31. März 2021

Béla Balázs, "Das Buch des Wan-Hu-Tschen" (1921)



(Béla Balázs)

Liu-Tschang ist eine reiche Stadt. In dieser lebte einmal ein armer Mensch namens Wan-Hu-Tschen. Seine Eltern hatten ihm ziemlich viel Geld hinterlassen und auch seine Verwandten waren vermögende Leute. Aber Wan-Hu-Tschan liebte keine ehrliche Arbeit; weder wollte er Handel treiben auf den Barken mit den Drachensegeln, noch hatte er Lust zur Seidenweberei. Stets befaßte er sich mit gelehrten Büchern, denn er wollte die Staatsprüfungen ablegen, um Beamter zu werden. Aber Wan-hu-Tschan war dumm. Nicht einmal den ersten Tschin-Grad mochte er zu erreichen. So verarmte er allmählich, und darum verstießen ihn auch seine Verwandten, ja sie machten sich auch noch lustig über ihn. Das ist es, was wir von Wan-Hu-Tschan wissen müssen.

Li-Fan war die Tochter des Staathalters, deren Lilienwangen das Herz Wan-Hu-Tschans zur Liebe entflammt hatten.

Doch auch Li-Fan lachte nur über ihn. Der Staathalter aber fing einen Brief des Wan-Hu-Tschen auf, der also lautete:

"O, mein Lieb, wie bist du mir so ferne,
Fern bist du mir, wie meinem Zimmer der Mond,
Dein weißes Bild zittert am Grunde meines Herzens.
So wie der Mond auf meines Zimmers Boden."

Da ließ der Statthalter den armen, dummen und arbeitsscheuen Freier aus seinem Hause werfen.

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Nach dieser großen Schande mied Wan-Hu-Tschen die Menschen und irrte mit niedergeschlagenen AUgen auf einsamen Wegen umher. Allabendlich jedoch saß er betrübten Herzens bei einem mageren Lämpchen vor seinen weißen Reishäuten und seinem braunen Weinkrug. Wan-Hu-Tschen schrieb ein Buch. Deshalb hatte er weiße Reishäute und einen braunen Weinkrug vor sich. Er schrieb die Geschichten der Ahnen nieder, und jene hochberühmten Abenteuer, die Menchen so oft mit den Geistern der Toten, mit Füchsen, Blumenseelen und verschiedenen Vögeln zu bestehen gehabt hatten. Treu und genau verzeichnete er diese Geschichgten, nie schrieb er lügenhafte Erfindungen hinein. Doch seitdem ihm der Anblick der lilienwangigen Li-Fan verboten war, verzehrte ihn die unerträgliche Qual der Sehnsucht dermaßen, daß er eine Geschichte von einem Mädchen Namen Li-Fan erdachte, und diese schrieb er nun immer mit seinem feindfädigen Pinsel auf die weißen Reishäute. Ja, seine Li-Fan war noch schöner als die aus Liu-Tschang und war nicht nur die Tochter eines Staathalters, sondern die eines mächtigen Mandarins, und hundert Mägde bedienten sie. Fern von hier wohnte sie, im Tal der weißen Apfelblüten, und sie lachte nicht immer, sie trieb auch nicht grausame Scherze, sondern saß bleich und erwartungsvoll am Fenster und blickte nach Norden zum Schloß des Prinzen Wang, indem sie diese Verse sprach:

"O, mein Lieb, wie bist du mir so ferne,
Fern bist du mir, wie meinem Zimmer der Mond,
Dein weißes Bild zittert am Grund meines Herzens.
So wie der Mond auf meines Zimmers Boden."

Jetzt war es Li-Fan, die diese Worte sprach, und Wan-Hu-Tschens Herz krampfte sich zusammen, so leid tat sie ihm. "Doch es soll ihr nur wehtun," sagte er dann. "Es soll auch ihr wehtun" - verhärtete er sich.

