitze hatte viele Leute in der Nähe des angegriffenen Gebiets geweckt. Niemand hatte ein Licht bemerkt. Die Mondbewohner verwendeten offenbar einen unsichtbaren Strahl. Das ganzen Tag über sah die Stelle, an der die Stadt gestanden hatte, wie der Krater eines gewaltigen Vulkans aus.

Douglas eröffnete die Diskussion, indem er die Verantwortung für die Katastrophe von sich wies. Um war es nur darum gegangen, für eine harmlose und sogar amüsante Ablenkung zu sorgen. Aber der Vorfall zeigte, daß es gefährlich war, die Idee eines Kriegs zwischen den Planeten zum Zweck irdischer Politik nutzen zu wollen. Rouvray, der ziemlich aufgebracht wirkte, hielt ihm entgegen, daß sie alle gemeinsam die Verantwortungen trugen, daß das gesamte Direktorium mit den besten Absichten bei diesem gefährlichen Spiel mitgemacht hatte, und daß es jetzt nicht darum ginge, wer die Verantwortung trüge, sondern darum, Abhilfe zu schaffen.

Dr. Kraft stellte fest, daß es zwar angehen würde, hier im geheimen Zirkel Fehler einzugestehen. Aber was die Öffentlichkeit betreffe, so habe sich jetzt nichts geändert. Die Angriffe seien jetzt wirklich, nicht mehr erfunden. Das ändere zwar ihre konkrete Bedeutung, aber nicht das, wofür sie stünden. Was ihren Wert für die Propaganda anging, so war es sogar noch gestiegen, und es käme jetzt darauf an, den größtmöglichen Nutzen für die Sicherheit der Erde daraus zu ziehen.

Smack, der sich als nächster zu Wort meldete, teilte mit, daß in allen Abendzeitungen große Berichte über Kriegsanleihen erscheinen würden. Da Ben Tabrit der einzige sei, der in dieser Lage über eine wirksame Waffe verfügte, müsse man ihn davon überzeugen, das Geheimnis seiner Erfindung offenzulegen, und ihm unbegrenzte Mittel zur Verfügung stellen, um den Mond zu vernichten.

„Ich möchte hier eine Ansicht vertreten,“ sagte Rouvray, „die das genaue Gegenteil von Mr. Smacks Meinung darstellt. Es widerstrebt mir, hier als jemand aufzutreten, dessen Warnung sich als prophetisch erwiesen hat – obwohl ich selbst nicht daran geglaubt habe, als ich sie ausgesprochen habe. Aber die tragischen Folgen unserer unseres Tuns sollten uns eine Warnung sein. Eins scheint mir ganz klar zu sein: je mehr Mittel wir Ben Tabrit zur Verfügung stellen, desto heftiger werden unsere Angriffe ausfallen und umso furchtbarer werden die Vergeltungsschläge dafür sein. Wir wäre es, wenn wir von jetzt an die Mondbewohner in Frieden lassen würden? Sie haben sich nie um uns bekümmert – bis wir sie attackiert haben. Können wir nicht davon ausgehen, daß sie uns auch in Zukunft in Ruhe lassen, wenn wir uns so verhalten wie bisher, weil sie dann wieder in Frieden leben und ihre Ruhe haben? Ich glaube nicht, daß sie auf Rache aus sind – sie wissen ja nichts von uns.“

„Das, mein lieber Rouvray,“ sagte Douglas, „scheint mir nicht besonders logisch. Man haßt doch gerade das, was man nicht kennt. Und können wir im Fall des Monds überhaupt von ‚Haß‘ reden?“

„Wenn wir,“ fuhr Rouvray fort, „die öffentliche Meinung nach Kräften unterstützen wollen und die Mittel aus diesen Krediten für Unternehmungen im Weltraum verwenden, sollten unser Ziel dann nicht sein, mit diesen Wesen Kontakt aufzunehmen? In diesem Fall können wir dann völlig ehrlich handeln. Wir sind davon ausgegangen, daß es auf dem Mond kein Leben gibt. Können wir die Mondbewohnern nicht davon überzeugen?“