Eines Abends ging das Öl in Wan-Hu-Tschens Lampe aus, so daß er nicht weiterschreiben konnte. So steckte er also seinen Pinsel in einen Sprung der Tischpatte neben die Schale, die nasse Spitze nach oben, damit sie seine ausgebreiteten Reishäute nicht beschmutze. Dann betrachtete er mit sehnsuchtsgeschwollenem Herzen, wie der große Vollmond in das schwanke Dunkel seines Kämmerchens glit und wie er seinen silbernen Finger in den roten Wein der Schale tauchte und ihn streichelnd auf das Schreibblatt legte, auf Li-Fans mit Tusche gemalten schönen Namen. Da stürzten aus Wan-Hu-Tschens Augen die Tränen und er sprach: "O, wie bist du mir nahe, schöne, traurige Li-Fan; aus der Spitze meines feinfädigen Pinsels bis du geflossen und das Tal der weißen Apfelblüten liegt auf meinen weißen Reishäuten hier. Und doch, wie einsam sitze ich hier in meinem dunklen Zimmer. Kämst du zu mir, wenn ich riefe: Li-Fan! ... O, Li-Fan!! ...

Kaum hatte er gerufen, da bemerkte Wan-Hu-Tschen, daß die Fäden des Pinsels, der neben seiner Schale stand, sich kräuselten und dann sich auseinanderbogen wie die Zweige eines kleinen Palmenbaumes. Der kleine tuschfarbene Baum begann auch gleich zu knospen und winzige schwarze Blätter sproßen auf glänzenden schwarzen Zweiglein. Auf die schwarze Krone des kleinen Pinselbaumes schien hell der Mond und warf einen schaukelnden Schatten auf den Tisch. Da fiel von der obersten Spitze ein kleines schwarzes Blättchen wirbelnd in den Wein der Schale und schwamm an der Oberfläche. Sobald es jedoch feucht wurde, bogen sich die Ränder aufwärts und es wurde ein kleines schwarzes Boot daraus. Wan-Hu-Tschen gewahrte, daß ein winziges, feines Mädchen im Boote saß und über den Wein zu ihm geschwommen kam. Wam-Hu-Tschen legte den kleinen Finger auf den Rand der Schale und Li-Fan trat darauf und stieg aus dem Boot.

- Hier bin ich Herr - sprach sie mit kaum vernehmbarer Silberstimme - Ich komme aus dem Tal der weißen Apfelblüten, weil du mich riefst.

- O, süße, schöne Li-Fan - erwiderte Wan-Hu-Tschen glückselig - wie lange, wie lange warte ich hier einsam auf dich! So sieh mich doch an! Warum wendest du dein bleiches Antlitz ab, den Blick immerfort nach Norden gerichtet?

- Weit oben im Norden ist das Schloß meines Liebsten, des Prinzen Wang.

- O wende dich zu mir, schöne Li-Fan, ich habe dich ja für mich selbst geschrieben, weil ich dich liebe und so einsam bin.

Li-Fan breitete die Arme gegen Norden aus:

"O, mein Lieb, wie bist du mir so ferne,
Fern bist du mir, wie meinem Zimmer der Mond."

- Wahrlich, so habe ich selbst deine Worte geschrieben - sagte Wan-Hu-Tschen ungedildig - Aber den Prinzen Wang habe ich nur erufnen, weil ich doch nicht selbst in das Buch eintreten konnte. O, erbarme dich meiner. Nur einen Blick!

- Dein weißes Bild zittert am Grund meines Herzens - sang die kleine Li-Fan weiter.

- Du bist herzlos, Li-Fan. Sieh, Prinz Wang ist reich und glücklich, ich aber bin arm und verlassen. Dennoch leerst du den Krug deiner Freuden lieber in jenes Meer, als mich Dürstenden daraus zu tränken. Und doch seid ihr beide aus meinem Pinsel geboren, du und dein Prinz.

- Es ist nicht meine Schuld - versetzte Li-Fan traurig -, so bin ich nun einmal aus deinem Pinsel geboren.

Da wurde Wan-Hu-Tschen zornig. - Nun, so geh nur ins Buch zurück. Du wirst schon sehen, was geschieht.

Kaum hatte er dies gesagt, da war Li-Fan verschwunden, und auch der kleine schwarze Baum schloß sich wieder zu einem spitzen Pinsel zusammen. Am nächsten Tage schrieb Wan-Hu-Tschen ein neues Kapitel in sein Buch, das hieß: "Der gräßliche Tod des Prinzen Wang." In diesem Kapitel brachten böse Räuber den Prinzen Wang in grausamer Weise um.

An diesem Abend wollte Wan-Hu-Tschen Li-Fan wieder herbeirufen, aber das Mitleid schnürte ihm die Kehle zu. Er hätte der armen Li-Fan nicht ins Auge zu sehen vermocht. Kaum hatte er sich schlafen gelegt, so erschien ihm der Geist des Prinzen Wang im Traum und setzte sich auf den Rand des Bambusbettes. - "Du hast mich getötet, Wan-Hu-Tschen," - sagte er traurig. - "mich aber schmerzt nur das Schicksal Li-Fans, die mit verwitwetem Herzen im Tal der weißen Apfelblüten blieb. Hilf ihr, denn ihr Dasein ist unerträglich." Mehr sagte der Geist nicht und verschwand.

Am nächsten Morgen setzte sich Wan-Hu-Tschen gleich vor seine Reishäute hin, aber sein Pinsel rührte sich nicht. Was war da zu tun? Sollte er sich einen Rivalen schreiben? Sein Tag verging mit Grübeln und abends wagte er Li-Fan wieder nicht herbeizurufen, denn er schämte sich. Doch kaum war er eingeschlafen, erschien ihm wiederum der Geist des Prinzen Wang und war noch trauriger als in der vorigen nacht. - "Ich bitte dich, lieber Wan-Hu-Tschen," - so sprach er, - "tröste die arme einsame Li-Fan. Wenn duch mich schon hast töten lassen, so rufe sie zu dir, und liebe sie du, denn einem von Liebe aufgewühlten Weiberherzen scheint das Leben ohne Mann zu unerträglich." - Dies sprach ser und verschwand.

Da erwachte Wan-Hu-Tschen. Der Mind ging durch das Dunkel seiner Kammer und blätterte mit silbernen Fingern in seinen Reishäuten. Wan-Hu-Tschen erhob sich und setzte sich an den Tisch. Seinen Pinsel steckte er in den Sprung neben die Schale und rief mit ängstlicher Stimme den Namen Li-Fan. Da kräuselten sich die Fäden des Pinsels. Der kleine schwarze Baum begann Laub anzusetzen, und als seine bebende, kleine Krone schon einen runden Schatten auf die Tischplatte warf, fiel von dem Gipfel das kleine schwarze Blättchen in die Schale. Die Ränder bogen sich aufwärts und so schwamm das kleine Boot auf dem Wein und brachte Li-Fan. Wan-Hu-Tschen legte den kleinen Finger auf den Rand der Schale und Li-Fan stieg aus. Ihr bleiches, verweintes Antlitz schien durch den Trauerschleier. - Du riefst mich her - sagte sie - ich kam aus dem Tal der weißen Apfelblüten, wo ich jetzt liebelos in der Wüste lebe.

- O, verzeihe mir, teure Li-Fan - stammelte Wan-Hu-Tschen. Doch Li-Fan stieg aus seiner Handfläche auf den Boden hinunter und begann zu wachsen. Bald stand ein wunderschönes, schlankes Mädchen vor Wan-Hu.Tschen. Haare und Augen waren schwarz wie glänzende Tusche, und die junge Haut leuchtete weiß wie frisches Reispapier. an-Hu-Tschen betrachtete sie entzückt.

- O, herrliche Li-Fan - sprach er - kannst du mir meine furchtbare Grausamkeit jemals verzeihen? Li-Fan aber antwortete nicht auf diese Worte, sondern breitete ihre schimmernden Arme gegen Wan-Hu-Tschen aus, während sie zwischen den Zähnen summte:

"Dein süßes Bild zittert am Grunde meines Herzens, So wie der Mond auf meines Zimmers Boden."

- O, Li-Fan, hättest du in mein Herz schauen können, - fuhr Wan-Hu-Tschen fort - du hättest meine Tat begriffen.

Da lächelte Li-Fan und ihre schönen Zähne blitzten im Mondschein. - Das sind keine Reden, - sprach sie, - wie sie Jünglinge führen, die nächtlicherweile Mädchenbesuch empfangen. Wenn du so fortfahren willst, lieber Wan-Hu-Tschen, so werde ich deinen Verwandten noch glauben müssen, daß du tatsächlich dumm bist, - Da schämte sich Wan-Hu-Tschen sehr, er ergriff Li-Fans durchsichtige Finger und zog sie in seinen Schoß. Selig umarmten sie einander, selig legten sie sich nieder und selig liebten sie einander bis es tagte. Als der Morgen schmale, weiße Latten in die Ritzen der zitternden Vorhangmatte einzsetzen begann, verabschiedete sich Li-Fan und kehrte ins Buch zurück.