„Völlig unmöglich,“ sagte Douglas. „Erinnern Sie sich an Ben Tabrits Artikel. Wir verfügen weder über eine gemeinsame Sprache noch über gleiche Sinnesorgane mit diesen Wesen. Wie sollten wir uns mit ihnen verständigen?“ (*)

Sie alle, selbst Rouvray, mußten zugeben, daß er damit recht hatte, und daß ihnen keine andere Wahl blieb, als Krieg zu führen. Das furchtbare Wort war wieder gefallen. Allerdings wurde auch beschlossen, die Mondbewohner in Frieden zu lassen und nicht wieder anzugreifen, solange sie ihrerseits Frieden hielten. (Brun, IV, 33)

(* Dieser Satz von Douglas, der in der Fachliteratur so häufig als ein Beispiel für einen klassischen Fehlschluß zitiert wird, ist nicht ganz so absurd, wie es scheint. Man muß sich klarmachen, daß man 1964 keinerlei Ahnung – nicht einmal die schemenhafteste – von der Theorie der sensorischen Äquivalente hatte, und daß sich Douglas die sprachlichen Transpositionen nicht vorstellen konnte, die heute die interplanetarische Verständigung so leicht machen. Sh. „Sensory Equivalents,“ Veröffentlichungen der Liga der Planeten, Venus, 2000)



Rouvrays Tod

Der Ablauf der Ereignisse der folgenden beiden Tage ist noch nicht völlig geklärt. Das phonophotographische Protokoll der Ratssitzung zeigt, daß der Vorschlag gemacht wurde, daß Ben Tabrit per Telephotophon vom Beschluß informiert werden sollte. Smack, der den marokkanischen Wissenschaftler persönlich kannte, weil er einmal mit ihm zusammengearbeitet hatte, lehnte das ab und schlug stattdessen vor, daß eins der Ratsmitglieder persönlich nach Marrakesch reisen solllte. Die Wahl fiel natürlich auf Rouvray, weil er für die Einstellung der Angriffe plädiert hatte.

Am Abend des 6. Februar wurde bekannt, daß Rouvrays Flugzeug Marrakesch nicht erreicht hatte. Um 17:00 wurde die Nachrichtenzentrale der WNA davon informiert, daß in der Nähe der Balearen Trümmer der Maschine in Meer gesichtet worden waren. Rouvray war ertrunken. Viele Historiker vermuten, daß der alte Franzose Selbstmord begangen hat (sh. dazu besonders Jean Prévost, Vie de Rouvray, Paris 1970). Natürlich ist es nicht leicht, diese Theorie schlüssig zu widerlegen. Rouvray reiste stets allein, mit einem Privatflugzeug, das er selbst lenkte. Er hatte seit dem Morgen deutliche Anzeichen einer tiefen Verstörung gezeigt. Auch die Vermutung eines Unfall scheint unwahrscheinlich: bei de Maschine handelte es sich um ein gyroskopisches Modell aus dem Jahr 1962, dessen Flugsicherheit vor Pilotenfehlern legendär ist.