Anderntags saß Wan-Hu-Tschen mit dem gütigen Lächeln reicher Leute vor den Reishäuten und schrieb Geschenke für Li-Fan. Teure, gestickte Seidenstoffe schrieb er ihr, und künstliche Geschmeide, unter deren dicken Steinen betäubende Düfte verborgen sind. Abends rief er Li-Fan wieder zu sich und von da an jeden Abend. Bei Tag aber überhäufte er seine Geliebte mit Geschenken. Er schrieb einen herrlichen See in das tal der weißen Apfelblüten und an das Ufer ein Schloß aus schimmernder Jade. Darun wurde Li-Fan durch Ebenholzflöten geweckt und in Schlummer gespielt, und goldene Barken trugen sie über den See dem Vollmond entgegen. Und schmachtende Liebeslieder schrieb er für sie, mit denen er ihre Sehnsucht mach ihm erweckte, und sengende Liebesglut schrieb er in ihre Adern, so daß sie abends zitternd vor Begierde zu ihm kam. Li-Fan warf sich mit leidenschaftlichem Danke allnächtlich in seine Arme, doch manchmal warnte sie ihn auch voll Güte - Schüre nicht ununterbrochen das Feuer meines Blutes, denn es schadet dir, teurer Wan-Hu-Tschen, und es wird deine Jugend verbrennen.

Aber Wan-Hu-Tschen kümmerte sich nicht darum. Waren sie des Küssens müde, so saßen sie nebeneinander auf dem Bambusbett und der Mond vermischte auf dem Boden die Schatten ihrer Füße. Sie sprachen vom Tal der weißen Apfelblüten, wo alles so schön und friedlich war, wo kein Sturm wütete, noch der Herbst, noch das Alter, weil dort der Tod keiene Herrschaft hat. Im Tal der weißen Apfelblüten wird die Windstille unbewegter Jugend von den Mauern der ewigen Buchstaben behütet.

So verging die Zeit und nach einem Jahre ward ihnen ein Sohn geboren. Als Li-Fan auf dem roten Weine daherschwimmend ihn zum ersten Male mit sich brachte, bemerkte Wan-Hu-Tschen, daß der kleine schwarze Blätterkahn tiefer ging und er dachte gleich, daß er eine schwerere Last tragen müsse als vordem.

- O, Wan-H-Tschen -sprach Li-Fan beim Aussteigen - für deine vielen herrlichen Geschenke kann endlich auch ich dir etwas bringen. Siehe, unser Sohn. Doch sieh dir gut an, wen uns das rätselvolle Schicksal da wiedergegeben hat.

- Das ist ja Prinz Wang - rief Wan-Hu-Tschen aus. - Jetzt darf ich vollkommen glücklich sein. Denn der Frieden meiner Seele hat mir dein Schoß wiedergegeben.

Haare und Augen des Kindes waren so schwarz wie Tusche und seine Haut so weiß wie glänzendes Reisppapier. Es blieb bei seinem Vater. Die Mutter aber kam jede Nacht und so vergingen die Jahre in friedlichem Glück. Bald erinnerte sich auch Prinz Wang an sein früheres Leben, doch er verzieh an-Hu-Tschen. Er war ein außergewöhnlich kluger Knabe. Im Alter von zehn Jahren kannte er alle Bücher seines Vaters auswendig und Wan-Hu-Tschen fand sich mit kummervollem Neide darein, daß er die Staatsprüfungen ablegen und es weiter bringen würde als er.

Um diese Zeit war übrgens Wan-Hu-Tschen auch sonst recht kummervoll, denn er bemerkte, daß er alterte. Sein Haar begann grau, sien Antlitz runzlig zu werden. Li-Fan machte ihm Vorwürfe und meinte: - Siehst du wohl, ich sagte dir, du sollest meine Liebesglut nicht ewig schüren. Deine schöne Jugend ist darin verbrannt.

- Nicht das hat mir geschadet. liebe Li-Fan - und Wan-Hu-Tschen schüttelte den Kopf - aber wir Menschen altern.