Die Theorie eines Selbstmords wird weder von Brun noch von Douglas geteilt, die beide noch mit Rouvray kurz vor seinem Start gesprochen haben. Er war von der Bedeutung seiner Mission absolut überzeugt und sprach von der Hoffnung, daß es ihm gelingen könnte, die Welt zu retten, wenn die Angriffe unverzüglich eingestellt würden. Angesichts dessen fällt es schwer zu glauben, daß er selbst seinem Leben ein Ende gesetzt haben soll. Brun (IV, 210-250), legt ausführlich seine eigene Ansicht dar, nämlich daß Rouvray durch Fanatiker der Anti-Mond-Fraktion ermordet wurde. Wir wissen, daß die Sabotage der Steuerung durch Fernwirkung auch schon 1964 technisch möglich war, wenn auch im Fall Rouvrays keine Anzeichen dafür vorliegen. Die mondfeindliche Stimmung war weitverbreitet, und der Haß, mit dem der „Mondfreund“ Rouvray in vielen Berichten gedacht wird, macht betroffen. Andererseits war die Haltung, die Rouvary in der Ratssitzung am 6. Februar vertreten hatte, zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht in der Öffentlichkeit bekannt. Das Treffen war geheim gewesen, und wenn er einem Anschlag zum Opfer gefallen ist, läßt sich nicht feststellen wer dafür verantwortlich ist und wie er durchgeführt wurde. Ob nun Selbstmord, Unfall oder Anschlag – Rouvrays Tod war eine Katastrophe für die Welt.

Das Verhalten von Ben Tabrits gibt nicht weniger Rätsel auf. Hat er wirklich nicht das Radiogramm erhalten, das ihn zur unverzüglichen Einstellung seiner Angriffe aufforderte, so wie er später behauptete? Oder konnte er der Versuchung nicht widerstehen, seine Vorrichtung trotzdem weiter zu testen? Diese Frage ist äußerst umstritten (sh. dazu The Responsibilities for the Inter-Planetary War, Jerusalem, 12 Bde.). Über die Tatsachen selbst hingegen besteht kein Zweifel. In der Nacht vom 6 auf dem 7. Februar wurde auf allen Sternwarten der Erde beobachtet, wie Ben Tabrits Energiestrahl einen neuen Krater auf der Mondoberfläche erzeugte. Der Gegenschlag ließ nicht lange auf sich warten. Am 7. Februar wurden die Städte Elbeuf (Frankreich), Bristol (Rhode Island) und Uppsala (Schweden), durch die Mondbewohner vernichtet. Das Zeitalter der Weltraumkriege hatte begonnen.

***

André Maurois (1885-1967) ist heute wohl nur noch als der Autor zahlreicher Biographien bekannt (u.a. Disraeli, 1927; Alexander Fleming, 1929; Byron, 1930; Byron und Voltaire, beide 1930; George Sand, 1952). Sein Romanwerk, angefangen mit seinem Erstlingswerk Le silences du Colonel Bramble (1918) dürfte wie so viele Oeuvres littéraires heute weitgehend ungelesen sein und zur Illustration von Paul Valérys Satz taugen, der angesichts der endlosen, ungelesenen Regalkilometer der Bibliothéque nationale Pascals bekanntes Bonmot leicht variierte: „Le silence eternel des ces volumes interminables m’effroye!“ Wenn man sich aber vom Schweigen der ungelesenen Bände nicht abschrecken läßt, kann man durchaus auf Fischzug ausfahren.

Maurois‘ Ausflüge auf das Gebiet des Phantastisch-Spekulativen umfaßt neben den beiden Romanen Le peseur d’âmes (Gallimard, 1931) und La machine à lire les pensées (Gallimard, 1937) und dem satirischen Inselabenteuer Voyage au pays de Articoles (Gallimard, 1928) – das Gelegenheit zum tête-a-tête mit berühmten Dichtern und Künstlern vergangener Zeiten bietet (Walter de la Mares Henry Brocken (1904) oder Arno Schmidts „Tina: oder über die Unsterblichkeit“ (1956) lassen grüßen) auch die beiden „Fragmente einer zukünftigen Weltgeschichte.“

„Le chapître suivant“ erschien zuerst in englischer Übersetzung im Juli 1927 in im amerikanischen Magazin Forum; im gleichen Jahr als Broschüre im amerikanischen Verlag Kegan Paul, Trench, Trübner & Co. Und ebenfalls 1927 im Original im Pariser Verlag Le Sagittaire in der Reihe Les cahiers nouveaux, sowie ein Jahr später in der Éditions des portiques mit einem weiteren Kapitel dieser Art, „La vie des hommes.“



U.E.

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