Es waren auch nicht die grauen Haare und die Runzeln, die ihm am meisten weh taten, sondern daß Li-Fan immer gleich jungblieb und daß es ihm war, als entferne er sich von ihr: eine unaufhaltsame dunkle Barke trug ihn langsam vom Ufer hinweg. Aber im Buche war nichts verändert. Kein Tag war seither vergangen und Li-Fan war jung wie in der ersten Nacht.

Noch eine Sorge hatte Wan-Hu-Tschen. Sein Geld war in diesen Jahren ganz zur Neige gegangen. Die Wände seines Häuschens hatten Risse, die Fenster Löcher bekommen, das Wasser strömte herein und der Wind blies hindurch. Und der alternde Wan-Hu-Tschen kauerte mit hochgezogenen Knien auf seinem Bambuslager und schämgte sich dessen vor Li-Fan, die in gestickte Seide gekleidet, mit kunstvollem Geschmeide bedeckt wie ein kaiserrliches Prunkroß, allnächtlich zu ihm kam. Denn im Buche hate sich nichts verändert, Li-Fans Jadeschloß brauchte man nicht auszubessern.

All dies tat Wan-Hu-Tschen tief im Herzen weh. Doch eines Tages entdeckte er, daß er seinem Sohn, dem Prinzen Wang, nicht einmal zu essen mehr geben konnte. Das ertrug er nicht. Er nahm den zwölfjährigen schönen Knaben bei der Hand und ging mit ihm zur Stadt. um ihn dort irgendeinem reichen Verwandten anzuvertrauen. Doch vergebblich pochte er an die schöngeschnitzten Türen. Seine Verwandten jagten ihn fort und spotteten lachend seiner schmutzigen, zerlumpten Kleider. Wan-Hu-Tschen trollte sich mit seinem Sohne blutenden Herzens heim. Da kamen sie am Hause des Statthalters vorbei. Eine vornehme alte Frau in Trauergewändnern stieg eben aus ihrer Sänfte.

- Wem gehört dieser wunderschöne Knabe? - fragte sie Wan-Hu-Tschen.

- Mir. In seinem früheren Leben habe ich ihn getötet und jetzt er mich, denn ich kann ihm nichts zu essen geben.

- So gib ihn mir - versetzte die Frau. - In meinem Hause soll er eine gute Erziehung genießen.

Wan-Hu-Tschen verabschiedete sich weinend von seinem Sohn, dem Prinzen Wang, dann trottete er langsam heim. Es fiel ein kalter Regen und er fror und wurde schmutzig vom Straßenkot. Als er sein Haus erreichte, wandte er sich auf der Schwelle um und blickte hinaus in die Welt. - Hier geht alles zugrunde und verdirbt. Soll ich auch hier verderben, gleich meinem Hause? - Dann setzte er sich vor seine weißen Rreushäute und rief Li-Fan.

- Warum weinst du? - fragte die lilienwangige, strahlende Frau und streichelte seine ergrauenden Haare.

Wan-Hu-Tschen klagte ihr all sein Leid. Li-Fen hörte zu, dann sah sie ihm mit stillem Blick in die Augen.

- Willst du nicht mit mir ins Tal der weißen Apfelblüten kommen? - fragte sie. - Dich erwartet mein schimmerndes Jadeschloß am Ufer des Sees. Der Klang der Ebenholzflöten ist noch nicht verhallt, der Mond ist noch nicht in dem See getaucht und kein Blatt ist seither von dene Apfelbäumen gefallen. Keine Stürme wüten dort, noch der Herbst, noch das Alter, denn dort hat der Tod keine Macht. Dort wird die Windstille regloser Jugend von den unübersteigbaren Mauern ewiger Buchstaben bewacht.

- O, wie könnte ich aber da hingelangen, Li-Fan?

- Schreibe dich hin, wie du mich hingeschrieben hast und den Prinzen Wang.

Und so geschah es.

Am nächsten Tage sucht der kleine Prinz Wang seinen Vater, denn er wollte ihm eine wudnersame Nachricht bringen. Im Hause des Statthalters hatte er erfahren, daß Li-Fan, des Staathalters Tochter, vor dreizehn Jahren, gerade als Wan-Hu-Tschen sein Buch zu schreiben begonnen hatte, gestorben war. Später erschien sie ihrer Mutter im Traum. Damals war sie schon schwanger. "Weint nicht um mich" - sprach sie zu ihrer Mutter, "denn ich lebe glücklich im Tale der weißen Apfelblüten."

Das wollte der kleine Prinz Wang seinem Vater erzählen, doch er fand ihn nirgends im ganzen Haus. Er gewahrte jedoch, daß ein neues Kapitel im Buche geschrieben war, das hieß: Die Ankunft Wan-Hu-Tschens im Tal der weißen Apfelblüten.

Der kleine Prinz Wang nahm das Buch seines Vaters mit und hielt es immer in großen Ehren.

Mit der Zeit wurde aus ihm ein mächtiger Mandarin.

* * *



Im zweiten der beiden kurzen Texte aus Ernst Blochs "Spuren," die ich vor einigen Tagen an dieser Stelle im Rahmen dieser kleinen Reihe zum Motiv des in seinem eigenen Werk verschwindenden Künstlers gebracht habe, referiert der Verfasser recht ausführlich den Plot von Béla Balázs literarisches Chnoiserie "Das Buch des Wan-Hu-Tschen." Daß Gestalten in einer Erählung, einem literarischen Kunstwerk ein Eigenleben entwickeln, ein Bewußtsein dafür, Teil einer künstlichen Schöpfung zu sein, vor allem: den Launen ihres Schöpfers hilflos ausgeliefert zu sein, ist - ähnlich dem Motiv des Entkommens durch den Eintritt in die gemalte Szenerie, ein angelegentlich verwendeter Topos: am bekanntesten dürfte auf diesem Gebiet Flann O'Briens erster Roman "At Swim-Two-Birds" von 1939 sein (von Harry Rowohlt kongenial als "Zwei Vögel beim Schwimmen" übersetzt). Am schlagendsten wirkt dies natürlich, wenn es als Bühnenstück gestaltet wird, da die Schauspieler auf der Bühne sich in genau dieser Situaton finden; hier sei auf Luigi Pirandellos "Sechs Personen suchen einen Autor" verwiesen. Es handelt sich somit um ein verwandtes Motiv: das Ineinanderübergehen von Werk und Wirklichkeit ist beiden gemein. Aber sie unterscheiden sich grundlegend: das Werk, das dem Künstler (oder einem späteren Betrachter) die Flucht ermöglicht, ist ein Ausweg; das Bild, oder das Buch, in das er vom Künstler gebannt wird, ein Gefängnis. Balázs verschänkt beides: am Ende wird das Tal der weißen Apfelblüten zum Refugium für Wan, aber man ahnt, daß die ewige Stasis, die Zeitlosigkeit auch ein Erstarren, ein Einfrieren darstellt.

Béla Balázs, 1884 in Szeged im damaligen k.u.k. Österreich-Ungarn geboren und 1949 in Budapest gestorben, hieß mit bürgerlichem Namen Herbert Bauer, als linker, patriotischer Revolutionär legte er sich seinen "genuin ungarischen" Nomme de Guerre (und Nomme de Plume) zu, unter dem er den Rest seines Lebens verbrachte. Das Engagement in der gescheiterten Räterepublik Béla Kuns brachte ihm 1919 25 Jahre des Exilantendaseins ein - zunächst in Wien, dann ab 1926 in Berlin und von 1933 bis 1945 in Moskau. AlsJude und bekennender Kommunist teilte er so, was die Lebensstationen angeht, in vielem das Schicksal seines Landsmann Georg (oder György) Lukacz, der wie Balázs auch Mitte der 1920er Jahre begann, die Umrisse einer Theorie des Films zu entwickeln (sein erstes Buch zum Thema, "Der sichtbare Mensch" von 1924, verdankt der marxistischen Theorie freilich ebensoviel wie der genuin romantischen Sehnsucht, mit Hilfe der Bewegtbilder, die unmittelbar auf den Zuschauer wirken, die "Entfremdung des Menschen" überwinden zu können.)

Balázs' Ausflug auf das Gebiet der "literarischen Chinoiserie" ist mit den 16 kurzen Texten verbunden, die 1922 im Münchner Verlag Bischoff unter dem Titel "Der Mantel der Träume" erschienen sind; mit dem Untertitiel "Chinesische Novellen." Entstanden sind sie nach "orientalischen" Farbgouachen der Künstlerin Mariette Lydis. Lydis, 1887 in Baden Baden geboren und 1970 in Buenos Aires gestorben, hatte sie nicht nach genuinen chinesischen Vorlagen geschaffen; ein "vage exotisches" Ambiente reicht ihr. In gewisser Weise handelt es sich hier um einen Rückgriff auf die Gebrauchskunst des 18. Jahrhunderts, als "Chinoiserien" für die neu aufgekommene Porzellanbemalung und die Tapisserien sich ebenfalls nur "fremdartig anmutender" Szenerien und Kostümierungen bedienten, die ebensogut in Südamerika, Indien oder "Abessinien" angesiedelt sein könnten. Wer sich die Allegorien der "Vier Kontinente" ansieht, die die vier Ecken des Deckenfreskos ausfüllen, das Giovanni Battista Tiepolo 1752 für das Treppenhaus der Würzburger Residenz geschaffen hat, bekommt einen lebhaften Eindruck dieses ästhetischen Verfahrens.

Balázs hatte den Auftrag der Künstlerin auf den Wunsch des Verlegers bekommen, der die 16 merkwürdigen Motive nicht als reine Bildermappe veröffentlichen wollte und sich von kleinen Texten dazu einen größeren Absatz erhoffte. Balázs blieben für die Abfassung ganze zwei Wochen Zeit; er schrieb später, genau diiese Herausforderung hätte ihn zur Annahme des Auftrags gereizt. Die Wahl war auf ihn gefallen, weil dies nicht seine erste Beschäftigung mit dem Motivkomplex war. Unter den "Sieben Märchen," die ein Jahr vorher im Wiener Verlag Rikola herausgekommen waren, findet sich unser Text über das Buch des Wan-Hu-Tschen.

Es könnte so scheinen, als sei die Wahl von "China" (ein vages, konturloses Gefilde, das außer Mandarinen und Reispapier nichts "genuin chinesisches" aufweist), rein zufällig sei, und die Geschichte ebensogut in Indien (oder "Abessinien", wenn man darunter des Reich des legendären Priesterkönigs Johannes versteht) spielen könnte. Aber Balázs hat hier, auch wenn es dem, der das Vorbild nicht kennt, verborgen bleibt, auf eine ganze Reihe von Elementen zurückgegriffen, die in einer genuin chinesischen Geschichte entlehnt sind: nämlich einen Text aus Pu Songlings Liaozhai Zhiyi - das ja auch, mutatis mutandis, Paul Ernst die -dann erheblich "europäisierte" Vorlage für "Das alte Bild" geliefert hat. In diesem Fall handelt es sich um die Erzählung 书痴 (shū chī, "Der Büchernarr"). Gefunden hat sie Balázs in der ebenfalls bereits erwähnten Auswahl von Martin Buber von 1911, wo sie sich unter dem Titel "Der närrische Student" findet.

Der Weltgeist hat bekanntlich mitunter einen beißenden Sinn für Ironie. Auch im Fall von Balázs tritt dieser Zug zutage. Balázs' Beschäftigung mit dem Medium Film blieb nicht, wie im Fall Lukazs', aufs Theoretische beschränkt. Er schrieb auch die Drehbücher für ein gutes halbes Dutzend Film, zuletzt für Géza von Radványis "Irgendwo in Europa", 1947 als einer der ersten Nachkriegsfilm im jetzt kommunistischen Ungarn entstanden. Die Volte liegt darin, daß Balázs in ein- und demselben Jahr, 1931, als er einer der drei Drehbuchautoren für die von G. W. Pabst inszenierte Filmfassung der "Dreigroschenoper" von Bertolt Brecht und Kurt Weill war, auch das Drehbuch für "Das blaue Licht" ablieferte, das Regiedebut von Leni Riefenstahl. (Sowohl Brecht wie Weil haben gegen die Filmumsetzung ihres Theaterstücks durch das Studio Warner Bros., in dessen Berliner Dependance der Film entstanden ist, übrigens geklagt, weil das Studio ihnen zu sehr von der Parteilinie abgewichen war.)



(Mariette Lydis, Ill. aus "Der Mantel der Träume")

U.E.

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